Brüssel, Europa und die Kirchen

Welche Rolle spielen die christlichen Kirchen in Europa und der EU? Mit dieser Frage setzte sich eine Gruppe Studierender im vergangenen Sommersemester im Rahmen eines Seminars und einer Exkursion unter der Leitung von Regina Polak und Ioan Moga auseinander. Zugleich standen Fragen nach gelebter Ökumene und sozialer Gerechtigkeit in einer diversen Stadt wie Brüssel im Zentrum. Ein Bericht von Florian Mayrhofer.

I. Politische Relevanz von Religion im heutigen Europa

Dass Religionen heute oft ein Platz jenseits der Öffentlichkeit zugedacht und sie vielfach ins Private abgedrängt werden, zeigt der Diskurs um Religion in Europa der letzten Jahrzehnte immer wieder deutlich. Der Religionssoziologe José Casanova erklärt dies u.a. mit einem verkürzten Verständnis von Säkularisierung. Säkularisierung wird dabei verstanden als „Theorie der Privatisierung der Religion als einer Voraussetzung für moderne, säkulare und demokratische Politik.“[1] Wird Religion öffentlich – wie dies beispielsweise im Zuge der Diskussion um eine neue Verfassung der Europäischen Union zu Beginn der 2000er Jahre der Fall war – führt dies häufig zu Konflikten.[2] Im Zentrum stehen dabei Fragen wie: Wieviel Religion verträgt die Öffentlichkeit? Wie sehr dürfen sich Religionsgemeinschaften im öffentlichen Diskurs und innerhalb des politischen Alltags einbringen? Dürfen Religionsgemeinschaften politische Relevanz beanspruchen? Aber auch: Welche Relevanz hat die EU für die Kirchen? Zunächst werden diese Fragen aus dem eigenen Selbstverständnis der Kirchen positiv beantwortet, weswegen heute alle großen christlichen Kirchen (die im Fokus der Exkursion standen) offizielle Vertretungen bei der EU in Brüssel haben.

II. Kirchen in Brüssel

Die römisch-katholische Kirche hat dafür seit 1980 das Büro der COMECE (Kommission der Bischofskonferenzen der EU) eingerichtet.[3] So schilderte Dr. Michael Kuhn (Senior Advisor der COMECE) im Gespräch, dass die römisch-katholische Kirche den Dialog zwischen Religionen und politischem Bereich innerhalb der EU als äußert wichtig sieht. Aus diesem Grund seien regelmäßige Kontakte zu verschiedenen Playern der EU-Institutionen essenziell. Diese helfen über neueste Entwicklungen in der EU Bescheid zu wissen, aber zugleich auch aktiv Themen aus Sicht der Kirche in den politischen Diskurs einzubringen. Hier war gerade in den vergangenen Jahren ein großes Engagement im Bereich der Flüchtlingspolitik im Fokus, aber auch ökologische Themen werden derzeit besonders betont. Dass dies intern immer wieder zu Konflikten führt, wie im Fall einer Publikation eines kritischen Artikels bezüglich politischer Entwicklungen in Ungarn, sollte nicht unerwähnt bleiben.[4] Interessant ist dabei, dass für die Arbeit der COMECE speziell drei Dokumente von Papst Franziskus besondere Bedeutung haben: Fratelli tutti, Laudato si und Evangelii Gaudium.

Im Gegensatz dazu bezieht sich eine andere Organisation, die CEC (Conference of European Churches), in ihrer Arbeit vor allem auf die Charta Oecumenica, die ökumenische Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit unter den Kirchen in Europa bereithält. Die CEC ist das Büro der Kirchlichen Vertretungen auf Europa-Ebene, ein Zusammenschluss verschiedener protestantischer und orthodoxer wie orientalischer Kirchen.[5] Gerade die Pluralität innerhalb der CEC aufgrund ganz unterschiedlicher theologischer Profile erfordert eine gemeinsame Basis. Dennoch erschwert der konfessionsübergreifende Zusammenschluss kleiner und großer Kirchen manchmal den Dialog und die Kompromissfindung, wie auch Dr. Jørgen Skov Sørensen und Katerina Pekridou (CEC Executive Secretary for Ecclesiology and Mission) zu berichten wussten.

Seit einigen Jahren haben zudem die orthodoxen Kirchen ein eigenes Büro in Brüssel, das von Vater George Valcu (Generalsekretär des Committee of the Representatives of the Orthodox Churches to the European Union – CROCEU) vertreten wird. Auch dort spielt die Frage nach Einheit und Vielfalt eine Rolle und das Finden einer gemeinsamen Linie ist angesichts der unterschiedlichen Interessen und Themen innerhalb der orthodoxen Familie nicht immer einfach. Er sieht das Komitee als Vertretung aller orthodoxen Christ*innen innerhalb der EU und definiert die Aufgabe der CROCEU primär als „Advocacy“.

Und schließlich gab es auch die Gelegenheit, das Büro der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zu besuchen und die Perspektiven auf kirchliche politische Arbeit zu erweitern. Zum einen war die EKD eine der ersten Kirchen, die ein Büro in Brüssel einrichteten, um den damaligen Prozess der Genese eines neuen EU-Vertrags besser begleiten und insbesondere die Interessen der Kirche in Bezug auf das kirchliche Arbeitsrecht in Deutschland gegenüber EU-Regelungen sichern zu können.[6] Heute sieht sich das EU-Büro zum einen als Seismograf für Entwicklungen innerhalb der EU, aber auch als Service-Stelle für die EKD selbst, indem sie diese bei EU-Ausschreibungen fachlich unterstützt.

III. Kirchen – eine Lobby?

Eine Frage wurde besonders stark diskutiert: Betreiben die Kirchen eigentlich Lobbyarbeit oder ist ihr Tun und ihre Arbeit anders zu fassen? Nicht nur unterschiedliche konfessionelle Sichtweisen trafen hierbei aufeinander, sondern auch die Frage, wie die Kirchen jeweils ihre Arbeit selbst verstehen: als Lobbying, als Advocacy, als Beitrag zum Gemeinwohl, als Dienstleistung für die Kirchen, usw. Letztendlich gibt es auf die Frage keine letztgültige Antwort. Zudem ist sie immer auch abhängig vom jeweiligen Verständnis des „Lobby-Begriffs“.[7] Denn dieser kann durchaus positiv verstanden werden, wenngleich er in der öffentlichen Wahrnehmung vor allem aufgrund der Korruption von EU-Mitarbeitern im Zusammenhang mit Lobby-Organisationen in ein schlechtes Licht gerückt wurde. Doch grundsätzlich Interessen bestimmter Gruppen – wie z.B. diejenigen von Christ*innen oder überhaupt des Gemeinwohls – zu vertreten, hat letztendlich nichts Verwerfliches an sich.

IV. Perspektive der EU-Institutionen

Natürlich durfte auch die Perspektive der EU-Institutionen auf den Dialog mit den Religionen nicht fehlen. Artikel 17 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union regelt diesen sogar rechtlich. Zumindest einmal im Jahr treffen sich Vertreter*innen der EU mit Vertreter*innen der verschiedenen Kirchen, Religionsgemeinschaften und auch Vereinigungen nichtreligiöser Gruppen. Welche ambivalente Rolle Religionen für die EU selbst spielen, zeigte dieses Treffen, das nur bedingt eine Antwort über den Austausch zwischen EU und Kirchen liefern konnte. Es scheint – und die Verortung bei den Justizagenden verstärkt diesen Eindruck – dass Religionsfragen auf EU-Ebene zunehmend verrechtlicht und die Kirchen weniger als Player in Fragen der sozialen Gerechtigkeit und ähnlichem gesehen werden. Konkret wird das Verhältnis zwischen EU und Religion bei der Frage der Bekämpfung des Antisemitismus: Wester Mejdam (EC Combating Antisemitism and Fostering Jewish Life) erläuterte uns die Strategie der EU-Kommission zur Bekämpfung von Antisemitismus und der Förderung jüdischen Lebens in der Europäischen Union.

V. Politik, Kirchen, Spiritualität

Zudem hatten wir Gelegenheit, uns bei einem Abendessen mit Prof. Johan Verstraeten von der katholischen Universität in Leuven über europäische Politik, europäische Kirchen und Spiritualität auszutauschen. Er sieht starke Tendenzen einer neoliberalen Entwicklung innerhalb der EU und verweist auf einen Ausspruch Jacques Delors (EU-Kommissionspräsident von 1985–1995) aus den 1980er Jahren: „The ‚technocrats‘ had done their work and they had done it well […] how to proceed from there? […] we need heart and soul. If in the next ten years we haven’t managed to give a soul to Europe, to give it spirituality and meaning, the game will be up.“[8] Aktuelle Entwicklungen in der europäischen Politik deuten auf die hohe Aktualität von Delors‘ Ausspruch hin.

Der Zusammenhang von Politik, Spiritualität und Ökumene wurde schließlich bei einem Tagesausflug in die Abtei Chevetogne im Süden Belgiens vertieft. Die Benediktiner-Abtei zeichnet sich besonders dadurch aus, dass die Liturgie sowohl im byzantinischen wie im lateinischen Ritus gefeiert wird. P. Antoine Lambrechts führte uns hierbei durch die beiden Kirchen wie auch die Räumlichkeiten des Klosters und betonte in seinen Ausführungen über die „Eirenische Methode“ die Wichtigkeit des Dialogs und des Zuhörens sowie von Bildung. Besonderer Ausdruck dessen ist die Bibliothek des Klosters, die viele (orthodoxe) Zeitschriften in russischer Sprache beherbergt, die sonst in Westeuropa an keiner Universität zu finden sind.

VI. Friedliches soziales Zusammenleben

Neben den religiös-politischen Fragen stellte sich auch die Frage nach einem friedlichen Zusammenleben in Europa am Beispiel einer so vielfältigen Stadt wie Brüssel. Welche Rolle(n) spielt hier Kirche für marginalisierte Gruppen? Wir besuchten dabei jenes Stadtviertel, das in der medialen Darstellung nach den Terroranschlägen in Frankreich als Keimzelle des muslimischen Extremismus bezeichnet wurde: Molenbeek. Wie weit medialer Diskurs und Realität auseinanderklaffen, wurde während der Stadtführung immer wieder deutlich. Denn Molenbeek ist kein abgeschlossenes, unzugängliches und gefährliches Stadtviertel, wie in den Medien immer wieder suggeriert wird, sondern ein Stadtteil mit reicher Geschichte, der sich derzeit im Aufbruch befindet und in dem zahlreiche soziale Aktionen – vielfach eigeninitiativ – gegründet und umgesetzt werden. Und wo sieht sich hier die Kirche?

Dass das Eintreten für die Armen in der Gesellschaft eingefordert werden muss, erklärte uns Weihbischof Kockerols, der für das Brüsseler Stadtgebiet zuständig ist. Dieses zeichnet sich nicht nur durch Vielsprachigkeit aus, sondern auch durch enorme Gegensätze zwischen Arm und Reich, wie sie an vielen Ecken Brüssels nicht zu übersehen sind. Er sieht es daher auch als wichtigen Beitrag der Kirche, den Blick besonders auf marginalisierte Gruppen – auch in Großstädten – zu werfen und sie vor lauter europäischer Tagespolitik nicht aus den Augen zu verlieren. Dies wurde, wenn auch auf andere Weise, beim Besuch der Deutschen Gemeinde in Brüssel und deren Pfarrer Wolfgang Severin deutlich. Aufgrund der Zusammensetzung der Gemeinde, in der insbesondere viele EU-Beamte beheimatet sind, zeigte sich, wie nah Gegensätze innerhalb einer Stadt sein können.

VII. Kirche im Herzen Europas

Zu guter Letzt sei noch ein gelungenes Beispiel ökumenischer Zusammenarbeit erwähnt: die Chapelle d’Europe (Europakapelle) mitten im Brüsseler EU-Viertel. Diese Kapelle, ursprünglich an einem anderen Platz der Stadt gebaut, wurde abgetragen um dem Gare Central Platz zu machen, und an ihrem heutigen Standort wieder aufgebaut. Später wurde sie an ein Projektteam ver- und letztendlich auf Betreiben verschiedener Akteure wieder zurückgekauft, um sie ihrer heutigen Verwendung als ökumenisches Zentrum und Kirche im öffentlichen Raum zuzuführen. Sie ist somit auch ein Sinnbild für die Wichtigkeit und Notwendigkeit des Engagements der Kirche(n) auf politischer und gesellschaftlicher Ebene, um der Botschaft des Evangeliums Raum zu schaffen.


Fußnoten:

[1] Casanova, J. (2009). Europas Angst vor der Religion (R. Schieder, Übers). Berlin University Press, 82.

[2] Waschinski, G. (2007). Gott in die Verfassung? Religion und Kompatibilität in der Europäischen Union. Nomos.

[3] Turner, F. (2022). The Commission of the Bishops’ Conferences of the European Community (COMECE). In G. Davie & L. Leuștean (Hrsg.), The Oxford Handbook of Religion and Europe. Oxford Press, 369–385.

[4] https://religion.orf.at/v3/stories/2759186/ [5.7.2022]]

[5] Pavlovic, P. (2022). The Conference of European Churches. In G. Davie & L. Leuștean (Hrsg.), The Oxford Handbook of Religion and Europe. Oxford Press, 354–368

[6] Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland & Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. (1995). Zum Verhältnis von Staat und Kirche im Blick auf die Europäische Union. Gemeinsame Stellungnahme zu Fragen des europäischen Einigungsprozesses.

[7] Vgl. Jackisch, S. (2019). Kirchen und EU. „Lobbyismus ist nicht prinzipiell schlecht“. In Deutschlandfunk, URL: https://www.deutschlandfunk.de/kirchen-und-eu-lobbyismus-ist-nicht-prinzipiell-schlecht-100.html [aufgerufen am 11.05.2022].

[8] Hogebrink 2015, 11ff; zit. n. Pavlovic 2022, 359.


Bildquelle: Guillaume Périgois on Unsplash


RaT-Blog Nr. 16/2022

  • Florian Mayrhofer ist Universitätsassistent (prae doc) am Institut für Praktische Theologie und promoviert im Fachbereich Religionspädagogik und Katechetik über den Zusammenhang von Digitalisierung und religiöser Bildung.