Das österreichische Islamgesetz von 1912 aus der Perspektive der Forst’schen Duldungskonzeption

Amani Abuzahra nimmt uns in ihrem Beitrag mit in die Zeit der K.-u.-k.-Monarchie und beleuchtet die Frage der rechtlichen Anerkennung des Islams unter dem heute mehr denn je aktuellen Gesichtspunkt religiöser Toleranz.

Zu Beginn des 20. Jahrhundert regelte das Islamgesetz das Verhältnis vom österreichischen Staat zu seinen muslimischen Bürger*innen. Nach fast 100jährigem Bestehen wurde im Jahr 2015, begleitet von einem starken Medienecho, ein neues Islamgesetz erlassen[1].

Dieser Blogbeitrag beleuchtet das Gesetz aus einer toleranzphilosophischen Perspektive, die sich auf Rainer Forst beruft. Dabei wird der Rechtsstatus anhand der Duldungsvariante analysiert. Forst hat ein normatives Fundament der Toleranz erarbeitet und liefert zugleich eine solide Basis, die die Grenzen der Toleranz aufweist und kategorisiert. Er unterteilt seine Toleranztheorie, basierend auf einer historischen Aufarbeitung, in vier verschiedene Konzeptionen, die eine strukturierte Abstufung innerhalb des Toleranzverständnisses zulassen. Die erarbeiteten Konzeptionen beziehen sich „alle auf den politischen Kontext eines Staates, in dem die Bürger (als Mitglieder partikularer Gemeinschaften) normativ bedeutungsvolle, tiefgreifende Differenzen aufweisen“ (Forst 2012:42).

Zur Kontextualisierung des Textes dient folgender Hinweis, dass in diesem Artikel lediglich Teilaspekte beleuchtet werden. Im Rahmen der Forschungsarbeit wurden beide österreichischen Islamgesetze von 1912 und 2015 auf ihren Rechtsstatus sowie Toleranzgehalt nach der Forst’schen Konzeption untersucht. Nachdem Gesetzgebungsverfahren und Novellierungen keine singulären Ereignisse sind, sondern einer Kontextualisierung bedürfen, wurde die Darlegung beider Gesetze im spezifischen politischen Kontext berücksichtigt. Die Narrative, Machtverhältnisse sowie geopolitischen Strategien wurden zusätzlich zum philosophisch-analytischen Blick beleuchtet. Anhand der toleranzphilosophischen Analyse wurde ein auf den Gesetzestexten von 1912 und 2015 basierender Vergleich vorgenommen, um zu eruieren, ob das Toleranzgefüge des rechtlichen Rahmens beider, die zudem den Zeitraum eines ganzes Jahrhunderts umspannen, als ein Kontinuum der bisherigen Habsburger Toleranzpolitik oder als Wendepunkt zu deuten ist.

In diesem Blogbeitrag allerdings steht ein Teilaspekt im Fokus unter folgender Fragestellung:

Wie lässt sich das Entstehungsumfeld und Zustandekommen des Islamgesetzes von 1912 aus toleranzphilosophischer Perspektive der Erlaubniskonzeption deuten?

Toleranz & Erlaubnis-Konzeption:

Toleranz unter der Erlaubniskonzeption wird als vertikal und als eine Minimalanforderung kategorisiert (vgl. Forst 2000:124). Eine Autorität erteilt Minderheiten das Recht und die Möglichkeit, ihre religiös-kulturellen Einstellungen zu leben, unter Bedingungen, die von jener Seite festgelegt werden, die die Machtposition innehat. Die verschiedenen Komponenten Ablehnung, Akzeptanz und Zurückweisung, die sich auf die moralische, religiöse oder pragmatische Ebene beziehen, gehen von den Herrschenden aus, während die Untertanen oder Bürger*innen lediglich geduldet werden. Die Gefahr, die hier neben Diskriminierung besteht, ist, dass diese Form der Toleranz zu einem Instrument der Macht wird, indem Minderheiten unter Kontrolle gehalten werden: Solange sie die Herrschenden nicht in Frage stellen und ihren untergeordneten Status akzeptieren, sind sie sicher.

Duldung muslimischer Bosniak*innen:

Das Machtgefälle, das eines der Hauptkriterien dieser Duldungsvariante darstellt, ist mit den Habsburgern als Autorität gegenüber einer Minderheit[2], den muslimischen Bosniak*innen, gegeben. Der Ausgangspunkt der Machtübernahme von Bosnien und Herzegowina durch den österreichisch-ungarischen Kaiserstaat stellte die Okkupation im Jahr 1878 dar. Mit diesem Zeitpunkt fielen zum ersten Mal muslimische Untertanen unter das Regiment der Donaumonarchie und es begann eine Religionspolitik in Form einer „Orientpolitik” (Ruthner 2018:3).  

Nachdem das Habsburgerreich im Selbstverständnis ein Imperium ist, steht es für die Autorität des beschriebenen Kriteriums der Erlaubniskonzeption und für den bosnisch-herzegowinischen Teil einer Minderheit. Zusätzlich zu den klassischen Machtinstrumenten der Okkupation (1878) und später erfolgten Annexion (1908) sind der geleistete militärische Widerstand gegen die Habsburger als neue Besatzungsmacht Indizien für das Machtgefälle. Der Beginn der Besatzung war von Kampfhandlungen und direktem Machteinsatz gekennzeichnet.

Okkupation und Widerstand:

Die Besetzung stieß auf heftigen Widerstand seitens der betroffenen muslimischen Bosniak*innen, die sich gegen die Besatzungsmacht wehrten. Das kostete die Donau-Monarchie einen hohen Einsatz militärischen Aufgebots und daher finanzielle und personelle Ressourcen (vgl. Wertheimer 1913:15).

Zusätzlich zu den Kampfhandlungen kam es unmittelbar nach der Okkupation 1878 zur Flucht von insgesamt 15.000 Muslim*innen, die ins Osmanische Reich flüchteten. Die Auswanderungsbewegung war ein klares Zeichen des Protestes und belegt das Machtgefälle. Die Landesregierung versuchte die Fluchtbewegung zu unterbinden, indem die Genehmigung zur Auswanderung erschwert wurde (vgl. Neumayer 1995:52). Zugleich war die Landesregierung darauf bedacht, keine Gewalt gegen Flüchtlinge anzuwenden und für eine ruhige Atmosphäre zu sorgen (vgl. Landesregierung 1909).

Das Machtgefälle in diesem politischen Kontext ist als ein komplexes Geflecht des Regierens, indem Toleranz als Strategie zur Ausübung von Macht gewählt wird, zu verstehen.

Mit der erfolgten Okkupation der Region Bosnien und Herzegowina wurde die direkt-repressive Form der Machtdemonstration eingeschränkt und die „friedlichere“ Phase der Duldung eingeleitet. Dies entsprach dem bisherigen Regieren der Habsburger, Toleranz als Strategie des Herrschens im Gegensatz zur direkten Intervention anzuwenden. Die Mittel der Habsburger der damaligen Regierungsphase sind primär jene der „Freiheitssteuerung“ und nicht „der direkten Repression“ (Forst 2012:442).

Militärwesen als Beispiel der habsburgischen Toleranzpolitik

Die Eingliederung in das Militär erfolgte im Jahr 1881, basierend auf einem provisorischen Wehrgesetz, und war einer der ersten Schritte nach der Okkupation, die das Habsburgerreich gegenüber den neu gewonnenen Untertanen setzte.  Es wurden Veränderungen im Wehrgesetz vorgenommen, sodass Muslime 1882/3 rechtmäßig in die kaiserliche Armee eingezogen werden konnten (vgl. Šuško 2017:8).

Der Aufnahme der Muslime in die k.u.k. Armee gingen umsichtige Vorbereitungen voraus. Mit Fragebögen, die in ganz Europa verschickt wurden, wurde eruiert, wie mit Muslimen im Heer umzugehen sei (vgl. Neumayer 1995:81). Das resultierte in folgendem Umgang mit den muslimischen Soldaten: An islamischen Feiertagen (Freitag, drei Tage zum Ramadanfest und vier Tage zum Opferfest) hatten muslimische Soldaten frei. Des Weiteren wurden sie mit Halal-Essen versorgt und bekamen dafür eigens gekennzeichnetes Kochgeschirr zur Verfügung gestellt mit dem Zusatzverweis an alle, dass Rücksicht darauf zu nehmen ist, dass Muslime weder Schweinefleisch und -fett noch Alkohol zu sich nehmen. Ihre gottesdienstlichen Handlungen konnten sie unter Begleitung eines Militärimams durchführen.

Dieses Vorgehen übersteigt gewissermaßen die Erlaubniskonzeption, wenn derart Rücksicht auf die anders gelagerten religiösen Bedürfnisse genommen wird. Mit der Rücksichtnahme auf die religiösen Bedürfnisse sowie Gewährleistung der Religionsfreiheit gelang es, die Loyalität der muslimischen Soldaten gegenüber dem Habsburgerreich zu sichern. Die rasche Rekrutierung der muslimischen Soldaten und somit die Beteiligung an der Ordnung des öffentlichen Lebens erzeugte loyale Untertanen. Toleranz als Strategie wird hier mit einer dosierten Freiheitsgewährung gemäß der Disziplinierung gepaart.

Es reiht sich zwar in die Toleranzpolitik als Machtpolitik ein, entspricht aber dennoch in gewissen Zügen Toleranz als Wert an sich, dass so tiefgehend recherchiert wird, um den Bedürfnissen der muslimischen Soldaten gerecht zu werden. Es lässt sich auch als Zeichen der diplomatischen Form des Regierens der Habsburger deuten, da sie dem diplomatischen und völkerrechtlichen Status gemäß des internationalen Grundrechtstandards einhalten wollten.


Mag.a Dr.in Amani Abuzahra, M.A. ist promovierte Philosophin. Derzeit forscht sie als Post-doctoral Researcher am Institut Interdisziplinäre Forschungsstelle Islam und Muslim*innen in Europa (IFIME) der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien.


Fußnoten:

[1] Ursprünglich war das Ziel, das Islamgesetz von 1912 zu novellieren.

[2] Der Fokus des vorliegenden Artikels ist die muslimische Gruppe der Bosniak*innen. Die religiöse Zusammensetzung Bosnien und Herzegowinas war damals 40% serbisch-orthodox, 1/3 Muslim*innen und ¼ katholische Kroat*innen.


Quellenangaben:

  1. Forst, Rainer (2000): Toleranz – Philosophische Grundlagen und gesellschaftliche Praxis einer umstrittenen Tugend, in: Forst, Rainer (Hrsg.): Theorie und Gesellschaft, Band 48, Frankfurt/New York, S.7-25.
  2. Forst, Rainer (2012): Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
  3. Landesregierung (1909): Bericht der Landesregierung an das gemeinsame Finanzministerium vom 30.November 1909, Kriegsministerium Präsidium 81 – 7/14 ex 1909.
  4. Neumayer, Christoph (1995): Der Islam in Österreich-Ungarn 1878-1918. Neuordnung der muslimischen Kultusverwaltung in Bosnien – Muslime in der k.u.k. Armee – Muslime in Wien und Graz, Diplomarbeit, Universität Wien.
  5. Ruthner, Clemens (2018): Habsburg’s only colony? Bosnia-Herzegovina and Austria-Hungary, 1878-1918, De Gruyter, S.1-14, https://doi.org/10.2478/seeur-2018-0002 [Online abgerufen am 10.06.2021].
  6. Wertheimer, Eduard von (1913): Graf Julius Andrássy: Sein Leben und seine Zeit, Vol. 3, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt.

RaT-Blog Nr. 10/2022

  • Mag.a Dr.in Amani Abuzahra, M.A. ist promovierte Philosophin. Derzeit forscht sie als Post-doctoral Researcher am Institut Interdisziplinäre Forschungsstelle Islam und Muslim*innen in Europa (IFIME) der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien.