Eine infernalische Symphonie. Teil 1 von 2

„Es war (…) um zwei Uhr nachmittags, als plötzlich die Luft so sehr verdunkelt wurde, dass nur ein mattes Dämmerlicht übrigblieb. Gleichzeitig wurde das Gebäude in allen Teilen erschüttert und in Schwingungen versetzt, sodass eingeklinkte Türen aufsprangen, schwere Einrichtungsgegenstände verschoben wurden und der Anwurf stellenweise von Decken und Wänden fiel.“

Es ist kein übernatürliches Phänomen aus einem fiktiven Werk, das hier beschrieben wird, sondern ein Extremwetterereignis, das Gregor Mendel, bekannt als Begründer der Vererbungslehre, dokumentiert und analysiert hat. Als am 13. Oktober des Jahres 1870 eine Windhose durch die Stadt Brünn fegte, befand sich Mendel in der Stiftsprälatur des Augustinerklosters in Altbrünn. Dort hatte er den größten Teil seines Lebens verbracht und stand ab 1868 als Abt vor. In den Tagen nach der Windhose war Mendel damit beschäftigt, die Windschäden im Kloster festzustellen und Reparaturen einzuleiten. Dächer, Fassaden und Umzäunungen waren teilweise oder ganz zerstört, allein in der Klosterkirche Mariä Himmelfahrt waren 1300 Fensterscheiben zu Bruch gegangen. Mendel suchte aber auch nach Augenzeugen und begutachtete den Verlauf der Schneise, die die Windhose durch die Stadt getrieben hatte, um einen Bericht darüber anzufertigen, den er mit dem schlichten Titel „Die Windhose vom 13. Oktober 1870“ versah und nicht einmal einen Monat später, am 9. November 1870, bei einem Treffen des Naturforschenden Vereins Brünn vortrug – und später in den jährlich erscheinenden „Verhandlungen des Naturforschenden Vereines Brünn“ Anfang 1871 veröffentlichte.

Seinen Vortrag gliederte Mendel in zwei Teile. Im ersten liefert er einen präzisen Bericht über den Ablauf des Extremwetterereignisses und die Beschaffenheit und Veränderung der Windhose während ihres Auftretens in Brünn. Im zweiten Teil schildert er zunächst einen Augenzeugenbericht und zieht danach seine meteorologischen Schlussfolgerungen aus dem gesamten Ereignis, indem er die Beobachtungen mit dem ihm bekannten Wissensstand abgleicht, in Beziehung zu den Erkenntnissen von anderen Wissenschaftlern setzt und weiterführende, noch zu beantwortende Fragestellungen aufwirft. Er schrieb: „Manche von den Erscheinungen, die uns an diesem Phänomen entgegentreten, lassen nach benannten physikalischen Gesetzen eine zwanglose und ziemlich sichere Erklärung zu, andere hingegen sind unserem Verständnisse noch so weit entrückt, dass sie kaum durch Hypothesen zu erreichen sind.“

Die „Windhose“ ist einer von den 13 wissenschaftlichen Beiträgen, die Mendel im Laufe seines Lebens veröffentlicht hat, und die fast alle in den „Verhandlungen des Naturforschenden Vereines Brünn“ erschienen sind. Angesichts von Mendels Bekanntheit als Begründer der Vererbungslehre mag es verwundern, dass neun dieser 13 Veröffentlichungen der Meteorologie zuzuordnen sind – und sich mit Wetterdaten beschäftigen, die Mendel gesammelt und zusammengestellt hat. Er war seit 1851 Mitglied der „K.K. Mährisch-Schlesischen Gesellschaft zur Beförderung des Ackerbaus, der Natur- und Landeskunde in Brünn“, in der er sich vor allem im Bereich der Botanik und der Veredelung von Pflanzen engagierte. Aus dieser Gesellschaft ging der „Naturforschende Verein Brünn“ hervor, den Mendel mit einer Reihe angesehener Wissenschaftspersönlichkeiten seiner Zeit, darunter auch der Astronom und Mykologe Gustav Niessl, gründete. Niessl war derjenige, der die meteorologischen Forschungen angeregt hatte, Mendel übernahm die Verarbeitung der Wetterdaten. Ab dem Jahr 1857 begann er dann selbst Wetterdaten zu sammeln.

Sein erster meteorologischer Bericht mit dem Titel „Bemerkungen zu der graphisch-tabellarischen Übersicht der meteorologischen Verhältnisse von Brünn“ erschien in Band 1 der „Verhandlungen des Naturforschenden Vereines Brünn“ und gibt eine Übersicht über Wetterdaten aus Mähren und Schlesien der zurückliegenden 15 Jahre. Gemessen wurden Temperatur, Windrichtung, Windstärke, Grad der Bewölkung, Niederschlagsmenge und die Zahl der Regen- und Gewittertage. Wie bei der Vererbungslehre verstand es Mendel möglichst viele Messdaten zu verknüpfen und Schlüsse daraus zu ziehen. Das entsprach seinem Credo als Datensammler, war er doch ein geradezu manischer Empiriker. Die methodischen Grundlagen hatte er an der Universität Wien erlernt.

Dass er nie den Studienabschluss geschafft hatte – trotz absolvierter Studien und zweier Antritte zur Abschlussprüfung – ist seltsam, und die genauen Gründe sind bis heute nicht ganz geklärt. In manchen Biografien ist von Prüfungsangst die Rede. Mendel solle Ruhe zum Arbeiten gebraucht und Druck vermieden haben. Bei seinem zweiten Antreten 1856 jedenfalls, dürfte das negative Abschneiden andere Gründe gehabt haben. Sein Prüfer, Eduard Fenzl, lehnte die von Mendel vorgebrachte These – wonach das Prinzip der Fortpflanzung in der Verschmelzung einer weiblichen und einer männlichen Zelle besteht – vehement ab. Mendel wusste, dass er richtig lag, musste sich jedoch fügen und konnte deshalb nie den Status einer vollwertigen Lehrperson erreichen – und das, obwohl ihm das Unterrichten besonders lag.  Es ist eine Ironie des Schicksals, dass Mendel, dem ein akademischer Abschluss zeitlebens verwehrt bleiben sollte, seine Erkenntnisse immer zuerst seinen Schülern präsentierte und ein so beliebter und guter Lehrer war, dass einige seiner Schüler selbst namhafte Wissenschaftler wurden – und ihm bis zum Lebensende verbunden blieben.

Das negative Erlebnis an der Universität Wien dürfte Mendel jedoch nicht entmutigt, sondern motiviert haben, das jahrelange, Geduld fordernde Projekt seiner Vererbungslehre aufzunehmen. Insgesamt kultivierte er über den Zeitraum von acht Jahren fast 30.000 Erbsenpflanzen und führte an die 10.000 Kreuzungen durch. Das Augustinerkloster bot ihm die Ruhe und auch die Infrastruktur dazu. Abt Kyrill Napp hatte Mendels Talent sofort erkannt und ihn bei seinen Forschungen unterstützt, sowohl was die dafür nötige Infrastruktur als auch was die Aufgabenverteilung im Kloster betraf. Nach dessen Tod wurde Mendel jedoch selbst Abt, musste mit seinen zeitlichen Ressourcen strenger haushalten, betrieb aber weiterhin seine meteorologischen Messungen. Es frustrierte ihn, dass seine Forschungen zur Vererbungslehre so wenig Resonanz brachten und schließlich für ihn ins Leere liefen, denn sein wissenschaftliches Umfeld – er korrespondierte etwa mit dem Schweizer Botaniker Carl Wilhelm von Nägeli – konnte sie nicht richtig einordnen.

Für seine meteorologischen Studien hatte Mendel zumindest dankbare Abnehmer. Die „k.k. Akademie der Wissenschaften“ in Wien etablierte 1848 ein Netzwerk von Wetterstationen. Drei Jahre später wurde die „k.k. Centralanstalt für Meteorologie und Erdmagnetismus“ als erste Einrichtung dieser Art weltweit gegründet. Mendel trat 1869 der Österreichischen Gesellschaft für Meteorologie bei. Dreimal täglich schritt er, bis zu seinem Tod, die Messstationen ab und sammelte Daten: „Die Thermometer waren an der Nordseite des zur Kirche parallelen Klostertraktes im ersten Stock angebracht. Das Maximum. Und das Minimumthermometer war im ,Bienengarten‘, am Pfeiler einer Laube gegen Nord befestigt, der Regenmesser befand sich im Prälatengarten“, berichtet sein Biograf Hugo Iltis. Neben diesen Basisdaten erhob Mendel aber noch eine Reihe weiterer Daten wie den Ozongehalt in der Luft und den Grundwasserstand. Zudem beobachtete er mit einem Teleskop Sonnenflecken, die er in vorgezeichnete Sonnenscheiben eintrug.

Mendel blieb zeitlebens ein Aufklärer, war von einer großen Neugier getrieben und schreckte nicht vor der Komplexität seiner sich verändernden Gegenwart zurück. In der Wissenschaft sah er einen praktischen Nutzen, was Landwirtschaft und Gesundheitswesen betraf. Er versuchte etwa, Zusammenhänge zwischen der Ausbreitung der Cholera, die auch Brünn traf, und dem Grundwasserspiegel herzustellen. Obwohl Mendel zu Lebzeiten nicht Teil eines größeren wissenschaftlichen Diskurses war, kannte er die maßgeblichen Forscher seiner Zeit und deren Erkenntnisse. Er verschlang alle Schriften von Charles Darwin, machte sich Notizen in dessen Büchern. Im Jahr 1863 besuchte er die Londoner Weltausstellung, wo er theoretisch Darwin hätte treffen können. Es ist schade, dass es nie zu diesem Treffen gekommen ist, denn der Evolutionsbiologe wäre in der Lage gewesen, Mendels revolutionäre Erkenntnisse in der Vererbungslehre richtig einzuordnen und zu verstehen.


Ein längerer Essay zu diesem Thema findet sich im Buch „Gregor Mendel. Die Windhose vom 13. Oktober 1870. Mit einem Essay von Erwin Uhrmann und Illustrationen von Johanna Uhrmann“, erschienen im Limbus Verlag, Innsbruck, 2020.

Johanna Uhrmann hat den Verlauf der Windhose in Brünn, gemäß den präzisen Beschreibungen Mendels, kartiert und illustriert. Von ihr stammen auch die Illustrationen von Mendels Versuchsgarten im Augustinerkloster, von seinem Bienenhaus, seinen Messinstrumenten und seiner Brille und eine Stadtansicht der aufstrebenden Industriestadt Brünn. Einige der in den Illustrationen vorkommenden Objekte, wie die Brille und die Messgeräte, befinden sich im Mendel Museum in Brünn.


Johanna und Erwin Uhrmann haben gemeinsame eine Reihe von Reisebüchern publiziert. Darunter: „111 Orte im Waldviertel, die man gesehen haben muss“ (Emons Verlag, 2018), „111 Orte in der Wachau, die man gesehen haben muss“ (Emons Verlag, 2019), „Von der Moldau zur Thaya. Südböhmen und Südmähren erleben (Styria, 2020), „Wanderlust Welterbesteig. Auszeit in der Wachau“ (2022, Amalthea).  


Literaturverzeichnis (Teil 1 und 2):

Brünn, Teil II: Beiträge ehemaliger Schüler der Lehranstalt, Verlag der Schülerlade der deutschen Oberrealschule, Brünn, 1902, S. 225 bis 234.

Goethe, Johann Wolfgang von: „Feiger Gedanken“, in: Lila. Singspiel, 1777, 2. Aufzug, 2. Szene. Einzeln ist der Text abrufbar unter: https://www.aphorismen.de/gedicht/536.

Iltis, Hugo: Gregor Johann Mendel. Leben Werk und Wirkung. Mit 59 Abbildungen im Text und 12 Tafeln. Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg Gmbh, 1924.

Litschmann, Tomáš; Rožnovský, Jaroslav: Meteorological measurements in the St.Thomas ́s Abbey in Brno. Online abrufbar unter: http://www.cbks.cz/SbornikBrno14/LitschmannRoznovsky.pdf.

Mendel, Gregor: Bemerkungen zu der graphisch-tabellarischen Uebersicht der meteorologischen Verhältnisse von Brünn. Vorgelegt in der Sitzung vom 14. Jänner 1863, in: Verhandlungen des Naturforschenden Vereines Brünn, Band 1, S. 246-249.
Online abrufbar unter: https://www.zobodat.at/pdf/Verh-naturf-Ver-Bruenn_01_0246-0249.pdf.

Mendel, Gregor: Versuche über Pflanzenhybriden, Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, S. 14, kommentiert von Franz Weiling, Springer Fachmedien, Wiesbaden GmbH, 1970.

Richter, Oswald: Johann Gregor Mendel wie er wirklich war. Neue Beiträge zur Biographie des berühmten Biologen aus Brünns Archiven, mit 31 Abbildungen im Texte. Verhandlungen des Naturforschenden Vereines in Brünn, Band 74, Brünn, 1942.
Online abrufbar unter: https://www.zobodat.at/pdf/Verh-naturf-Ver-Bruenn_74_0001-0262.pdf.

Setvák, Martin; Šálek, Milan; Munzar, Jan: Tornadoes within the Czech Republic: from early medieval chronicles to the “internet society”, in: Atmospheric Research 67–68, 2003, S. 589–605.

Brünn, in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen in Europa (Ome-Lexikon), Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Online abrufbar unter: https://ome-lexikon.uni-oldenburg.de/orte/bruenn-brno.


Bildquelle: © Johanna Uhrmann


RaT-Blog Nr. 22/2022

  • Erwin Uhrmann ist Autor und lebt in Wien. Von ihm erschienen mehrere Romane, zuletzt „Toko“ (Limbus Verlag, 2019), und Lyrikbände, zuletzt „K.O.P.F.“ (gemeinsam mit Karlheinz Essl, Limbus Verlag, 2021). Er ist Herausgeber der Reihe „Limbus Lyrik“ und Redakteur im „Spectrum“ der Tageszeitung „Die Presse“.

  • Johanna Uhrmann ist Grafikdesignerin, Autorin, Fotografin und Kunsthistorikerin und lebt in Wien. Sie gestaltet Kunstkataloge und Kunstbücher für Museen sowie Bücher und Zeitschriften.