Karl Barths zweiter Römerbrief. Eine Erinnerung

Karl Barth gilt als einer der bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts. Barths wohl berühmtesten Text, die im Jahr 1922 erschienene zweite Fassung seines Römerbriefkommentars, stellt uns Christian Danz im folgenden Beitrag vor.

Vor 100 Jahren erschien Karl Barths Neubearbeitung des Römerbriefs. Es ist eines der wichtigsten und einflussreichsten theologischen Bücher des 20. Jahrhunderts. Bedeutender noch als die erste Auflage des Buches von 1919 steht es wie kein anderes für den theologischen Neuaufbruch in diesem Säkulum. In einer fulminanten Sprache, einem wahren Assoziationsfuror und Metaphernrausch, in dem es von Hohlräumen, Einschlagtrichtern und unmöglichen Möglichkeiten nur so wimmelt, deutet Barth den Römerbrief des Apostels Paulus. Zwar gibt sich der Text als Erklärung des Textes von Paulus zu erkennen, aber doch wiederum so, dass es die Intention ist, durch diesen hindurchzustoßen zu der Sache selbst, als deren Auslegung der paulinische Brief verstanden wird. Jene Sache, um die es dem Römerbrief geht, besteht in dem unendlichen qualitativen Abstand von Gott und Mensch: „Gott ist im Himmel und du auf Erden“. So eindeutig sich das Thema des Römerbriefs auf den ersten Blick auch ausnimmt, er konfrontiert seine Leserinnen und Leser mit nicht geringen Verstehensschwierigkeiten. Die Gefahr ist groß, sich im Labyrinth des barthschen Textes, seinen endlosen Redundanzen und Metaphern zu verlieren.

Verstehbar ist der Römerbrief allein vor dem Hintergrund der theologischen Debatten um 1900 und Barths eigener theologischer Entwicklung seit 1910. In seinem Kommentar arbeitet er eine neue Bestimmung der christlichen Religion aus, die sich von der zeitgenössischen Theologie absetzt. Religion versteht er nicht mehr als eine Anlage, die dem Menschen bereits mitgegeben ist. Vielmehr existiert sie ausschließlich als ein aktualer Vollzug. Sie ist, wie Barth sagt, das Ereignis des Wortes Gottes. Doch worin besteht dieses Ereignis? In nichts anderem als der Erkenntnis, dass einerseits der Mensch das allgemeine Gute, nämlich das Reich Gottes, sich nicht aneignen kann und andererseits Gott das allgemeine Gute selbst in der Geschichte realisiert. Im Hintergrund steht eine eigenwillige Deutung der Ethik Immanuel Kants, die Barth in den paulinischen Text hineinliest. Jegliche individuelle Aneignung des Willens Gottes ist dessen Verfehlung und Verfälschung durch menschliche Interessen und Zwecke. Das allgemeine Gute verwirklicht Gott allein in Jesus Christus. Barth schließt die ethische Aneignung des Willens Gottes durch den Menschen aus. Der Glaube als Aneignung des Heils besteht in der Erkenntnis, dass das Heil vom Menschen nicht angeeignet werden kann. Was im Römerbrief materialreich ausgeführt wird, ist diese reflexive Struktur des Glaubensakts. Ihn beschreibt Barth als Offenbarung des strikt transzendenten Gottes, der bleibend von der Welt unterschieden ist. Tod und Auferstehung Jesu Christi explizieren die Erkenntnis, die der Glaube ist: Gott verwirklicht sein Reich selbst.

Das Neue des zweiten Römerbriefs liegt in der vehementen Ablehnung einer religiösen Legitimierung oder Begründung des innerweltlichen ethischen Handelns. Damit kommt in der Entwicklung von Barths Theologie ein Prozess zum Abschluss, der 1914 mit seiner Kritik an der Kriegstheologie seiner deutschen akademischen Lehrer einsetzte. Jegliche Inanspruchnahme des Willens Gottes für innerweltliche Zwecksetzungen ist derjenigen Struktur verpflichtet, mit der Barths theologische Lehrer deutsche Kriegsziele legitimierten. Das betrifft nicht nur den Krieg, sondern auch den Kampf gegen den Klimawandel, die Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer, die Frage von Corona-Impfungen und anderes mehr. Innerweltliche Handlungsziele lassen sich weder religiös noch theologisch begründen. Sie unterliegen durchgehend weltlichen Gesichtspunkten und bedürfen keiner religiösen Aufladung. Diese Differenz von Gott und Welt in Erinnerung zu rufen, ist die Bedeutung von Barths zweitem Römerbrief.


Bildquelle: Rehabeam, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons


RaT-Blog Nr. 06/2022

  • Christian Danz ist Professor für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und RaT-Mitglied.