Der Klimawandel ist längst kein Zukunftsszenario mehr, sondern bereits in vollem Gange. Welche Strategien braucht es, um aus der Erstarrung zum Handeln zu kommen und welchen Beitrag kann eine engagierte Theologie dazu leisten? Zu diesen Fragen erscheint in Kürze der 21. Band der RaT-Reihe zum Thema: ‚Doing Climate Justice‘, den uns Stefan Silber im folgenden Beitrag vorstellt.
Wie „macht“ man Klimagerechtigkeit? Das klingt auf Deutsch überheblicher als im englischen Original unseres theologischen Workshops, den wir „Doing Climate Justice“ genannt hatten. Es ging um die Frage, wie eine Praxis, oder – umfassender gefragt – Praxen im Plural theologisch beschrieben werden können, die sich am Leitbild der Klimagerechtigkeit orientieren. Das baldige Erscheinen unseres Sammelbands, das auf den 10. Oktober 2022 datiert ist, gibt Anlass, auf den Workshop zurückzuschauen und mit Hilfe seiner Ergebnisse auf Entwicklungen der unmittelbaren Gegenwart zu blicken.
Seit 2008 haben inzwischen sieben Workshops zu „Befreienden kontextuellen Theologien“ vor allem im deutschsprachigen Raum stattgefunden. Auf ihnen wurden gemeinsam mit Nachwuchswissenschaftler:innen und anderen Interessierten die Entwicklungen der lateinamerikanischen Befreiungstheologie und anderer kontextueller Theologien immer im Hinblick auf ein konkretes Thema erforscht und diskutiert.
Als im Jahr 2019 ein weiterer Workshop in dieser Reihe geplant wurde, stand gerade die Bischofssynode zu Amazonien bevor, und gleichzeitig begann sich – ausgehend von Greta Thunberg – das weltweite Netz der Fridays for Future-Bewegung zu entwickeln und auf die Dringlichkeit der Auseinandersetzung mit dem Klimanotstand aufmerksam zu machen. Der Themenkomplex von Klimafragen, Gerechtigkeit und Theologie kristallisierte sich als eine zentrale aktuelle Herausforderung für die theologische Reflexion heraus und sollte zum Thema des Workshops werden. Um der Gefahr zu begegnen, sich in der akademischen Debatte allzuweit von den kritischen Anfragen der sozialen Bewegungen, die für Klimagerechtigkeit eintreten, zu entfernen, wählten wir den Titel „Doing Climate Justice“, um die Bezüge zu konkreten praktischen Handlungen, die Klimagerechtigkeit anstreben und zu verwirklichen suchen, theologisch zu deuten.
Der Workshop sollte ursprünglich im Oktober 2020 am Centre for Liberation Theologies der KU Leuven stattfinden, wurde jedoch schon zu Beginn der Coronapandemie in eine digitale Veranstaltung umgewandelt, was sich als echter Gewinn herausstellte. Vom 22. bis 24. Oktober fanden sich über sechzig Teilnehmer:innen aus aller Welt in einer Videokonferenz zusammen, um über 14 Beiträge zu diskutieren, die vorab auf einer Lernplattform (als Text, Präsentation und/oder Video) zur Verfügung gestellt worden waren. In Kleingruppen wurden die Themen des Workshops weiter vertieft. Der ursprünglich zweisprachig ausgeschriebene Workshop fand dann aufgrund der veränderten Bedingungen fast ausschließlich auf Englisch statt.
Klimagerechtigkeit „machen“: Eines der wichtigsten Themen des Workshops war die Frage, wie theologische Beiträge und ethische Maßstäbe zu einer politischen oder anderweitig transformierenden Praxis führen können, die zu einer Umsetzung von Klimagerechtigkeit beiträgt. Als zentrales Thema stellte sich dabei die grundlegende epistemologische Kritik an dominanten kulturellen Strukturen wie Anthropozentrismus, Kolonialismus und Sexismus heraus, die kapitalistisches Denken und auch westliche Theologie prägen, und denen auch in der Theologie Widerstand geleistet werden muss, um zu einem ökologischen Denken (und Handeln) zu gelangen. Auch die akademische Arbeit erweist sich so als politische Praxis im Sinn des „Doing Climate Justice“ und muss zugleich kritisiert und transformiert werden.
Das Spektrum der Beiträge reichte dabei von der theologischen Reflexion konkreter Erfahrungen aus der aktivistischen Praxis im Kampf gegen Kohleabbau in Kolumbien und in Deutschland über postkoloniale und feministisch-theologische Reflexionen bis hin zu konkreten Entwürfen für eine ökologische Theologie, Ethik und Religionspädagogik. Auch hochaktuelle Überlegungen zu den Verbindungen von Coronapandemie und Klimanotstand fanden ihren Platz. Lateinamerikanische Befreiungstheologie war dabei sowohl mit eigenen Beiträgen als auch als vielfältiges Methodenreservoir vertreten.
Das digitale Format stellte sich als weit mehr als eine Notlösung heraus, denn es eröffnete sowohl methodisch als auch im Hinblick auf die Teilnahmemöglichkeiten neue Wege. Wissenschaftler:innen aus vielen Teilen der Welt nahmen teil und trugen ihre jeweilige Sicht der Dinge vor, ohne dass über Reisekosten und eben auch die damit verbundenen Klimaschäden nachgedacht werden musste. Die Vorbereitung der Texte durch Lektüre und Kommentare auf der Lernplattform erleichterte es allen Beteiligten, an den konkreten inhaltlichen Diskussionen mitzuwirken und aufeinander Bezug zu nehmen. Auch die Einbindung multimedialer Inhalte wie Videos und Bilder erschien bei dieser digitalen Veranstaltung beinahe selbstverständlich.
Wenn nun im Oktober der Dokumentationsband des Workshops erscheinen wird, hat er an Aktualität leider nur noch gewonnen, denn die Jahre der Pandemie und die gegenwärtige Fokussierung auf den Krieg gegen die Ukraine haben sich nicht als Katalysatoren für eine fruchtbare und konstruktive Auseinandersetzung mit den dramatischen Herausforderungen des Klimanotstandes erwiesen. Dabei machen beide Ereignisse mit ihren globalen Auswirkungen darauf aufmerksam, dass auch und insbesondere hinsichtlich des Klimanotstands ein entschlossenes gemeinsames globales Handeln politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Akteur:innen dringend geboten ist. Auch Kirche und Theologie sind zu diesem Handeln nachdrücklich aufgefordert, auch wenn sie es – wenn auch in geringem Maß – bereits aktiv praktizieren. Dazu ruft auch unser Dokumentationsband auf, wenn er jetzt Verbreitung findet: Es ist möglich, und es ist auch theologisch dringend nötig, Klimagerechtigkeit „zu machen“.
Bildquelle: Markus Spiske on Unsplash
RaT-Blog Nr. 19/2022