Es ist nicht besonders geschmackvoll, wenn man Verstorbene zu aktuellen Debatten befragt: Das passierte allerdings bereits einigen Philosophen, die post mortem Fragen zu tagespolitischen Themen beantworten mussten oder einem Karl Rahner, der fast 30 Jahren nach seinem Tod zu den Angelegenheiten des synodalen Weges twittert. Anderseits ist es selbstverständlich, dass das bereits Gedachte in die aktuellen Streitfragen hineinfließen muss. Piotr Kubasiak stellt einen streitbaren Europäer vor.
Sieht man die gegenwärtigen Debatten um Covid-19 und die Bereitschaft zum Impfen, um den EU-Haushalt oder die gewaltigen Transformationsprozesse auf der ethischen, gesellschaftlichen und politischen Ebene (aktuell beispielsweise bei der Frage der Verschärfung des Abtreibungsgesetzes in Polen oder der Aufarbeitung der Missbrauchsskandale in der Katholischen Kirche), ist man versucht, den 2013 verstorbenen polnisch-österreichischen Philosophen Krzysztof Michalski dazu zu befragen. Ein solches Gedankenspiel wäre unanständig, trotzdem möchte man schreien: „Michalski wäre dagegen“. Als Erlaubnis es dennoch zu tun, könnte man ein Interview sehen, das er 2010 der polnischen Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“ gab und „Der Papst wäre dagegen“ betitelte, zu einem Zeitpunkt also, als der Papst schon fünf Jahre tot war.
Wer war Krzysztof Michalski?
Krzysztof Michalski (*1948 in Warschau; † 2013 in Wien) war ein Wissenschaftler und ein Wissenschaftsmanager: als Wissenschaftler Philosophieprofessor an den Universitäten Warschau und Boston; Kenner der Philosophie von Heidegger, Husserl und Patočka; ein eigenständiger Denker, der nach einem Dialog zwischen Paulus und Nietzsche suchte. Als Wissenschaftsmanager der Gründungsrektor des IWM (Institut für die Wissenschaften vom Menschen, Wien); der Organisator der Castelgandolfo-Gespräche in der Sommerresidenz der Päpste; Gründer, Mitgründer, Beirat und Organisator unzähliger Institutionen, Konferenzen und Gesprächsrunden. Biographisch-philosophisch hat er sich immer gewehrt, in eine Schublade gesteckt zu werden, weil die Zugehörigkeit zu einer Schule oder einer Richtung schließlich keine Bedeutung habe: Es gehe um die Kraft der Argumente und darum, ob das Gesagte vom Leben getragen werden könne. Zuordnen kann man ihn sowieso nicht: Ein Mann, der in derselben Woche den Papst besuchte, mit George Soros Kaffee trank, über Nietzsche lehrte und Gelder für sein Institut einwarb, ist entweder ein Opportunist oder ein Genie: Auf die Frage von Dieter Simon, ob das von Michalski gegründete Institut von der CIA, dem KGB oder dem Vatikan finanziert sei, erhielt er die Antwort, dass es wahrscheinlich alle drei gleichzeitig seien.
Wofür stand Krzysztof Michalski?
All diese Aspekte machten ihn nicht zu einem Stubengelehrten, sondern sehr schnell zu einem „public intellectual“. Während er 1982 mit seinem Institut in Wien als eine bescheidene Plattform des Austausches zwischen Ost und West begann, war er 1989 bereits zum Anwalt des Ostens Europas im Westen geworden, und Vermittler des Westens im östlichen Teil Europas. Dem Westen wollte er zeigen, wie der Titel eines seiner Vorträge lautete, dass Osteuropa „ein Problem, eine Not, eine Wunde“ sei. Im Osten wollte er Vielen Ängste nehmen, vor einer falschen Säkularisierung warnen, zum Umdenken bewegen und Denkanstöße geben, damit man die eigenen Erfahrungen verstehen und verarbeiten kann.
Als Aufgabe der Philosophie sah Michalski die Kunst des Fragens und des Hinterfragens. Das dabei Gefundene müsse in ein konkretes Leben integriert werden. Damit werde es zu einem Teil der Identität: Diese sei aber nie abgeschlossen, sondern befinde sich im ständigen Werden – für Michalski keine Entdeckung der Postmoderne, sondern eine zutiefst biblische Botschaft, die sich zwischen Verzweiflung und Hoffnung befindet. Dem Unfertigen und Werdenden müsse man sich stellen und ihnen nicht durch Verdrängung oder „Schlafmittel“ (Systeme, Traditionen oder Wissenschaft) zu entgehen versuchen. Und schließlich müsse man für das Leben, das größer als alles Gedachte sei, Verantwortung übernehmen, denn für Michalski gibt es keine „eisernen Gesetze der Geschichte“, sondern lediglich unser Tun und unser Unterlassen.
Das Unabgeschlossene sah Michalski auch im Christentum: Für ihn ist Gott keine Sicherheit, keine Ergänzung zu unserer Vernunft, keine Legitimierungsinstanz für unsere Werte und Ansichten. Vielmehr sei Religion eine Hoffnung, doch sie dürfe nicht zu einem billigen Trost werden. Gott könne man – so ein weiterer Gedanke Michalskis – im Nächsten begegnen. Die Nächstenliebe – eine urchristliche Forderung – sollte bedingungslos sein: Eine nahezu unmögliche Aufgabe. Deshalb könne man kein Christ sein, man könne sich nur auf dem Weg der Christwerdung befinden.
Nach Michalski kann es aber nicht nur um mich, mein Leben, meinen Gott und meinen Nächsten gehen. Es geht zugleich auch um uns als Gemeinschaft. Deshalb tat Michalski alles, um die Zivilgesellschaft zu stärken und einen europäischen Zusammenschluss zu fördern, der aber nie bloß eine politische, sondern immer auch eine kulturelle und geistige Größe sein sollte. Um das zu leben und zu erreichen, braucht es, davon war Michalski überzeugt, einen europäischen Patriotismus, der von Solidarität und einer Ausrichtung auf eine Zukunft geprägt ist: Dies seien wiederum die beiden Werte, die uns zusammenhalten.
Schließlich war Michalski auch ein Vermittler zwischen den Religionen und Europa. Religion als Privatsache zu betrachten – so mahnte Michalski auf der einen Seite die Europäer –, führe zu Ausgrenzung und neuen Konflikten. Auf der anderen Seite mahnte er die Religionen: Diese seien durch das Europa-Projekt vor neue Herausforderungen gestellt. Es reiche nämlich nicht mehr, Werte zu predigen – mit Werten lasse sich weder argumentieren noch Politik machen. Die Religionsgemeinschaften müssten sich in ein Ringen der Vernunft einschalten und als Teil der Zivilgesellschaft aktivieren.
Wogegen wäre Michalski?
Wenn man all diese Aspekte im Hinterkopf behält, ergibt es sich von selbst, wogegen er war und wäre. Um zu den anfangs beschriebenen Phänomenen zurückzukommen: Das Virus – Michalski würde wohl sagen – dieses verdammte Virus zeigt, wie jede Krise, eine Wahrheit über uns und über die Grundlagen unserer Gesellschaft auf: Zusammenhalt, Solidarität, und Sorge um und füreinander wären wohl seine Forderung. Bei Corona-Leugnern würde er kein Verständnis zeigen, ihnen wohl aber Respekt entgegenbringen: Respekt für die Menschen, die hinter den skandierten Parolen stehen. Auf die Frage des EU-Haushaltsbudgets, das von Ungarn und Polen blockiert zu werden droht, würde er wohl wie 2000 im Fall Jörg Haiders und der FPÖ reagieren: Damals vertrat er den Standpunkt, dass die meisten Elemente dieser Weltanschauung abgelehnt werden müssen – Haider aber zu verteufeln, würde nur seine Anhänger stärken. Man dürfe und müsse dagegen protestieren, gleichzeitig müsse man aber nach den Quellen der Popularität dieser Politiker suchen und nicht einfach moralische Urteile abgeben. Und schließlich müsse man – eine der Lebensaufgaben Michalskis – die Zivilgesellschaft stärken: Die einzige Kraft, die sich diesen Tendenzen entgegenstellen und viele der Lügen entkräften kann. Im Fall der Verschärfung des Abtreibungsgesetzes in Polen würde er diese ablehnen, wohl aber auch diejenigen, die als Reaktion auf die Verschärfung Gottesdienste stören und Kirchen mit Steinen bewerfen. Dies heißt allerdings nicht, dass er die Kirchen prinzipiell ‚schonen‘ würde: Im Fall McCarrick und den Vorwürfen der Missbrauchs-Vertuschung gegen den ehemaligen Sekretär von Johannes Paul II. würde er wohl grenzenlose Aufklärung und Konsequenzen einfordern.
Vielleicht würde er auch etwas ganz anderes sagen. Sicher ist aber: Es braucht viel mehr von denen, die wie Thomas Schmid über Michalski schrieb, „Europäer des ganzen Kontinents sind“ und Denkerinnen und Denker, die das vorleben, was Leszek Kołakowski, ein Lehrer Michalskis, postulierte – „Güte ohne Nachsicht, Mut ohne Fanatismus, Intelligenz ohne Verzweiflung und Hoffnung ohne Verblendung. Alle anderen Früchte des philosophischen Denkens sind unwichtig“.
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Rat-Blog Nr. 3/2021