Die Leiter ist in unserer Kultur keineswegs nur ein alltägliches Gebrauchsobjekt.
„[Jakob] träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder.“ (Gen. 28:12)
Auch in Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus findet sich ein berühmtes Leitermotiv, das allerdings nur einen Aufstieg vorsieht:
6.54 Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) […]
Wittgensteins Tractatus feiert in diesem Jahr den 100sten Jahrestag seines ersten Erscheinens; die Erstveröffentlichung erfolgte in einer ziemlich verunglückten – weil sehr fehlerhaften – Version unter dem Titel „Logisch-philosophische Abhandlung“ in Oswalds Zeitschrift Annalen der Naturphilosophie. Die Geschichte der umstrittenen Interpretationen ist – wie wohl bei jedem bedeutenden philosophischen Werk – fast so alt wie das Werk selbst. Wittgenstein zeigte sich mit Bertrand Russells Einleitung gar nicht zufrieden; die deutsche Übersetzung davon kommentiert er in einem Brief an Russell mit: „Die Feinheit Deines englischen Stils war nämlich in der Übersetzung – selbstverständlich – verloren gegangen und was übrig blieb war Oberflächlichkeit und Missverständnis.“[1] Eine sehr prominente, aber auch heftig kritisierte Interpretation aus etwas jüngerer Zeit lieferten James Conant und Cora Diamond in den späten 1980er Jahren mit ihrem resolute reading, das seinen Ausgangspunkt bei der Leiter nimmt: Man müsse das Wegwerfen der Leiter ernst nehmen, d.h. Wittgensteins Sätze müssten tatsächlich als unsinnig erkannt werden und der Tractatus zeige, dass der Versuch, eine Grenze zwischen Sinn und Unsinn zu ziehen, sich selbst als Unsinn erweist.
Eine weit verbreitete „Interpretationspraxis“ nimmt sich Sätze des Tractatus isoliert vor. Der Leiter-Satz gehört jedenfalls zu jenen, die in der allgemeinen Wahrnehmung des Tractatus – in den Feuilletons und Ildefonso-Schleifen – angekommen zu sein scheinen, wie auch der vielleicht meistzitierte Satz aus diesem Werk: „7 Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“. Kurz davor heißt es unter der Nummer 6.52: „Wir fühlen, daß selbst, wenn alle möglichen wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar nicht berührt sind.“ Man könnte meinen, dass Sprache und Wissenschaft etwas sind, mit dem man hauptsächlich etwas nicht kann. Dicht gefolgt in der Beliebtheit des erratischen Zitierens ist wohl: „5.6 Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt“ – was sich, so aus dem Zusammenhang gerissen, für mich doch recht nach einer merkwürdigen Art von Gefängnis anfühlt. „6.41 Der Sinn der Welt muss außerhalb ihrer liegen“, „6.42 Darum kann es auch keine Sätze der Ethik geben. Sätze können nichts Höheres ausdrücken“, „6.522 Es gibt allerdings Unaussprechliches. Dies zeigt sich, es ist das Mystische“ – der Tractatus, die Niederschrift eines Mystikers also?
Sehr verwirrend, ja widersprüchlich nüchtern, dann aber (etwas abgeschlagen in der Rangliste der Zitate möglicherweise, wenn auch immer noch sehr populär) der erste Satz des Tractatus: „1 Die Welt ist alles was der Fall ist.“ Als ich in meiner Jugend diesen Satz das erste Mal gelesen habe, in einem Buch, das mir jemand als berühmtes Werk der Philosophie präsentiert hat, war mein erster Gedanke: Jemand will mich auf den Arm nehmen. Ja, was denn sonst sollte die Welt sein? Würde jemand denn ernsthaft behaupten, die Welt wäre etwas anderes als das, was der Fall ist?
Die Rechtfertigung für ein solches isoliertes Zitieren und Interpretieren einzelner Sätze aus dem Tractatus lautet häufig, es handle sich bei diesem Werk um eine Ansammlung von Aphorismen. Das wiederum kommt mir so vor, wie wenn jemand sagt, eine Leiter bestehe doch im Wesentlichen nur aus Sprossen.
Als Alternative möchte ich eine vielleicht unkonventionelle Lesart des Tractatus anregen: von hinten nach vorn. Man wird dann also wohl die Leiter hinuntersteigen müssen.
Wenn man bei Satz 7 startet, und – etwa aufgrund eines natürlichen Bedürfnisses, sich mitzuteilen – nicht einfach nur schweigen möchte, sieht man sich dazu gedrängt, sich dafür zu interessieren, wovon zu sprechen Wittgenstein zulässt. Satz 6.54 verhilft dann nebenbei zu der erfreulichen Feststellung, dass die Leiter wohl noch nicht weggeworfen sein kann, da man ja noch nicht hinaufgestiegen ist. Gleich 6.53 klärt sodann über die „richtige Methode der Philosophie“ auf:
„Nichts zu sagen, als was sich sagen läßt, also Sätze der Naturwissenschaften […] und dann immer, wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte, ihm nachweisen, daß er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat. Diese Methode wäre für den anderen unbefriedigend – er hätte nicht das Gefühl, daß wir ihn Philosophie lehrten – aber sie wäre die einzige streng richtige.“
Nichts sagen, als was sich sagen lässt, klingt tautologisch, und nur Sätze der Naturwissenschaften sagen zu dürfen, klingt sehr streng – und warum soll das das Gleiche sein („also…“)? Man wird also herausfinden müssen, was Wittgenstein mit „Sätzen der Naturwissenschaften“ meint. Einen ersten Hinweis gibt immerhin der Verweis auf die Bedeutung der Zeichen im Satz. Liest man weiter – nach vorne – dann werden einmal gewisse Dinge ausgeschlossen: „Es ist klar, daß sich die Ethik nicht aussprechen läßt“ (6.421), „[d]ie Sätze der Mathematik sind […] Scheinsätze“ (6.2), und auch „[d]ie Sätze der Logik sagen also nichts“ (6.11). Ethik mag ja eine Sache des Gefühls sein, auch mathematischen Sätzen möge irgendeine Art Sonderstatus zugesprochen werden, aber wo soll denn die Logik eine Rolle spielen, wenn nicht dort, wo man spricht? Satz 6.1 – „Die Sätze der Logik sind Tautologien“ – schafft diese Irritation aus dem Weg: Es geht hier lediglich um „Sätze der Logik“, es ist damit noch nicht (unmittelbar) etwas über die Bedeutung der Logik für die Sprache gesagt. Jedenfalls wird aus der Redeweise über die Sätze der Naturwissenschaften und allem bisher Gelesenen klar, dass es wesentlich ist, dass wir in Sätzen sprechen. Mit ganzzahliger Nummer 6 heißt es entsprechend:
6 Die allgemeine Form der Wahrheitsfunktion ist: [p, ξ, N(ξ)]. Dies ist die allgemeine Form des Satzes.
An dieser Stelle ist klar: Möchte man irgendetwas verstehen, so muss man weiterlesen, denn diese Formel ist offenkundig nicht selbsterklärend. Man blättert also weiter nach vorne und findet in 5.502 die Definition von N, nach der man auf der Suche war. [Anmerkung der RaT-Redaktion: aus technischen Gründen lässt sich die folgende Passage nur im Bildformat darstellen, um die Druckfehler bezüglich des Xi zu emendieren:] Am leichtesten
von Sätzen (was 5.501 auch bestätigt), und N liefert ihre „simultane“ Verneinung. Warum das die allgemeine Form des Satzes sein soll, weiß man allerdings an dieser Stelle nicht. Während 5.471 mitteilt, dass „[d]ie allgemeine Satzform […] das Wesen des Satzes [ist]“ – sie also wichtig zu sein scheint,[2] heißt es in 5.4 „Hier zeigt es sich, dass es „logische Gegenstände“, „logische Konstante“ (im Sinne Freges und Russells) nicht gibt“ und in 5.41 „Denn: Alle Resultate von Wahrheitsoperationen mit Wahrheitsfunktionen sind identisch, welche eine und dieselbe Wahrheitsfunktion von Elementarsätzen sind“ – was bedeutet, dass es auf das N also in gewisser Weise doch gar nicht anzukommen scheint. Tatsächlich macht Satz 5.101 klar, dass man die Wahrheitsfunktionen (bei endlich vielen Sätzen) auch einfach immer auflisten kann, anstelle sie durch N auszudrücken:
Die Wahrheitsfunktionen jeder Anzahl von Elementarsätzen lassen sich in einem Schema folgender Art hinschreiben:
Der N-Operator liefert also (lediglich, aber immerhin) eine Möglichkeit, in einer Formel alle Wahrheitsfunktionen, die je auftreten können, anzuschreiben (siehe zur Bestätigung 5.5 und 5.502). Wir sehen hier auch, dass überhaupt Konnektive grundlegend irrelevant bzw. zweitrangig sind. Alles, was wichtig ist, sagt uns der linke Teil der Tabelle. Die Logik hat keine anderen Möglichkeiten, als komplexen Sätzen in einer der aufgelisteten Weisen Wahrheitswerte zuzuschreiben. Ob und wie man diese Zuschreibungen benennen möchte, spielt wenig Rolle.
Wovon sind aber diese Wahrheitsfunktionen Funktionen? Wir wissen immer noch nicht, was ein Satz eigentlich ist.
5 Der Satz ist eine Wahrheitsfunktion der Elementarsätze. (Der Elementarsatz ist eine Wahrheitsfunktion seiner selbst.)
Es bleibt also noch zu klären, was ein Elementarsatz ist:
4.21 Der einfachste Satz, der Elementarsatz, behauptet das Bestehen eines Sachverhaltes.
Auf welcher Grundlage der Satz das Bestehen eines Sachverhaltes behaupten kann, sagt 4.01: „Der Satz ist ein Bild der Wirklichkeit.“ Schlüsselbegriff – Mittelbegriff im fast Aristotelischen Sinn – ist jetzt „Sachverhalt“. Man weiß, wonach man suchen muss, die Schritte sind – beim Lesen von hinten nach vorne – einer nach dem anderen vorgegeben, man muss sie nur Sprosse für Sprosse hinuntersteigen:
2.01 Der Sachverhalt ist eine Verbindung von Gegenständen. (Sachen, Dingen.)
2 Was der Fall ist, die Tatsache, ist das Bestehen von Sachverhalten.
1 Die Welt ist alles, was der Fall ist.
Und damit ist man schließlich dort angelangt, wo Wittgenstein den Philosophen haben möchte: nichts sagen, als was die Naturwissenschaften sagen, und ein Verständnis davon haben, was das ist, was die Naturwissenschaften sagen können. Dieses Verständnis impliziert aber auch die Einsicht, dass das ohnehin alles ist, was man überhaupt sinnvoll sagen kann. Einen grundsätzlichen Unterschied zwischen naturwissenschaftlichem Sagen und sinnvollem Sagen gibt es nicht. Nebenbei hat die Lektüre auch den Anschein des Tautologischen, das Satz 1 bei mir als Jugendlicher bewirkt hat, beseitigen können: Die Welt ist alles, was der Fall ist, bedeutet – unter anderem –, dass sie keine Ansammlung von Gegenständen ist, wie auch „[d]er Satz […] kein Wörtergemisch [ist]“ (3.141), sondern strukturiert wie die Sätze strukturiert sind.
Der Tractatus liefert eine genaue Analyse der Möglichkeiten von Sprache, und insbesondere der Rolle, die die Logik darin spielt. Von hinten zu lesen anzufangen hat den Vorteil, dass die Aussagen, die man nicht verstehen kann, doch aber gleich mitteilen, wonach man suchen muss, damit man sie verstehen kann.[3] So entsteht automatisch der – richtige – Eindruck, dass man den Tractatus nur als Ganzen – als ein zusammenhängendes System von Aussagen und Definitionen – verstehen kann, nicht einzelne Sätze daraus, wie es die Aphorismen-Auffassung impliziert. (Das korrespondiert zudem dem Verständnis von Sprache, das Wittgenstein im Tractatus entwickelt: In unserem Leben begegnen uns immer zusammengesetzte Sätze, nicht Elementarsätze.
Komplexe Sätze sind also das, wo unser Verstehen ansetzen muss.) Auch jene Lesart, die in den Sätzen über die Mystik die Quintessenz des Tractatus zu erkennen meint, legt sich weit weniger nahe, wenn man den Text von hinten liest, bilden ja dann diese Sätze eher die Einleitung – einen möglichen Ausgangspunkt für die Überlegungen – als die Konklusio des Textes.
Ich möchte jetzt abschließend noch einmal zu Wittgensteins und Jakobs Leitern zurückkehren:
6.54 Meine Sätze erläutern dadurch, daß sie der, welcher mich versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie – auf ihnen – über sie hinausgestiegen ist. (Er muss sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist.) […]
Was bedeutet es, wenn man das von hinten liest? Man befindet sich zunächst, zu Beginn der Lektüre, an einer Stelle, an der man eigentlich gar nicht sein sollte, an der man erst sein sollte, wenn man den Inhalt bereits verstanden hat.[4] Keineswegs darf man sich also mit diesem Zustand zufriedengeben.
Erst am Ende der Lektüre, d.h. am Anfang, bei der Welt angekommen, findet man sich in der Lage, die Leiter wegwerfen zu dürfen. Jetzt erst darf man damit zufrieden sein, dass es „allerdings Unaussprechliches gibt. Dies zeigt sich, es ist das Mystische.“ Jede Religion muss sich daran messen lassen, ob sie jetzt noch einen Platz hat. Wittgensteins Vorstellung ist diese: Wir steigen die Leiter hinauf, werfen sie weg, das Religiöse zeigt sich, allerdings eben nicht in der Welt.
6.432 Wie die Welt ist, ist für das Höhere vollkommen gleichgültig. Gott offenbart sich nicht in der Welt.
Jakob scheint die Leiter in seinem Traum nicht wegwerfen zu sollen, sie scheint eine Verbindung zwischen Gott und dem Menschen zu stiften. Allerdings ist auch sie nicht aus jedermanns Perspektive so neutral gegenüber Aufwärts- und Abwärtsbewegung wie es in Genesis 28 heißt. Nach Luthers Auffassung steht es etwa dem Menschen keineswegs zu, selbst die Leiter hinaufzusteigen. Man könnte sogar sagen, Gott ist es schließlich, der die Leiter quasi wegwerfen kann:
Er will dich nicht so hinauff haben, sondern er koemet zu dir und hat eine Leiter, einen Weg und Brücken zu dir gemacht […] Wer klug und weise ist, der bleibe auf dieser furgesteckten Ban, Er koemet erst zu uns und wir steigen nicht ehe zu im gen Himel, sondern er wirfft den Son herunter ins fleisch. (Martin Luther, Weimarer Ausgabe 16, 144f)
Allerdings ist dieser Gott nun in der Welt.
[1] G.H. von Wright, Wittgenstein, Suhrkamp, 1990, S. 101. Hier findet man auch eine Beschreibung der Publikationsgeschichte des Tractatus mit ihren vielen Irrungen und Wirrungen.
[2] 5.1311 gibt übrigens einen Grund an, warum der N-Operator aus Wittgensteins Sicht eine gute Wahl für die Darstellung ist – aber das ist für diese Zwecke hier nur eine Marginalie.
[3] Während die Struktur des Tractatus, auch bedingt durch das System der Nummerierung, in der Regel als Baum gesehen wird, präsentiert sich der Rückweg selbst als eine Leiter, an deren Ende man – nachdem man Sprosse für Sprosse, von unerklärtem Begriff zu seiner Erklärung, gestiegen ist – auf sicherem Grund ankommt.
[4] In eine ähnliche Richtung äußert sich auch Wittgenstein selbst im Vorwort.
Rat-Blog Nr. 15/2021
One thought on “Die Leiter hinuntersteigen. Eine Leseempfehlung für Wittgensteins 100 Jahre alt gewordenen Tractatus logico-philosophicus”
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