Wie die Haltung der neuen ÖVP zu Relocation verstehen?

Dritter Teil der aktuellen Reihe von Sieglinde Rosenberger.

Die Situation in den Hot Spots auf den griechischen Inseln ist für die Menschen in den behelfsmäßigen Lagern weiterhin unerträglich, mehr noch, sie wird wetterbedingt von Tag zu Tag unerträglicher. Eine Überführung auf das Festland ebenso wie eine Verteilung in den EU-Staaten findet nicht bzw. nur schleppend statt, eine nach Österreich gar nicht.

Wie können wir verstehen, dass die österreichische Bundesregierung partout keine Menschen aus den Lagern aufnehmen will? Auch keine Kinder, obwohl der Innenminister wiederholt beteuert, dass ihn als Familienvater die Bilder zutiefst erschüttern würden (Mittagsjournal Ö1, 23.1.2021)?

Wie können wir verstehen, dass die vielen zivilgesellschaftlichen Initiativen und Einzelpersonen, die öffentlichen Personen wie Politiker*innen und Kunstschaffende nicht wahrgenommen werden? Dass die eindringlichen Appelle, die moralischen Anklagen, die Argumente der Menschenwürde und der Rechtsstaatlichkeit nichts gelten?

Wie können wir verstehen, dass selbst jene, die der ÖVP nahestehen bzw. von ihr Teil sind (wie Franz Fischler oder Beate Palfreider u.v.m), mehr noch Teil der Regierung sind (wie Grüne Politiker*innen), vom Innenminister, vom Bundeskanzler, von der Integrationsministerin und vom Außenminister ignoriert werden? Schließlich, wie können wir verstehen, dass die Pfarrer und Bischöfe, die christlichen Wohlfahrtsorganisationen wie Caritas und Diakonie, bei der Partei der Katholik*innen kein Gehör mehr finden? (siehe hier).Wir müssen versuchen, zu verstehen, warum der stärkere Teil der Bundesregierung keine Menschen über die Schiene der Relocation aufnehmen will.

Wir erinnern uns: In den letzten Jahren hat es wiederholt Engagement für Menschen, die abgeschoben werden sollten, gegeben. Immer wieder wurden dann, wenn sich das Umfeld engagierte, Integration belegte, Ärger, Zorn und Wut demonstrierte, Abschiebebescheide ausgesetzt. Das Abschieben ging nicht in allen Fällen durch. Zivilgesellschaftliches Engagement, das sich mit Bürgermeister*innen, Lehrer*innen und Nachbarschaft verbündete, war von Fall zu Fall erfolgreich. Denn negative Schlagzeilen sollten vermieden werden.

Beim Aufnehmen und Platzgeben schein das politische Kalkül anders gelagert zu sein. Insbesondere haben sich die politischen Mehrheitsverhältnisse geändert, haben sich die Innenpolitik und ihre tragenden politischen Parteien nach den letzten Nationalratswahlen neu konfiguriert.

Die ÖVP ist transformiert, die neue ÖVP hat das Christlich-Soziale abgeschüttelt, sie ist dabei, die ehemals engen personellen Verbindungen zur Katholischen Kirche zu kappen. So hat beispielsweise der Cartellverband (CV) als Rekrutierungspool an Einfluss verloren, was erklären kann, dass einzelne CV-Repräsentanten auch in der Asylfrage mit kritischen Statements an die Öffentlichkeit treten.

Der neuen ÖVP ist das sprichwörtliche FPÖ-Hemd näher als der angestammte ÖVP-Rock. Die Regierung nimmt deutlicher auf die nativistischen und Anti-Migrations-Stimmungen der FPÖ-Affinen Rücksicht als auf die christlich-sozial geprägten ÖVP-Wähler*innen und Funktionär*innen. Es ist zu erwarten, dass, solange die FPÖ organisatorisch und bei Umfragen derart schwach ist, die ÖVP-Spitze alles tun wird, die ehemaligen FPÖ-WählerInnen mit einer menschenunwürdigen Politik zufrieden zu stellen. Die ÖVP scheint sich noch der ÖVP-Stimmen sicher zu sein, deshalb orientiert sie sich eher an den FPÖ-Sentimenten. Eine Verhaltensänderung wird also erst zu erwarten sein, wenn die öffentliche Absetzbewegung von der ÖVP noch viel prononcierter und umfangreicher sein wird.

Widerlegt das viel zitierte vorweihnachtliche Gebetsfrühstück im Parlament diesen Befund der Distanzierung der neuen ÖVP von christlich-sozialen Werthaltungen? Nein, das Gebetsfrühstück sollte als symbolischer Akt gesehen werden, der sich an den äußersten rechten Rand des Katholizismus richtete. Denn mit Begegnungen dieser Art werden erz-konservative Fußabdrücke im säkularen Raum des Parlaments gesetzt – sie dürften als öffentliche Provokation gedacht gewesen sein.


Rat-Blog Nr. 4/2020

3 thoughts on “Wie die Haltung der neuen ÖVP zu Relocation verstehen?

  1. Sowohl im Fall der Flüchtlingsfamilien auf der Insel Lesbos als auch in jenem der Abschiebung der Schülerinnen aus Österreich gibt es keine zwingenden rechtlichen Gründe für die unnachgiebige Haltung der VP-dominierten Regierung. Im einen Fall wäre ein Asylrecht auf Zeit bzw. subsidiärer Schutz aufgrund des anhaltenden Krieges in Syrien angemessen, im anderen Fall ein humanitäres Bleiberecht, das vom BVerwGericht gar nicht entsprechend geprüft worden ist. Es waren beides politische Entscheidungen gegen eine humane und christliche, aber auch rechtsstaatlich erforderliche Grundeinstellung und für eine demonstrative Härte gegenüber Menschen, die niemandem in Österreich etwas wegnehmen, sondern vor allem wirksamen Schutz brauchen bzw. als integrierte Kinder und Jugendliche in Ausbildung die verfassungsrechtlich garantierten Rechte der Kinder in Anspruch nehmen dürfen sollten. Warum diese Härte seitens einer als christlich-sozial geltenden Partei (so auch immer noch das Selbstverständnis)?
    Da ist einmal die Angst vor dem Verlust der zehn- oder hunderttausenden Wählerstimmen, die nach der Ibiza-Affäre von den Freiheitlichen gekommen sind; dabei würden diese blauen Leihstimmen wegen der anhaltenden Insuffizienz der FPÖ wohl der ÖVP erhalten bleiben. Da ist auch eine gewisse Unkreativität und Phantasielosigkeit, nach der türkis-blauen Regierung jetzt mit den Grünen einmal eine etwas erneuerte Linie einzuschlagen, die der christlich-sozialen ÖVP auch selbst nur gut zu Gesicht stehen würde und sie jedenfalls wieder sympathischer machen würde. Und da ist auch das Nicht-Zulassen einer internen kritischen und selbstreflexiven Diskussionskultur (die gilt wahrscheinlich als zu liberal und intellektuell, zwei im türkisen Universum ganz verdächtige Kategorien). Und es ist nicht zuletzt auch eine Frage der Generationen. Die jetzige ÖVP-Führungselite ist zu einer Zeit politisch sozialisiert worden, als die insgesamt doch konsensorientierte Große Koalition teils zu Recht, teils zu Unrecht, aber jedenfalls meist polemisch und systematisch diskreditiert wurde. Diese pauschale Fundamentalkritik an der Großen Koalition, wovon ja die FPÖ die längste Zeit profitierte, hat diese Generation der Jung-Bürgerlichen internalisiert, dazu kommt dann noch eine gewisse neoliberale Grundhaltung mit großer Skepsis gegenüber dem Sozialstaat, Umverteilung, einer multikulturellen Toleranz, etc. Das wäre dann schon der ganze Mix der türkisen Ideologie, die von der traditionellen christdemokratischen Weltanschauung der Volkspartei schon ziemlich weit weg ist. Nur: wer vertritt denn diese heute noch? Ein paar ÖVP-Ex-Minister, Ex-Abgeordnete und allzu schweigsam gefügige Landeshauptleute und Landesräte, die die einzigen wären, die auf die aktuelle Politik noch einen Einfluß nehmen könnten. Gegen allen Anschein ist zu hoffen, dass doch zunehmend Bürgerliche aus allen Gesellschafts,- Berufs,- und Altersgruppen aufstehen und gegen diese unmenschlich herzlose Hetze gegen Flüchtlinge und Migranten, aber auch gegen die heuchlerische Verunstaltung des (früheren) christlich-sozialen Wesenskerns der Volkspartei, der für einen Gutteil der Wähler/innen und Funktionäre an der Basis noch immer als Orientierung gilt, protestieren und christdemokratische, liberale und zeitgemäße Gegenpositionen formulieren. Eine solche Selbstermächtigung des politisch engagierten Bürgertums aus VP-Kreisen, aber auch anderen Parteien, zusammen mit einer aktiven Zivilgesellschaft, könnte so etwas wie eine bürgerschaftliche Wende in Österreich einleiten. Damit nicht ein dumpfer, illiberaler Rechtspopulismus (auch ohne FPÖ) in unserer Republik weiterregiert, sondern menschenfreundliche, empathische und sympathische, sachlich kompetente, weltoffene und zukunftsfähige Politiker/innen die Geschicke unseres auch aufgrund seiner Kultur der Menschlichkeit so erfolgreichen und weltweit geschätzten Landes bestimmen.

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