Unbegrenzt denken – ein Nachruf auf Jean-Luc Nancy

Die Grenze und die Unbegrenztheit des Existierens sind so etwas wie Leitmotive im Leben und Forschen des französischen Philosophen Jean-Luc Nancy.[i]

Nancy ist ein Denker an der Grenze. An der Grenze des Existenziellen, des Begrifflich-Logischen und des Sagbaren. Er ist immer am Rande, ohne randständig zu sein. 1940 wird er in Caudéran/Bordeaux geboren, in seiner Kindheit in Baden-Baden, nahe der deutsch-französischen Grenze, erwirbt er sein exzellentes Deutsch, das er sich bis ins hohe Alter bewahrt. Den größten Teil seines Lebens verbringt er seit 1968 in seiner Wahlheimatstadt Straßburg im Elsass, an deren Universität er bis zu seiner Emeritierung 1991 lehrt und für die er sogar den Ruf an eine Pariser Universität ausschlägt. Obwohl er räumlich auf Distanz zu Paris bleibt, ist er immer im Gespräch.

Philosophisch ist er fasziniert von deutschen Denkern, v.a. von G. W. F. Hegel und I. Kant (Er wird mit einer Arbeit über Kants Ethik von u.a. Paul Ricœur promoviert.), von K. Marx, F. Nietzsche, E. Husserl und immer wieder von M. Heidegger. Große interdisziplinäre und internationale Rezeption erfährt sein Werk „singulär plural sein“[ii], das in eines seiner großen Lebensthemen einführt: die Gemeinschaft – „herausgefordert“, „undarstellbar“ oder „nicht verwirklicht“.[iii] Das Eigene ist nie nur bei sich, sondern wird immer schon vom Anderen affiziert, berührt, aufgeschlossen. Eine solche Sicht auf den Menschen bringt zwangsläufig eine engagierte und hochpolitische Form der Philosophie hervor: Er ist ein unermüdlicher Denker der Demokratie, der Pluralität, der Toleranz und der Befreiung.

Und sie bringt einen Philosophen hervor, der mit dem ganzen Körper denkt: Er liebt das Theater, die Musik und den Tanz – mit Leib und Seele.[iv] Nancy entdeckt und probiert immer wieder Neues aus. Seiner Kreativität und Produktivität schienen keine Grenzen gesetzt. Er ist international angesehen. Gastdozenturen führen ihn nach San Diego, Berkeley und Berlin, er hält unzählige Vorträge in ganz Europa – sofern sein gesundheitlicher Zustand es erlaubt – und wagt experimentelle Performances mit Künstler:innen. Sein breites Interesse und Schaffen wirken oft in die Gegenwartsdebatten unserer Gesellschaft hinein. Sogar in seinem letzten kleinen Buch reflektiert er noch über das „allzumenschliche Virus“[v].

2018 habe ich Nancy in Straßburg besucht. Ein kleiner, freundlich blickender Mann empfing mich leise aber sehr herzlich an der Wohnungstür und bat mich herein. In seiner hellen Wohnung, die überfüllt ist mit Kunstwerken und Büchern (selbst auf der Gästetoilette sind Bücher in Wandregalen verstaut), herrschte eine entspannte, luftige Atmosphäre. Auf seinem Balkon führten wir ein deutsch-französisches, philosophisch-theologisches Gespräch, das fast vier Stunden dauerte und in dem es keine langweilige Sekunde gab. Der Philosoph erzählte sehr offen und persönlich aus seinem Leben, welches von zwei Dingen geprägt war:

Vor allem von seinen tiefen Freundschaften zu anderen großen Denkern Frankreichs: Philippe Lacoue-Labarthe, mit dem er viele Jahre gemeinsam in Straßburg lebte und arbeitete, Jacques Derrida, von dem er das dekonstruktive Denken gelernt hat und der wiederum von ihm menschlich und philosophisch tief berührt[vi] war, Michel Foucault, Maurice, Blanchot, Gilles Deleuze u.v.m. Er hat sie alle überlebt, trotz seiner körperlichen Einschränkungen, die er durch die Anfang der 1990er Jahre erforderliche Herztransplantation erfahren musste und die er philosophisch in dem Werk „L’intru“ – Der Eindringling[vii] auf sehr persönliche Weise verarbeitet hat. Nicht nur dieses Werk kreist um die Themen der menschlichen Schwäche und der Sehnsucht nach Identität.

Seine mäandernde, meditierende, aber nie unkonzentrierte Art des Denkens verlangt den Zuhörer:innen einiges ab, denn nicht selten passiert es, dass sie abschweifen, wo er noch ganz bei der Sache ist und plötzlich einen entscheidenden Satz sagt, der alles verändern kann. Das gilt auch für die Lektüre seiner Texte. Bestimmtheit, Festlegungen und Definitionen waren nicht seine Sache, was ihm häufig negativ ausgelegt worden ist. Stattdessen wand er sich aus diesen festnagelnden Bestrebungen heraus und praktizierte wie kaum ein anderer das nackte, uneinholbare, sich selbst überschreitende und sich öffnende Denken.

Der Vorwurf, den man Philosoph:innen der Dekonstruktion gerne macht – ihr Denken sei ein reines Spiel mit Bedeutungen – geht bei Nancy ins Leere. Er bringt alles in Spiel und setzt alles aufs Spiel. Er meint es ernst. Besonders ernst ist es ihm mit der schwierigen Denkmöglichkeit eines Gottes.

In seinen Büchern, in denen er sich mit dem Christentum auseinandersetzt, begegnet einem ein Blick auf das Christentum, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen habe: unmittelbar, schonungslos und kritisch – und zugleich anregend, verstörend und überraschend.[viii] Auch hier folgt er seiner dekonstruktiven Manier, große Begriffe wie Schöpfung, Trinität oder Auferstehung mit nur scheinbar einfachen Fragen zu konfrontieren und nach und nach aufzulösen. Und so legt er seine Version des Atheismus im Christentum dar. Er eröffnet Denkräume für eine kreative und kritische Arbeit an – theologisch oftmals so selbstverständlich gewordenen – Begriffen wie Glaube, Gott und Welt. Und trägt auf diese Weise zu einem neuen unruhigen Verhältnis von Philosophie und Theologie, von Christentum und Atheismus, von Glauben und Vernunft bei. Seine Texte sind anspruchsvoll, sein Stil des Denkens ist assoziativ und kaum übersetzbar. Dennoch ist es ein großes Glück, dass seine Werke nach und nach auch in deutscher Sprache zugänglich gemacht werden. Sie erfordern ungeheure Aufmerksamkeit und Geduld, aber sie führen in ein Denken ein, das den Paradoxien und Spannungen nicht ausweicht, sondern ihnen nachspürt – bis an seine Grenzen und darüber hinaus.

Am Montag, den 23. August 2021 ist Jean-Luc Nancy gestorben. Er hat die Grenze schlechthin überschritten. Die Präsenz seiner Abwesenheit ist jetzt schon spürbar.


[i] Vgl. Jean-Luc Nancy, Ungrenze, in: Lettre International 115/2016, 16-17.

[ii] Vgl. Jean-Luc Nancy, singulär plural sein, Berlin 2012 [1996]. Die Jahreszahlen in eckigen Klammern geben das Jahr der jeweiligen Erstveröffentlichung im französischen Original an.

[iii] Vgl. Jean-Luc Nancy, Die herausgeforderte Gemeinschaft, Berlin 2007 [2001]. Jean-Luc Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, Stuttgart 1988 [1986]. Jean-Luc Nancy, Von einer Gemeinschaft, die sich nicht verwirklicht, Wien 2018.

[iv] Vgl. Jean-Luc Nancy, Corpus, Berlin 2003 [1992].

[v] Vgl. Jean-Luc Nancy, Un trop humain virus, Montrouge Cedex 2020.

[vi] Vgl. Jacques Derrida, Berühren – Jean-Luc Nancy, Berlin 2007 [2000].

[vii] Vgl. Jean-Luc Nancy, Der Eindringling/ L’Intru. Das fremde Herz, Berlin 2000.

[viii] Vgl. Jean-Luc Nancy, Dekonstruktion des Christentums, Berlin 2008 [2005]. Sowie Jean-Luc Nancy, Die Anbetung, Dekonstruktion des Christentums 2, Berlin 2012 [2010].


Bildquelle: Fana Schiefen


RaT-Blog Nr. 25/2021

  • Fana Schiefen arbeitet als wissenschaftliche Assistentin auf dem Lehrstuhl für Philosophische Grundfragen der Theologie in Münster. In ihrer Promotion „Öffnung des Christentums? Eine fundamentaltheologische Auseinandersetzung mit der Dekonstruktion des Christentums nach Jean-Luc Nancy“ hat sie sich intensiv mit dessen Werk auseinandergesetzt.