„johannes: dass doch nicht auch das entsetzen der anfang sei, der das wort ist!“ Zum 70. Geburtstag des Dichters Franz Josef Czernin

Der bedeutende und vielfach geehrte österreichische Dichter Franz Josef Czernin[1] feiert heuer seinen 70. Geburtstag. Aus diesem Anlass hat im Kunsthaus Mürz ein Symposion zu seinen Ehren stattgefunden, bei dem Dichter:innen, Literaturwissenschaftler:innen und Philosoph:innen über ihn und mit ihm geredet haben. (Informationen gibt es hier. Die Vorträge sind auf youtube zu finden). Er selbst hat bei dieser Tagung vor allem über seine derzeitige Beschäftigung mit Dantes Divina Commedia vorgetragen; Esther Heinrich-Ramharter hat sich daraufhin erlaubt, ihn zum Göttlichen zu befragen.

E. H.-R.: Du schreibst jetzt schon eine Weile an Deinen „Verwandlungen“ der Göttlichen Komödie; sie stehen in einer gewissen Kontinuität mit anderen „Verwandlungen“, die Du unternommen hast, nämlich z.B. jene der Märchen der Gebrüder Grimm in Der goldene Schlüssel und andere Verwandlungen. Du verwendest für diese Dichtungen das Wort „Verwandlungen“, und nicht etwa Übersetzungen oder Transformationen – hat diese Wortwahl etwas mit dem zu tun, wie Du das verstehst, was Du dabei machst?

F. J. C.: Ja, ich nenne beides nicht zufällig „Verwandlungen“. Denn zwischen dem, wie ich mit Grimm’schen Märchen und mit Canti der Göttlichen Komödie umgehe, gibt es viele Ähnlichkeiten. Ich hätte auch in beiden Fällen von „Transformation“ sprechen können. Aber das klingt irgendwie zu bestimmt und technisch. Und von Übersetzung zu sprechen, würde den Übersetzungsbegriff über die Maßen ausweiten.

E. H.-R.: Obwohl ja Themen, die mit Religion zu tun haben, bei Dir eine große Rolle spielen – z.B. eben bei Deinem großen Projekt der Verwandlungen der Göttlichen Komödie –, hast Du bei dem Symposium  zu Deinen Ehren gesagt, Du glaubst, Du hättest in Deiner Dichtung nie das Wort „Gott“ verwendet; ich habe nachgeschaut: hast Du doch! Einer der Aphorismen aus Deinem Band das labyrinth erst erfindet den roten faden lautet:

mythos: als ob der stein, der baum, der fluss gerade ein gedicht benötigen, um ihren gott zu erkennen

Hier kommt Gott aber zugegebenermaßen nur anscheinend vor, sind doch eigentlich mehrere Götter gemeint. Scheint es Dir weniger problematisch, von Göttern zu dichten als von Gott?

F. J. C.: Ich weiß gar nicht, ob ich nicht ohnehin manchmal von oder über Gott oder sogar über Götter dichte. Das Schwierige ist für mich die wörtliche Benennung. Über manche Dinge kann man nur dann dichten, glaube ich, wenn man sie nicht wörtlich benennt. Das liegt vielleicht daran, dass man eine textbedingte Erfahrung solcher Dinge, wenn überhaupt, nur dann evozieren kann, wenn man sie nicht wörtlich benennt. Gerade in Gedichten und in vielen poetischen Kontexten scheint mir die wörtliche und daher meist vertraute und gewohnte Bezeichnung erfahrungshindernd oder -schwächend. Der Aphorismus, den Du zitierst, wäre mir eher peinlich, wenn wirklich der eine Gott gemeint wäre.

E. H.-R.: Noch eine weitere Nachfrage dazu. Aus dem Band habe ich folgende Aphorismen zusammengesammelt:

johannes: dass doch nicht auch das entsetzen der anfang sei, der das wort ist!

adam: was für ein augenblick, da der begriff des menschen und ein mensch voneinander geschieden werden

beatrice: dass doch dieser mensch leibhaft auf seinen namen übertragen werde und in seiner wörtlichen gestalt auferstehe!

logos: jedes wort, das du gebrauchst, weiss dann alles von dir, wenn du alles von ihm weißt[2]

religion: je süsser der apfel, umso bitterer werde ich mir selbst

die frucht des verbotes, den gegenstand darzustellen, ist entweder die bestmögliche oder die schlimmstmögliche gestalt, die der gegenstand annehmen kann

Bei so viel Rede von Gott, und zwar vom (jüdisch-)christlichen Gott, welche Rolle spielt es da, ob Du den Ausdruck „Gott“ verwendest? (Hat es etwas mit dem zu tun, was Du auch einmal als Aphorismus formulierst: „ein name drückt nichts als den zufall aus, dem man sich verdankt“?)

F. J. C.: Ja, das Zufällige des Namens oder eher der wörtlichen Bezeichnung spielt dabei sicher eine Rolle. Und dann auch (aber vielleicht bilde ich mir das nur ein?), dass auch Aphorismen meistens wirkungsvoller sind, wenn das Wort „Gott“ nicht vorkommt. Anders: Es sind hier zumeist jüdisch-christliche Topoi, die angesprochen werden, aber in Form von Aphorismen sollen diese Topoi auch übertragbar sein. Das scheint mir leichter möglich, wenn das Wort „Gott“ nicht vorkommt. Aber ich merke gerade, dass diese meine Antwort nicht weit reicht. Es wäre auch denkbar, sich als Regel für eine Reihe von Aphorismen vorzugeben, dass in jedem Aphorismus das Wort „Gott“, den einen Gott bezeichnend, vorzukommen habe. Es wäre vielleicht interessant herauszufinden, was dann und wie es dann noch ästhetisch überzeugend gesagt werden kann. Und was ästhetisch überzeugend gesagt werden kann und was nicht, das scheint mir eine Ahnung, manchmal vielleicht sogar einen Begriff der gesellschaftlichen, historischen und mentalen Bedingungen zu vermitteln, denen wir unterworfen sind.

E. H.-R.: Der erste Aphorismus, den ich genannt habe –

johannes: dass doch nicht auch das entsetzen der anfang sei, der das wort ist! –

ist auch der erste Aphorismus des Buchs. Entsetzen ist natürlich das Thema des Inferno, und im labyrinth-Band kehrt es ebenfalls wieder:

religion: dass dieses gedicht nicht das entsetzen auslöse, das es darstellen will!

Welche Rolle spielt Entsetzen für Dich? Der zweite Teil von zungenenglisch ist ein theoretischer Aufsatz von Dir, mit dem Titel „Quidquid latet apparebit? Zu einer Poetik der Vision“. Dort schreibst Du (S. 72):

Was für eine Art von Öffentlichkeit hat aber ein Text, welcher Art ist unsere Teilhabe an ihm? Wird im Widerspruch zu der vertrauten Annahme, dass Texte keine mentalen Eigenschaften haben, doch etwas von unseren mentalen Zuständen, von unserer Freude und Trauer, von unserer Hilflosigkeit und Furcht im Text öffentlich, ja ist auch beispielsweise in der Buchstaben- oder Lautfolge sterben etwas von unserem Sterben oder Gestorbensein zu finden? […] Sind in den öffentlichen Bedeutungen von Wörtern und von Aussagen deine und meine, ja womöglich die Erfahrungen aller zu suchen?

Wenn man hier auch Entsetzen unter die mentalen Zustände einreiht, ist dann Religion, wie sie in den beiden Aphorismen beschrieben wird, ein Gegenstück zu der poetischen Veröffentlichung von mentalen Zuständen?

F. J. C.: Entsetzen und Religion: Es gibt das Entsetzliche, das Grauenvolle, und in jenem Aphorismus, in diesem Stoßgebet, hofft Johannes, dass das Grauenvolle und Entsetzliche nicht zum Wesen Gottes oder des Logos gehört. Dabei darf oder muss Johannes (toposgemäß) die Existenz Gottes voraussetzen. Also erhofft er eine Antwort auf die Theodizee-Frage, die Gott selbst sozusagen freispricht. In Aphorismen geht man aber mit Voraussetzungen eher spielerisch um. In gewissem Sinn sind auch Aphorismen Rollenprosa.

Abgesehen davon: Mir scheint es evident, dass das Entsetzen angesichts von so viel Grauen für die Poesie und deshalb auch für mich unausweichlich ist. Sind Literatur, Poesie, Kunst überhaupt nicht auch ein Versuch, mit dem Entsetzlichen umzugehen? Aber man darf, glaube ich, dabei nicht vergessen, dass man in den Künsten immer mit Zeichen umgeht. Das Entsetzen ist deshalb vor allem woanders – das ist allerdings auch kein letztes Wort. (Siehe die nächste Frage und Antwort.)

Zu dieser, Deiner Frage: Wenn man hier auch Entsetzen unter die mentalen Zustände einreiht, ist dann Religion, wie sie in den beiden Aphorismen beschrieben wird, ein Gegenstück zu der poetischen Veröffentlichung von mentalen Zuständen?

Ich bin nicht sicher; wenn ja, dann vielleicht in folgendem Sinn: Die zitierten Aphorismen und die Passage zielen auf die Möglichkeit, dass in der Poesie Darstellendes und Dargestelltes in eins fallen. – Kann eine Darstellung das Dargestellte (ihren Gegenstand) nicht auch enthalten, und kann es deshalb das Dargestellte nicht auch hervorrufen, ja mitverursachen? Vielleicht kann man bestimmte Schwierigkeiten von Religionen mit Kunstwerken auf die Angst davor zurückführen, dass eine überwältigende Darstellung von Entsetzlichem oder moralisch Verwerflichem die Teilnahme oder Teilhabe an dem Entsetzlichen (mit)verursachen kann. Diese Angst beruhte dann auf dem Glauben an eine Art Zeichenmagie.

E. H.-R.: Zum Abschluss ein leichter Themenwechsel. Ein Gedicht aus dem Band zungenenglisch. visionen, varianten, das mit „to whom the angel with contracted brow“ überschrieben ist, beginnt so:

anfänglicher stengel.

dass man gefiedert es mich wegweisen liess.

Warum interessieren Dich Engel? Weil sie ein besonderes Verhältnis zu Sprache haben?

F. J. C.: Ja, vielleicht die Idee des Boten und damit der Botschaft und des Vermittelns. Aber auch hier:  dieser Engel ist im Stengel verborgen, in botanischer Materie sozusagen. Und das Motto ist auf Englisch. Und diese partielle Homonymie entlastet und öffnet, glaube ich.


[1] Czernin schreibt vor allem Lyrik, aber auch Aphorismen und theoretische, philosophisch informierte Texte zu Poetologie. Er erhielt u.a. den Heimito-von-Doderer-Literaturpreis, den H.C.-Artmann-Preis und den Ernst-Jandl-Preis für Lyrik. Seit 2008 ist er Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

[2] Ein Hinweis auf Psalm 139?


Bildquelle: Richard Heinrich


RaT-Blog Nr. 12/2022