Martin Rötting über Gegenwart und Zukunft religiöser Begegnungsorte.
Als in der Nacht vom 15. auf 16. April 2019 Notre-Dame in Paris brennt, steht ein Wahrzeichen in Flammen. Nicht nur religiöse oder katholische Bewohnerinnen und Bewohner von Paris, sondern Menschen aus der ganzen Welt sind betroffen. Das Gebäude war weit mehr als ein Andachtsort, über die Jahrhunderte ist es Teil der französischen Identität geworden. Kathedralen hatten den Anspruch, die Größe Gottes – und oft auch die ihrer Erbauer*innen – in der Skyline einer Stadt zu repräsentieren. Ihre Präsenz hat das Gefüge der Stadt nachhaltig geprägt und verändert. Man konnte ihre Botschaft quasi mit Händen fassen, ein haptisch gewordenes Evangelium.
Häuser der Religionen als religiöse Symbolkonstruktionen der Gegenwart
Etwas bescheidener in der Größe bereichern seit einigen Jahren „Häuser der Religionen“ und „Räume der Stille“ den Lebensraum, vor allem in Städten und Metropolen. In Bern, Hannover und Stockholm, sowie New York und Taipei gibt es bereits Häuser oder Zentren. Berlin hat mit dem Bau begonnen und in Wien, München, London, Jerusalem und Abu Dhabi wird jeweils ein Zentrum geplant. Ihr trans- oder interreligiöser Anspruch, oft auch nur indirekt als solcher gekennzeichnet, kommuniziert eine innerliche Größe: das Versprechen, zum interkulturellen und interreligiösen Gefüge in den auch von säkularen Strukturen geprägten Metropolen wesentlich beizutragen. Damit markieren die Gebäude eines der wenigen, von großen Teilen der Gesellschaft geteilten Paradigmen: wir wollen in Pluralität friedlich gemeinsam leben können. Spannend ist, dass gerade die Größe „Religion“, von vielen als Faktor für Spannungen bis hin zur direkten oder indirekten Unterstützung von Terrorismus benannt, hier als positive gesellschaftliche Kraft zu wirken vermag, die Diversität und in ihr mögliche Harmonie in einer Gesellschaft aufzeigt.
Dabei zeigen schon die verschiedenen Benennungen wie „Interreligiöse Räume/Häuser“, „Räume/Häuser der Stille“, „Häuser der Religionen“ oder das englische „Multifaith-Space“, dass es viele Konzepte gibt und Bedarfe seitens der Träger, der Religionen und der Nutzenden solcher Räume. Dabei ist es in „Räumen der Stille“ nicht immer still, und auch in den „Häusern der Religionen“ gibt es sehr unterschiedliche Ideen, wie sich der Plural von Religion hier zu verwirklichen habe. Die Konzepte sind im Werden und im Fluss!
In der Geschichte gibt es zahlreiche Beispiele von sakralen Gebäuden die ihre Nutzung wechselten, wie die Londoner Brick-Lane Kirche, die zunächst Hugenotten als Versammlungsort diente, dann Protestanten, später Methodisten, eine Synagoge wurde und schließlich seit 1976 als Moschee fungiert.[1] Gemeinsam genutzte Kirchenräume gibt es in Deutschland seit der Reformation, wie Doppelkirchen, die meist seit dem 17. Jhdt. existierten. Es gibt aber auch moderne Beispiele, wie die Maria-Magdalena-Kirche in Freiburg im Breisgau oder ökumenische Zentren, wie in München an der neuen Messe[2], und in Makedonien gibt es Klöster und Heilige Orte, die von Muslimen und Christen akzeptiert werden.[3]
Ein prominentes frühes Beispiel ist der Meditationsraum im Gebäude der Vereinten Nationen in New York, der 1948 eingerichtet wurde und als persönliches Projekt des Generalsekretärs der Vereinten Nationen und Mystikers Dag Hammarskjöld (1905-1961) gilt. Es gibt keine Ursprungslegenden der ersten interreligiösen Räume, aber es gibt Vorläufer. Bisherige Forschung hat aus architektonischer, theologischer, soziologischer und religionswissenschaftlicher Perspektive interreligiöse Räume untersucht.[4] Andrew Crompton vergleicht multireligiöse Räume, im Englischen auch als MFS (Multi-Faith-Spaces) bezeichnet, und bezeichnet sie ‚als in Architektur gegossenes Hintergrundgeräusch‘.[5] Der interreligiöse Raum am Wiener Flughafen, der 1988 gebaut wurde, gilt als einer der ältesten, aber es gibt kein Gründungsnarrativ für multireligiöse Räume oder Häuser. Oft sind sie durch plurale Lebens- und Arbeitsräume entstanden. Menschen unterschiedlicher Ethnien und Religionen, die auf engerem Raum zusammen leben, entwickeln für ihre Situationen, ob an Flughäfen, Krankenhäusern oder Universitäten, Ideen gemeinsam genutzter Rückzugs- und Versammlungsräume für religiöse und spirituelle Zwecke. Dabei stellt Crompton bei seiner Analyse[6] fest, dass sich zwei Extreme entwickelt hätten, ein „positiver Ansatz“, in dem religiöse Symbole in konkreter Referenz zu Traditionen gezeigt werden, und ein „negativer Ansatz“, in dem solche völlig abwesend seien.
Multifaith Sapces: Warum ein Haus?
Nach Henri Lefebvre (1991/1974) ist Raum das Ergebnis eines Produktionsprozesses. Häuser der Religionen könnten dann als das Ergebnis eines Prozesses gesehen werden, der von verschiedenen Identitäten geprägt ist, die pluralistische religiöse Räume formten. Doch wie fügt sich dieser Prozess in die umfassendere Logik der Stadtentwicklung in einer modernen Gesellschaft ein? In Ecologies of Faith zeigen Richard Cimino et al. in ihrer Analyse von Interaktionsprozessen, wie sich religiöse Gruppen und Kirchen in New York gegenseitig beeinflussen und auf Migrationsströme und neu entstehende Vakua reagieren. Diese Methode der Ökologie des Religiösen baut auf Forschungen der Chicago-School auf und betrachtet, wie Religionen in der Stadt Lebensraum finden, indem sie vorhandene Ressourcen und neue Bedürfnisse nutzen.[7]
Häuser der Religionen sind aber keine Nischengruppen, die – wie die Beispiele in Ecologies of Faith – frei gewordenen urbanen Raum, wie etwa eine ungenutzte ehemalige Kirche oder ein Industriegebäude neu nutzen und sich dadurch verändern. Sie sind selbst Neukonstruktionen von religiösen Gebäuden mit dem Anspruch, die Pluralität nicht durch Segmentierung in unterschiedliche Gemeinden widerzuspiegeln, sondern diese in einem gemeinsam gefassten Raum zu ermöglichen. Tatsächlich entstehen in den bisher geplanten Häusern auch separate Räume, aber die Zugänge und eine immer mit eingeplante gemeinsame Mitte in Form eines Cafés, eines Marktes, eines leeren Versammlungsraumes, werden an zentraler Stelle positioniert.
Als Häuser markieren die Multfaith Spaces im urbanen Raum die Notwendigkeit des Dialogs. Und noch mehr: durch die Art ihrer Gestaltung, räumlich, ästhetisch und in der Funktionalität, etwa der Zugänge, kommunizieren sie mögliche Formen des Miteinanders auch bei bestehenden Unterschieden. Der Dialog selbst wird damit zur für alle Sichtbaren, da raum-greifende notwendigen Agenda.
Der Prozess der Raumproduktion
Für Henri Lefebvre ist Raum das Ergebnis und auch die Bedingung sozialer Prozesse. Die Struktur der Projektprozesse ist also für die Erforschung der Sinnstiftung eines Hauses der Religionen von zentraler Bedeutung. Dies wirft die interessante und wichtige Frage auf, wie die laufenden Projekte der Häuser der Religionen strukturiert sind.[8]
Im schon bestehenden und seit 2014 geöffneten Haus der Religionen in Bern ging eine jahrelange Planung dem Bau voraus. Die Idee kam den Initiator*innen aufgrund eines Vorschlags eines Gutachtens für den Integrationsrat, der dann von einer christlichen Gemeinde aufgegriffen wurde. Bereits in der frühen Planung und auch im Betrieb sind zahlreiche religiöse Gemeinschaften und Vereine involviert und mieten auch ihre jeweils genutzten Räume, deren Innenausbau sie selbst durchgeführt und geplant hatten.
In Hannover begann die Initiative für ein Haus zunächst mit einem Runden Tisch der Religionen, der während des Golfkrieges der 1990er Jahre entstanden ist, als Saddam Hussein damit drohte, Israel mit Gaswaffen anzugreifen. Aus dem Runden Tisch entstand dann in Kooperation mit den lokalen Religionsvertreter und -Vertreterinnen die Initiative für das Haus der Religionen.
In im Stockholmer Stadtteil Fisksätra entsteht das Gods-House, ein Gebäudekomplex mit Moschee und Kirche. Die Kirche steht schon, die Moschee ist geplant. Das Besondere an diesem Projekt ist, dass es eine städteplanerische Antwort der Community auf den Bedarf der Bevölkerung in einem sehr multikulturellen Teil von Stockholm ist.
Im inzwischen sehr bekannten Projekt House of One war die Initiative ein Grundstück der Landeskirche Berlin, auf der ehemals eine der ältesten Kirchen Berlins, die Petrikriche, stand. Diese hatte die DDR-Regierung abgerissen, auf dem Grundstück war dann lange ein Parkplatz gewesen. Das House of One im Herzen des interkulturellen Berlins ist somit auch ein historisches Versöhnungsprojekt, an dem sich neben den Initiatoren aus Kirchengemeinde, einem Imam und Rabbiner inzwischen viele Initiativen und auch andere Religionen beteiligen.
London plant seit einigen Jahren ein Haus der Religionen mit dem Namen House Coexist und hat ein Büro im Inner Temple Bezirk. Eine geplante Kooperation mit der Stadt London und Museen lassen das Projekt bereits jetzt vielversprechend erscheinen.[9]
In München soll ein Haus der Kulturen und Religionen[10] entstehen. Die Initialidee hierzu entstand 2017 bei einem Treffen von Leiterinnen und Leiter eines ehemaligen internationalen Student*innenheimes, das für seine hervorragende interkulturelle Arbeit bekannt war, dem Rabbiner Steven Langnas als Leiter des Lehrhauses der Religionen[11], Martin Rötting als Vertreter von OCCURSO, einem Institut für interreligiöse und interkulturelle Begegnung[12], und anderen. Es entstand die Idee einen Ort des interreligiösen Dialogs entstehen zu lassen, an dem Menschen wohnen, miteinander im Dialog lernen und ihn leben. Nachdem zunächst das Areal der ehemaligen Bayernkaserne im Norden anvisiert worden war, kam nach einer Tagung zum Thema im Oktober 2019 die Nazarethkirche in Bogenhausen ins Gespräch. Durch eine Umorientierung der Gemeinde wird diese frei werden. Momentan haben sich die Gemeinde, die Kulturinitiative nazareth.projekt und der HdKRMe.V. auf eine Probephase geeinigt, in welcher der Ort in München-Bogenhausen erprobt werden soll.[13] Die Initiative in München umfasst mehrere im interreligiösen Dialog aktive Vereine und Religionsgemeinschaften, die über den Rat der Religionen, der im Beirat sitzt, vertreten sind.
In Wien und Abu Dhabi entstehen nicht nur Häuser, sondern ein Campus der Religionen. Das Wiener Projekt im Stadtteil Seestadt ist mit Vertreter*innen von acht Religionsgemeinschaften angelegt und unter der engagierten Führung des Baudirektors der Erzdiözese durch einen Verein in Realisierung gebracht. Da das Projekt auf dem RaT-Blog von Jakob Deibl bereits vorgestellt wird, erlaube ich mir, hier nicht intensiver darauf einzugehen.
In Abu Dhabi wird das in anspruchsvollem Design[14] bereits geplante Abrahmitic Family House durch das Higher Committee of Human Frataernity[15] initiiert und geplant, welches im Februar 2019 die Begegnung von Papst Franziskus und dem Großimam Ahmad Mohammad Al-Tayyeb[16] initiierte. Wie eine konkrete Beteiligung von Religionsgemeinschaften vor Ort geplant ist, wurde bisher nicht kommuniziert.
Partizipation der Akteure
Ein Blick auf die bestehenden Projekte zeigt, dass die meisten von Ihnen Graswurzelinitiativen sind, die ab einem gewissen Bekanntheitsgrad an Fahrt gewinnen konnten und durch hohe Partizipation der Öffentlichkeit und Beteiligung von kleinen Initiativen die notwenigen Ressourcen in Form von Ehrenamt sowie Zuwendungen finanzieller und ideeller Art erhalten konnten, die für eine weiterführende Förderung notwendig sind.
Wie die Kathedralen von einst, die lange Bauzeiten kannten, sind auch die Häuser der Religionen große Projekte. Die Komplexität ihrer Statik ist nicht wie bei den Kathedralen von einst die Höhe des Raumes, sondern die Diversität der agierenden Partizipierenden und in das Projekt auf unterschiedlichsten Ebenen eingebundenen Gruppen und Individuen. Der eigentliche Baustoff, so scheint es, für die sinnstiftenden religiösen Gebäude der Zukunft, ist das gemeinsame Lernen im Dialog der Menschen selbst.
Literatur:
Assmann, Aleida. 2018. Der europäische Traum. Vier Lehren aus der Geschichte. München: C.H. Beck.
Berger, Peter L. 2015. Altare der Moderne. Frankfurt a. M.: Campus Verlag.
Bobrowicz, Ryszard. 2018. „Multi-Faith Spaces Uncover Secular Premises Behind the Multi-Faith Paradigm.“ Religions 9 (37):2-8.
Cimino, Richard. 2013. Ecologies of Faith in New York City. The Evolution of Religious Institutions. Edited by Richard Cimino, Nadia A. Mian and Weishan Huang. Indiana: Indiana University Press.
Crompton, Andrew. 2013. „The architecture of multifaith spaces: God leaves the building.“ The Journal of Architecure 18 (4):474-496.
Gatty, Fiona K. A. . 2018. „A House of Prayer for All Peoples?: The Unique Case of Somerville College Chapel, Oxford.“ Material Religion 14 (1):83-114.
Hann C., Goltz H. 2010. „Mixed Shrines” in Macedonia.“ In Eastern Christians in Anthropological Perspective, edited by Goltz H. Hann C., 163-183. Berkeley: University of California Press.
Huntington, Samuel P. 1996. Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert.: Simon & Schuster.
Levebvre, Henry, 2006. Die Produktion des Raumes, in: Dünne Jürgen und Stephan Günzel, Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Suhrkamp: Berlin.
Liljestrand, Johan. 2018. „How Interreligious Buildings Influence Interreligious Neigbourhood Relations. The Case of the God’s House Project in a Stockholm Suburb.“ In Religion and Dialogue. Case Studies on Interreligious Encounter in Urban Community and Education., edited by Thorsten Knauth, Anna Kors, Dorthe Vieregge, Marie von der Lippe, Julia Ipgrave, 159-182. Münster: Waxman.
Rosa, Hartmut. 2016. Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung: Suhrkamp, Berlin.
Rötting, Martin. 2019. Navigation! Spirituelle Identität in einer interreligiösen Welt. Feldforschung in München, Vilnius, Seoul und New York. St. Ottilien.
Rötting, Martin. 2011. Religion in Bewegung: Dialog-Typen und Prozess im interreligiosen Lernen. Vol. 9. Münster: LIT Verlag.
Rötting, Martin. 2015. „Can we pray here? Interreligioser Dialog in der Hochschulpastoral.“ Wort und Antwort 56. Jg, 1:23-29.
Rötting, Martin. 2017. Spirituelle Identitat in einer interreligiosen Welt. Daten der Feldforschung in München, Vilnius, Seoul und New York.
Rötting Martin (Hrsg.), Houses of Religions, Experiences, Visions and Formats, Lit-Verlag, Wien, 2021.
[1] Crompton (2013).
[2] Zunächst gab es nach der Reformation Simultankirchen, die Katholiken und Protestanten zur Versammlung und zum Gottesdienst dienten. So wurde bereits 1524 in St. Petri zu Bauzen das Langhaus geteilt. Die Simultankirchen können als Vorläufer der ökumenischen Zentren gesehen werden, in denen dann Kapellen bereits im Blick auf gemeinsamen ökumenische Nutzung gebaut wurden.
[3] Vgl. hierzu u.a. Hann C. (2010).
[4] Siehe u.a.: Gatty (2018, 87), Crompton (2013), Bobrowicz (2018).
[5] Crompton (2013, 447).
[6] Crompton (2013, 449f.).
[7] Cimino (2013, 3).
[8] Die Informationen des Folgenden Absatzes finden sich in Martin Rötting (Hrsg.), Houses of Religions, Experiences, Visions and Formats, Lit-Verlag, Wien, 2021.
[9] https://www.coexisthouse.org.uk/about.html, abgerufen am 13.01.2021.
[10] https://hdkrm.org/, abgerufen 13.01.2021.
[11] https://muenchner-lehrhaus.de/, abgerufen 13. Januar 2021.
[12] Occurso.org, abgerufen 13.01.2021.
[13] https://www.sueddeutsche.de/muenchen/muenchen-bogenhausen-kirche-gemeindezentrum-religionen-1.5162652, abgerufen 13.01.2021.
[14][14] https://www.youtube.com/watch?v=XEYflyNkWbA, abgerufen 13.01.20201.
[15] https://www.forhumanfraternity.org/higher-commitee, abgerufen am 13.01.2021.
[16]https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2019-02/papst-franziskus-abu-dhabi-gemeinsame-erklaerung-grossimam.html, abgerufen am 13.01.20212.
Bilder vom Autor/Wikipedia/Kuehn Malvezzi/gudshus.se. Bilder: HOPE, House of God, Berner Haus der Religionen, House of One.
Rat-Blog Nr. 5/2021
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