Dass die Reformation ein wichtiges geschichtliches Ereignis darstellt, ist weitgehend unbestritten. Schwieriger ist es indes mit der Frage nach ihrer geistes- und kulturgeschichtlichen Bedeutung. Überlegungen von Christian Danz, warum es darauf vielfältige Antworten gibt.
Die Bücherflut zu Martin Luther und seiner Reformation, die bereits im Vorfeld des anstehenden Jubiläums einsetzte, die zahllosen erschienenen Abhandlungen und Studien von mehr oder weniger informierten Autorinnen und Autoren machen unübersehbar, dass es auf die Frage nach der heutigen Bedeutung der Reformation mehr als eine Antwort gibt. Nicht nur Protestanten deuten die Reformation anders als Katholiken, auch innerhalb der beiden großen Konfessionen gibt es höchst unterschiedliche Voten, wenn es darum geht, was sie mit dem Wittenberger Theologen verbinden. Auch Nichtgläubige und Andersgläubige äußern sich mit gutem Recht zu dem Thema. Ein Konsens darüber, was die Reformation bedeutet, ist nicht in Sicht. Das kann auch gar nicht anders sein, da die Haltung, die man gegenüber Luther und seinem Werk einnimmt, seine Beurteilung immer mitbestimmt.
Reformation als Revoultion?
Über die Bedeutung der Reformation wird nicht erst in unserer Gegenwart gestritten. Schon in der Aufklärung gab es sehr unterschiedliche Stellungnahmen hierzu. Für viele, vor allem liberale protestantische Intellektuelle, war Luther ein nationaler Freiheitsheld. Er, so sahen sie es, erneuerte die Religion, befreite diese von der Herrschaft des römischen Papstes. Die eigene Gegenwart um 1800 wurde in eine Kontinuitätslinie mit dem Wittenberger Freiheitshelden gerückt. Das Werk, das er begonnen und das bislang noch unvollendet geblieben war, vollende sich nun. Der Topos von der unvollendeten Reformation wurde zunächst von liberalen protestantischen Intellektuellen gebraucht und mit der nationalen Einheit Deutschlands und liberalen Staatskonzeptionen verbunden. Aber auch Katholiken stellten die modernen Ideen von Freiheit und Rechtsgleichheit in eine Linie mit dem Reformator. Sie setzten jedoch andere Akzente. Das, was in Wittenberg begann, offenbare in der Französischen Revolution nur sein wahres Gesicht: Subjektivismus, Liberalismus, Terror der Jakobiner und Auflösung der gottgegebenen Ordnung sowie der Religion. Allerdings lassen sich solche Deutungen nicht auf die Konfessionen verteilen, sie gehen quer durch diese hindurch. Auch konservative Lutheraner wie der Staatstheoretiker Friedrich Julius Stahl grenzten die Reformation von der Revolution ab. Jene habe die wahre, in Gott begründete Freiheit hervorgebracht. Eine solche Freiheit kann auch der Staat nicht entbehren, da diese die sich fragmentierende Gesellschaft integriere und die Moral der Staatsbürger stärke.
Natürlich ist die moderne Welt mit ihren individuellen Freiheitsrechten nicht einfach das Ergebnis der Reformation. Die Moderne ist, wie es der protestantische Theologe Ernst Troeltsch genannt hat, eher ein Resultat der Reformation wider Willen. Die Konfessionalisierung, also die Entstehung der lutherischen, calvinistischen und römischen Kirchen im 16. Jahrhundert, führte zunächst dazu, dass das Ideal einer religiösen Einheitskultur im Kleinen und hier viel erfolgreicher verwirklicht wurde. Andersgläubige wurden, wenn nicht umgebracht, vertrieben. Von religiöser Freiheit kann im konfessionellen Zeitalter also keine Rede sein. Deren Durchsetzung verdankt sich den Stiefkindern der Reformation, den spiritualistischen Gruppen, den Täufern und andern, die von den Kirchen in die Neue Welt vertrieben wurden und auf Europa zurückwirkten. Mit dem Nachlassen der Prägekraft der konfessionellen Gegensätze im Zeitalter der Aufklärung und der Herausbildung von modernen Staatsverständnissen setzten sich deren Auffassungen durch und bewirkten im Bereich des Protestantismus vor dem Hintergrund der veränderten soziokulturellen Lage dessen grundlegende Umformung. Welche Bedeutung kommt vor dem skizzierten geschichtlichen Hintergrund der Reformation zu, deren 500-jähriges Jubiläum in diesem Jahr begangen wird? Oder hat sie nur noch historischen Erinnerungswert?
Pluralisierung, Freiheitsgewinn und Individualismus
Es sind mindestens drei Aspekte, an denen die Bedeutung der Reformation sichtbar wird. Die Reformation führte zunächst zur Herausbildung von Konfessionskirchen in Europa und damit zu einer Pluralisierung des abendländischen Christentums. Das Christliche, wenn man es so nennen kann, gab es von nun an nur noch in Form von heterogenen konfessionellen Deutungen, die sich nicht mehr unter einem Begriff zusammenführen lassen. Das bedeutet aber, dass es so etwas wie das Christentum sowenig gibt wie den Islam. Selbst der Protestantismus existiert nur in Form von sehr unterschiedlichen Ausprägungen, die – zumindest an den Rändern – nur sehr wenig miteinander zu tun haben.
Sodann ist die durch die Reformation hervorgebrachte Pluralisierung der christlichen Religion grundsätzlich zu begrüßen und nicht als sündhafte Spaltung der einen Kirche zu beklagen. Denn Pluralisierung, so sehr sie das Leben erschwert, ist ein Freiheitsgewinn. Eine Einheit der Kirche, die durch die Reformation verloren gegangen sein soll, gab es geschichtlich nie, jene ist also nicht mehr als eine Wunschphantasie von kirchenvernarrten Dogmatikern. Auch im Zuge des anstehenden Reformationsjubiläums ist viel ökumenische Einheitsrhetorik zu vernehmen. Es wird oft und gern eine Einheit der Kirche beschworen, die es als solche nie gegeben hat und auch nicht geben wird. Schon vor Jahren hat man ca. 33000 unterschiedliche Christentümer gezählt. Die Vorstellung von einer Einheit der Kirche, wie sie von Ökumenikern gern in den Mund genommen wird, wirkt angesichts des empirischen Befundes geradezu lächerlich.
Und schließlich wurde durch die Reformation der religiöse Individualismus grundsätzlich ins Recht gesetzt. Bei Luther ist dieser zwar durch seinen Rekurs auf die Bibel als objektive Wahrheitsinstanz gleichsam eingehegt, sodass die Idee der religiösen Autonomie sich erst in der Aufklärung herausbilden konnte und auch erst im 20. Jahrhundert grundrechtlich festgeschrieben wurde. In einer modernen Gesellschaft gibt es jedoch zur religiösen Autonomie keine Alternative mehr. Zumindest in einem demokratischen Staat kann eine solche keine Religion rückgängig machen. Freiheit bedeutet die Wahl der eigenen religiösen Überzeugung, die damit nur noch im Plural auftritt. Das führt zu Spannungen und Deutungskonflikten, da man die Dinge eben sehr unterschiedlich und immer auch anders sehen kann. Allein die Vielfalt der religiösen Überzeugungen ist für eine moderne Gesellschaft nicht nur konstitutiv, sie ist auch der Ausdruck einer freiheitlichen Gesellschaft.
Auch wenn Luther nicht mehr als nationaler Freiheitsheld gefeiert wird, so stellt doch die religiöse Freiheit des Einzelnen, so sehr diese auch den Kirchen der Reformation erst abgerungen werden musste, den grundlegenden Aspekt des Reformationsgedenkens dar.
RaT-Blog Nr. 2/2017