Im Dezember vergangenen Jahres erlangten die österreichischen Sikhs den rechtlichen Status einer eingetragenen Religionsgemeinschaft. Dieser Status markiert die höchste Stufe rechtlicher Anerkennung einer Religion in Österreich und stellt einen wichtigen Meilenstein für die Gemeinschaft der Sikh in Österreich dar – wie es dazu kam und was das bedeutet, schildert Areshpreet Wedech.
Das Jahr 2021 beginnt für die österreichischen Sikhs sehr ungewohnt: Das relativ unbekannte „Austria“, welches oftmals mit Australien verwechselt wird und im Schatten der älteren und größeren deutschen und großbritannischen Sikh-Diaspora steht, ist das Ziel diverser Glückwunschbekundungen und der Ausgangspunkt der Neugier und Verwunderung der weltweiten Sikh-Gemeinschaft. Nicht nur hochrangige Persönlichkeiten der Sikh-Religion und Gesellschaft haben ihre Freude bekundet, sondern auch führende Persönlichkeiten aus den Diaspora-Gemeinschaften haben nachgefragt und um Hilfe gebeten, damit sie in ihren Ländern ebenfalls der Sikh-Gemeinschaft einen rechtlich abgesicherten Status verleihen können. Wie haben es die Sikhs in diesem kleinen Land geschafft, eine Rechtspersönlichkeit zu erlangen, während älteren Sikh-Diasporagemeinschaften anderer Länder dies nicht gelungen ist, ganz zu schweigen von Indien, wo den Sikhs die allgegenwärtige Einverleibung seitens des Hinduismus wie ein Damoklesschwert vor Augen schwebt (schließlich sind die Hindu-Nationalisten der Ansicht, dass alle religiösen Traditionen und Religionen, die auf dem indischen Subkontinent entstanden sind, ohnedies dem Hinduismus angehören und demnach Indien eine reine Hindu-Nation ist bzw. werden soll)?
Am 23. Dezember 2020 wurden die Sikhs als staatlich eingetragene religiöse Bekenntnisgemeinschaft in Österreich anerkannt. Ein großer Schritt für die fünftgrößte Religion weltweit, die insgesamt 25-27 Millionen Anhängerinnen und Anhänger aufweist. Der Großteil davon lebt im indischen Bundesstaat Panjab, das im Nordwesten Indiens liegt und an Pakistan grenzt. Mit ca. 17 Millionen Sikhs stellt der Sikhismus in Indien nach dem Hinduismus, Islam und Christentum die viertgrößte Religion dar. 1,7% der indischen Bevölkerung sind Sikhs, während ihr Prozentsatz in der indischen Diaspora wesentlich höher ist. Die Sikhs gelten mit ca. 850 000 Anhängerinnen und Anhängern nicht nur als eine der größten und ältesten Diasporagemeinschaften in Großbritannien (und als drittgrößte immigrant-community) (vgl. Jacobsen/Myrvold 2011, S. 1-2), sondern auch in Nordamerika. Die Sikh-Bevölkerung in Kanada entspricht mit ca. 450 000 Anhänger*innen 1,4% der kanadischen Gesamtpopulation und ist damit die größte Sikh-Diaspora-Gemeinschaft. Weitere zahlenmäßig bedeutsame Gemeinschaften sind in den USA (ca. 250 000), Australien (ca. 125 000), Malaysien (ca. 100 000) sowie in den afrikanischen Ländern mit ca. 50 000- 100 000 Personen zu finden.[1] Während in Malaysien und in den afrikanischen Ländern die Sikh-Population auf die Einwanderung während der Kolonialzeit zurückzuführen ist, sind heutzutage beliebte Destinationen Kanada, USA, UK aber auch Australien.
Wenn auch die Zahlen der Sikhs in Zentraleuropa steigen, so ist die Situation nicht mit derer in den Commonwealth-Ländern zu vergleichen, in denen die Sikhs in der Öffentlichkeit sichtbarer sind und auch hohe (politische) Ämter besetzen. Ca. 70 000 leben in Italien, die finanzielle Grundlage der meisten ist die Parmesan-Herstellung.[2] In Deutschland leben ca. 20 000 Sikhs und in der Schweiz etwas über 500. Bei der letzten konventionellen Volkszählung 2001 in Österreich gaben ca. 3000 Personen an, Sikh zu sein. Schätzungen aus dem Jahr 2017 gehen von ca. 8000-10000 Sikhs aus, während die Bekenntnisgemeinschaft mitteilt, österreichweit ca. 20000 Mitgliederinnen und Mitglieder zu haben. Die Hälfte der österreichischen Sikhs lebt in Wien, während die anderen auf die Ballungszentren Linz, Salzburg, Klagenfurt und Graz verteilt sind.[3] Diese Verteilung zeigt sich auch an den Gurdwaras (Gebetsstätte der Sikhs, „Tor zum Guru“): Von den insgesamt sieben Gurdwaras finden sich drei in Wien, jeweils einen Gurdwara gibt es in Salzburg, Linz, Graz und Klagenfurt.
Der Sikhismus (sikhi, sikh panth) wurde im 15. Jahrhundert in der gegenseitigen Beeinflussung hinduistischer Traditionen wie der Bhakti-Bewegung aber auch dem Islam, vor allem dem Sufismus, von Guru Nanak im damaligen Panjab (Nordindien) begründet. Er wendet sich gegen das damalige religiöse Establishment und bietet den Menschen einen weiteren Weg (panth) an. Sikh bedeutet Schüler/in während Guru die lehrende Person ist. Von zentraler Bedeutung ist die neue Form der Religiosität: nicht etwa die korrekte Ausführung von Ritualen oder die Beachtung von Dogmen sondern die persönliche Verbindung und Hingabe an einen Gott steht im Zentrum. In Guru Nanaks Denken gibt es keine Differenzen zwischen den Menschen, denn alle Menschen, egal etwa ob Hindus und Muslime, sind die Geschöpfe des einen Wahegurus („der wahre Guru“) oder Akal Purakhs („das ewige Wesen), wie Gott neben vielen anderen Begriffen aus der südasiatischen, aber auch arabisch-persischen Welt bezeichnet wird.
Der Sikhismus ist von einem starken Egalitarismus geprägt, weswegen das Kastenwesen abgelehnt und die Frauen den Männern gleichgestellt sind, denn unabhängig von Geschlecht oder Kaste sind alle Menschen vom Wesen her gleich. Alle sind erlösungsfähig und haben denselben Trennungsschmerz: Die Trennung der atma (Selbst) von parmathma (Akal Purakh) und dieselbe eine Frage: Wie können sie aus dem Kreislauf der Wiedergeburten ausbrechen? Wie können sie sich mit Akal Purakh wiedervereinigen und somit Erlösung (mukti) erlangen?
Die Befreiung aus dem Kreislauf der Wiedergeburten kann nur in der Gesellschaft stehend und für sich und andere Verantwortung übernehmend mit der Verehrung und kontinuierlichen Erinnerung an Waheguru und seine guten Eigenschaften (nam simran) und nur mit der Gnade (nadar) Akal Purakhs gelingen. Zentral im Sikhismus ist das Drei-Säulen-Prinzip Guru Nanaks: Erstens die Mediation, zweitens das Nachgehen einer ehrlichen Arbeit und drittens das Teilen der Einkünfte mit Hilfsbedürftigen Des Weiteren ist ein strenger ethischer Verhaltenskodex (rahit maryada) für gläubige Sikhs obligatorisch. Werte wie harte Arbeit, Wohltätigkeit, Hilfsbereitschaft und der Dienst an der Menschlichkeit sind von großer Wichtigkeit.
Akal Purakh ist das göttliche Wesen, das sich in der Schrift „shabad“ manifestiert. Dieses „shabad“, welches auch „bani“ oder „gurbani“ genannt wird, findet sich im Guru Granth Sahib. In der deutschen Sprache wird diese Sammlung an Texten oftmals das „Heilige Buch“ genannt und nimmt den Stellenwert ein, den zuvor die zehn Gurus hatten, da der letzte Guru, Gobind Singh, 1708 Granth (das Heilige Buch) und Panth(die Gemeinschaft) als seine Nachfolger ernannt und damit die Nachfolge bis in alle Ewigkeit bestimmt hat.
Guru Gobind Singh war es auch, der mit seinem Initiationsritus („amrit sanchar“) den Khalsa-panth (Gemeinschaft der Reinen) begründete und den Sikhs ihr distinktes Erscheinungsbild schenkte. Deswegen fallen die Sikhs nicht nur in Europa, sondern auch in Indien auf, da sie aufgrund ihres Äußeren erkannt werden. Die Männer tragen Turbane und Bärte, weil es im Sikhismus verboten ist, sich die Haare zu schneiden.[4] Das Aussehen und damit verknüpft, die distinkte Identität spielen in der Religion eine große Rolle. So müssen initiierte Sikhs die so genannten 5 Ks[5] (5 Dinge, die in Panjabi mit dem Laut „K“ beginnen) stets bei sich tragen. Unter diesen fällt u.a. ungeschorenes Haar und das Tragen eines Dolchs (vgl. Jhutti-Johal 2011, S. 38).
Das äußere Erscheinungsbild, der Turban bei den Männern und die „kleine“ Version, das „Patka“ der Sikh-Buben, welches im Zuge des „Kopftuchverbots“ 2019 ebenfalls betroffen war, beziehungsweise seine rechtliche Wahrnehmung, ist nach dem Generalsekretär der Sikh Glaubensgemeinschaft in Österreich, Gürseven Singh, auch eine Art „Weckruf“ gewesen, um einen rechtlichen Status in Österreich zu erlangen und in weiterer Folge, präsenter zu sein und seitens der Politik Aufmerksamkeit zu finden. Das Kopftuchverbot, welches nicht auf die Sikhs abzielte (zumal der gesamte Gesetzestext nicht auf die Sikh-Buben anwendbar ist), aber dann die Sikhs doch betraf, führte zu einem Schock und einer Verunsicherung in der gesamten Sikh-Gemeinschaft. Diesen Schock und diese Verunsicherung kennen die Sikhs zu gut aus Indien, wo sie als religiöse Minderheit permanent der Unterdrückung und Benachteiligung ausgeliefert sind – aber nicht aus ihrer neuen Heimat, Österreich. Wie sollten die Buben nun ohne ihre Kopfbedeckung in die Schule gehen? Wie sollten sie ihre langen Haare, die in Europa als ein weibliches Merkmal betrachtet werden, zusammenbinden? Das ist ein unglaublicher Einschnitt in die religiöse Glaubensausübung und viele Eltern haben sich schon in Horrorszenarien ausgemalt, dass die nächsten Generationen ihre Haare schneiden und demnach dem Sikhismus gänzlich den Rücken zukehren – und sie ihre Rolle als Eltern nicht erfüllen (schließlich obliegt es auch ihrer Verantwortung, sich der religiösen Erziehung und Bildung ihrer Kinder anzunehmen, zumal dies auch im Verhaltenskodex, der Sikh Rehat Maryada so verankert ist). All dies und mehr bereitete über Monate Eltern, aber auch den Kindern selbst Sorge, die sich die Frage stellten: „Darf ich nun nicht mehr mit meinem Patka in die Schule?“
Aber warum waren die Sikh-Buben von diesem neuen Gesetzesentwurf, welcher dann eingebracht, 2019 auch vom Nationalrat bestätigt und 2020 vom Verfassungsgerichtshof aufgehoben wurde, betroffen? Aus dem einfachen Grund, weil die Sikhs als Gemeinschaft vergessen wurden – und danach: mitgehangen, mitgefangen. Die Kopfbedeckung der Sikh-Buben (sowie die jüdische Kippa) wurde schließlich mittels Ausschussfeststellung explizit von dieser neuen Regelung herausgenommen. Eine große Erleichterung für die österreichische Sikh-Gemeinschaft.
In den zahlreichen Gesprächen mit Politikerinnen und Politikern aller Parteien wurde, so Gürseven Singh, immer wieder dieselbe Frage gestellt: Wieso sind die Sikhs keine eingetragene Bekenntnisgemeinschaft oder gar eine anerkannte Religionsgesellschaft? So recht hatte niemand eine Antwort auf diese Frage, zumal die Bemühungen, sich als Religionsgesellschaft anerkennen zu lassen schon seit Jahren, wenn nicht sogar zwei Jahrzehnten vorhanden waren. Schon um das Jahr 2000 liefen Gespräche und Vorbereitungen, um den Sikhs einen rechtlichen Status zu verleihen, und angeblich, so die dafür zuständigen Personen, würde dies bald geschehen. Bald wären die Sikhs auch eine Bekenntnisgemeinschaft. Aber dieses Bald kam nicht so bald. Zumindest nicht bis 2019, wo die Sikh-Jugend den Beschwichtigungen des dafür zuständigen Vereins keinen Glauben mehr schenkte und beschlossen hatte, sich der Sache selbst anzunehmen. So schlossen sich die Sikh-Jugendlichen aller in Österreich vorhandenen Gurdwaras zusammen und gründeten einen neuen religiösen Verein „Österreichische Sikh Glaubensgemeinschaft“ (ÖSG), denn nur gemeinsam, dessen waren sie sich bewusst, konnten sie den endlosen Eintragungsprozess ihrer älteren Generation beschleunigen (sofern nach fast 20 Jahren von Beschleunigung überhaupt die Rede sein konnte).
Dieses Repräsentationsrecht nach außen zu erlangen war ein intensiver Kraftakt und die wahrscheinlich größte Hürde im Prozess der Eintragung als Bekenntnisgemeinschaft. Hinzu kamen sprachliche Barrieren und die Unkenntnis der österreichischen Rechtslage, denn die Beschäftigung mit letzterer begrenzte sich auf das notwendige Wissen, wie ein Verein zu leiten ist. Nebst einer intensiven Vernetzungsarbeit, hatten die Sikh-Jugendliche die schwierige Aufgabe, den Vorständen, aber auch den Sikhs vor Ort einerseits die rechtliche Situation in Österreich auf Panjabi zu erklären, die entworfenen Statuten ins Panjabi zu übersetzen und andererseits um ihre Unterstützung und ihr Vertrauen zu bitten, welches sich in einer Vollmacht manifestierte. Die sprachliche Barriere ist das eine, das andere ist eine Vertrauensfrage: Wieso sollten ausgerechnet die Jugendlichen etwas zustande bringen, woran die Erwachsenen seit Jahren gescheitert waren? Vonseiten der Vorstände der unterschiedlichen Gurdwaras gab es auch ein gewisses Misstrauen. Sie konnten sich nicht sicher sein, was wirklich in den Statuten geschrieben stand, welche wirklichen unmittelbaren Konsequenzen eine Eintragung als religiöse Bekenntnisgemeinschaft für ihren Gurdwara haben würde. Und wie sie, sollte sich die einmal getroffene Entscheidung später als falsch herausstellen, sie vor den Sikhs ihres Gurdwaras begründen würden.
Nachdem intern lange debattiert, diskutiert und auch disputiert und viel Überzeugungsarbeit geleistet wurde, unterzeichneten nach und nach alle sieben Vereine die neue Vollmacht, mit der die Jugendlichen endlich ihre Arbeit aufnehmen konnten – und standen in dem gesamten Prozedere auch hinter ihnen. Gesagt, getan. Binnen eines Kalenderjahres und fast auf das Antragsdatum genau, wegen Covid-19 verspätet, wurden die Sikhs in Österreich als religiöse Bekenntnisgemeinschaft mit dem Namen „Sikh Glaubensgemeinschaft in Österreich“ eingetragen.
Scheinbar überwog hier das Vertrauen in die jüngere Generation, in ihre Kenntnisse der österreichischen Rechtslage, aber auch und möglicherweise vordergründig in deren Sprachkompetenz – oder auch die fehlende Argumentation, nachdem die Älteren es selbst über Jahrzehnte nicht vollbracht hatten, ihnen diese Rechte zu erringen. Schlussendlich konnte dieses Ziel nur miteinander, unter Einbindung und mit der Unterstützung aller in Österreich lebenden Sikhs erreicht werden.
[1] Da in vielen Ländern, wie auch Österreich, das Religionsbekenntnis nicht erfasst wird, werden Schätzungen herangezogen. Andere Länder wie z.B. Indien bieten sehr genaue Zahlen.
[2] Vgl. GALLO, Ester: “Sikhs in Italy. Khalsa Identity from Mimesis to Display”. In: GALLO, Ester (Hrsg.): “Migration and Religion in Europe”. S.185-206, S.172.
[3] Vgl. http://medienservicestelle.at/migration_bewegt/2015/04/13/bis-zu-10-000-sikhs-in-oesterreich/ [Letzter Zugriff: 31.08.2018, 10:00]
[4] Den Frauen steht es zu frei zu wählen, ob sie auch einen Turban binden wollen oder nicht.
[5] Ungeschorenes Haar, Holzkamm, Reiterhose, Armreif aus Eisen, kleiner Dolch.
Bild: Logo der SGÖ
Rat-Blog Nr. 6/2021