Erkundungen von Grenzsituationen auf biblischem, ethischem und interreligiösem Terrain beschäftigen RaT im August – und zwar aus feministisch-theologischem Blickwinkel. Vorausblickend auf die 17. Internationale Konferenz der „European Society of Women in Theological Research“ (ESWTR) gibt Agnethe Siquans, Organisatorin der Tagung, einen Einblick in vier Themenfelder der Tagung.
Das utopische Potential von Migration: Grenzerfahrungen, Träume und Sehnsüchte von Migrantinnen
Inspiriert von Vilém Flusser entwickelt Regina Polak (Universität Wien, RaT-Mitglied) eine potentialorientierte Sicht auf Flucht und Migration und zeigt deren gesellschafts- und politikkritische Dynamik. Grundlage dafür ist zum einen die Studie „Unzeitgemäße Utopien. Migrantinnen zwischen Selbsterfindung und Gelehrter Hoffnung“ der Pädagogin, Psychologin und Politologin Maria do Mar Castro Varela, die darin Grenzerfahrungen, Träume und Sehnsüchte von 17 Migrantinnen der zweiten und dritten Generationen in Deutschland auf ihr utopisches Potential hin befragt hat. Dabei wurde sichtbar, wie eng Grenzerfahrungen, migrantische Praxen und utopisches Denken miteinander verwoben sind.
Die Ergebnisse der Studie Castro Varelas ermöglichen es, deutlich(er) wahrzunehmen, dass und wie sehr Flucht und Migration eine, wenn nicht die zentrale Quelle des biblisch bezeugten Glaubens sind. Der ethische Monotheismus und seine damit verbundenen Verheißungen einer gerechten Gesellschaft wurden in zentralen Texten des Alten Testaments maßgeblich Migrationserfahrungen abgerungen. Auch im Neuen Testament bildet Migrationshermeneutik eine Matrix, in die viele Glaubenserfahrungen eingetragen werden.
Auf der Basis dieser biblischen Theologien der Migration hat das katholische Lehramt mit der Instruktion Erga migrantes caritas Christi 2004 eine soteriologisch-eschatologisch orientierte Hermeneutik der zeitgenössischen Migrationen entwickelt. Migration wird in diesem Schreiben als „Zeichen der Zeit“ betrachtet, das die Begegnung mit Gott eröffnen kann – sofern sich diese Wahrnehmung mit sozialer Gerechtigkeitspraxis, dem Einsatz für Frieden und der Verkündigung des Evangeliums verbindet. Dazu ist es nötig, dass Flucht und Migration nicht nur als technisch zu bewältigendes Sozialprojekt, sondern als locus theologicus in den Blick kommt: als glaubens- und theologiegenerativer Ort. Dies geschieht heute schon überall dort, wo Christinnen und Christen – in Gemeinden, in der Caritas, in Ordensgemeinschaften, in kirchlichen Kindergärten und Schulen – von und mit Migrantinnen und Migranten lernen und leben.
Können Frauen im interreligiösen Dialog sprechen? Zur (Un-)Möglichkeit einer authentischen Repräsentation – künstlerische Reflexionen und theologische Implikationen
Im Anschluss an Gayatri Spivaks bahnbrechenden Aufsatz „Can the subaltern speak?” stellt Judith Gruber (Loyola University New Orleans) die Frage, ob und wie Frauen im interreligiösen Dialog sprechen können. Sie entwickelt eine Antwort auf diese Frage mittels einer Analyse des Films „Submission“ von Theo van Gogh und Ayaan Hirsi Ali und der Video-Installation „Love Story“ von Candice Breitz, die für die Ausstellung „Ponderosa“ im Kunstmuseum Stuttgart 2016 entwickelt wurde. Beide Werke erheben Fragen von Repräsentation und Handlungsmacht marginalisierter Personen und können daher wertvolle Hinweise für die Einschätzung der Rolle von Frauen im interreligiösen Dialog geben. Sie verleihen ausgeschlossenen Menschen in ganz verschiedener Art eine Stimme.
Indem Gruber diese ins Gespräch mit theoretischen Reflexionen über Frauen im interreligiösen Dialog bringt, versucht sie, mögliche Positionen von Frauen im Feld des interreligiösen Dialogs zu kartieren. Welche Position Frauen (und Männer) in diesem Feld einnehmen, entscheidet sich entlang geschlechtlicher, rassifizierter und religiöser Differenzierungen. Dabei spielt die Frage eine große Rolle, welche spezifischen Sichtweisen sich für Marginalisierte eröffnen können, die privilegierten Gruppen meist verschlossen bleiben müssen. Insofern Frauen im interreligiösen Dialog in einer Weise zu sprechen beginnen, dass sie patriarchale Exklusionen überwinden – wenn Frauen also nicht mehr Objekte, sondern Subjekte im interreligiösen Dialog sind –, müssen sie weiterhin Mechanismen ungleicher Verteilung kritisieren, die stillschweigend die Politik der Repräsentation im interreligiösen Dialog lenken. Wenn interreligiöser Dialog am Schnittpunkt von männlichem, weißem und christlichem Privileg stattfindet, müssen Frauen Androzentrismus, Ethnozentrismus/Rassismus und Christozentrismus dekonstruieren.
Exil und Gendering der Religion in der Hebräischen Bibel
Madhavi Nevader (University of St Andrews) geht dem Verschwinden und den Spuren der Göttin(nen) im Alten Testament nach. Die „orthodoxe“ Religion der Hebräischen Bibel ist in ihrem altorientalischen Kontext einzigartig aufgrund des Fehlens einer Göttin. Wo die biblischen Texte von einer Göttin sprechen, sei es Aschera, Astarte, Anat oder die Himmelskönigin, wird sie durch die schmähende Stimme der Propheten oder Geschichtsschreiber im Dienste mono-maskulinen göttlichen Mythos der Hebräischen Bibel tradiert. Der archäologische Befund allerdings zeichnet ein anderes Bild. Aus diesem kann erschlossen werden, dass die JHWH-Verehrung tatsächlich die legitime Verehrung einer weiblichen Gottheit beinhaltete. Derselbe Befund zeigt aber auch, dass nach dem Babylonischen Exil die Verehrung einer Göttin aus der materiellen Kultur verschwindet, so wie sie scheinbar auch aus den Schriften des perserzeitlichen Jehud verschwindet. Nevader fragt danach, wie und warum das Exil das Ende eines legitimen Kontextes für die Verehrung einer Göttin bedeutete, und – unter der Voraussetzung, dass Gottheiten bestimmte (kosmologische) Funktionen in einer Gesellschaft erfüllen – wie die Hebräische Bibel dem Verlust der Göttin(nen) Israels Rechnung trägt.
Im 6. Jhdt. v. Chr., nach dem Exil, findet eine Transformation der Göttin statt. Tikva Frymer-Kensky weist auf eine parallele Entwicklung in allen Religionen des Alten Orients zu dieser Zeit hin: Mit dem Aufstieg von Staatskunst und Imperium treten alle männlichen Gottheiten in den Vordergrund und usurpieren Rollen, die einst von einer Göttin eingenommen wurden. In dieser Logik übernimmt auch JHWH die Sprache und die Funktionen, die mit den verschiedenen levantinischen Göttinnen assoziiert wurden. Außerdem trugen das Babylonische Exil und die religiöse Transformation zum Monotheismus, die Israels Überleben sicherstellte, zum Ende der erlaubten Verehrung einer weiblichen göttlichen Figur bei.
Monotheismus wirft aber mehr Fragen auf, als er löst, vor allem: Wohin verschwand die Göttin? Nevader sucht in der Hebräischen Bibel nach ihren Spuren und findet diese in fünf Gestalten: Frau Weisheit, Debora, Jaël, Ester und Judit. Alle tragen Charakteristika, die einst der Göttin zugeschrieben wurden, und handeln auch in entsprechender Weise. Die frühere kosmologische Funktion der Göttin findet sie in Frau Weisheit und Frau Torheit im Sprichwörterbuch sowie in Eva, der superlativen Figur des Anders-Seins.
Mensch Sein an der Grenze – Verwundbarkeit als Herausforderung für theologische Ethik heute
Angelika Walser (Universität Salzburg) betrachtet Grenzerfahrungen als die Herausforderung für die Autonomie des Menschen. Es gibt Momente, in denen Menschen sich selbst als autonom und verwundbar zugleich erleben. Ein moralisches Subjekt muss eine autonome Entscheidung treffen, um der Verwundbarkeit zu entkommen, und zugleich ist es genau dieser Moment der Autonomie, in dem der Mensch in höchstem Maße der Verwundbarkeit ausgesetzt ist. Aufgrund der Entwicklung einer High-Tech-Medizin sind wir es jedoch nicht mehr gewohnt, verwundbar zu sein.
Kaum eine andere theologische Disziplin hat mehr Erfahrung im Arbeiten mit Grenzen gesammelt als die theologische Ethik. Ein Teil dieses Arbeitens besteht im Setzen von normativen Grenzen. Das letzte Ziel dieses Projekts ist es, die Verletzlichsten zu schützen und ihre Anerkennung sicherzustellen, was der letztliche Beweggrund für die Lehre der römisch-katholischen Kirche über den Anfang des Lebens ist. Auf Basis der „Instruktion über die Achtung vor dem beginnenden menschlichen Leben und die Würde der Fortpflanzung“ (Donum Vitae/1987) skizziert Walser die grundlegenden Argumente des Lehramts für den Schutz des Embryos, dem volle menschliche Würde eigen ist. Diese Lehre bedingt die Zurückweisung aller Formen von Eingriffen, die den Embryo aufs Spiel setzen, einschließlich aller Formen von extrakorporaler In-Vitro-Fertilisation (ARTs).
Angesichts eines neoliberalen Systems, das durch ein mehr oder weniger grenzenloses Vertrauen in die Machbarkeit des Lebens charakterisiert ist, kann der tutioristische Zugang der römisch-katholischen Kirche und ihre Weise, das Leben als Gabe zu betonen, die nicht gemacht und vollständig vom Menschen kontrolliert werden kann, als altmodisch, starrsinnig, nicht zeitgemäß bezeichnet werden. Allerdings bringt er auch eine realistische Anthropologie mit sich, die die Grenzen der Machbarkeit und die Möglichkeit des Scheiterns mit in Betracht zieht.
„European Society of Women in Theological Research“ (ESWTR)
Diskutiert werden die oben vorgestellten Fragen neben anderen Themen von 23.-26. August 2017 im Rahmen der 17. Internationalen Konferenz der „European Society of Women in Theological Research“ (ESWTR) im Kardinal-König-Haus in Wien. Im Mittelpunkt der Konferenz stehen Grenzsituationen in biblischer, ethischer und interreligiöser Perspektive. Grenzüberschreitungen von Frauen in Europa, freiwillig oder unfreiwillig, sind Anstoß zur Veränderung traditioneller Denkmuster und Gewohnheiten in den Gesellschaften und Religionen Europas. Das bedeutet Horizonterweiterung und birgt ungeahnte Potenziale der Hoffnung. „Über-setzen“ ist aber auch riskant: Grenzgebiete können sowohl zum Ort der Gotteserfahrung als auch zum Ort der Erfahrung der Gottesnacht werden. Mit einer bewusst theologischen Perspektive möchte die Konferenz einen Beitrag zur öffentlichen Debatte über Migration, Religion und Gesellschaft in Europa leisten.
Ort: Wien, Kardinal-König-Haus
Zeit: 23. bis 26. August 2017
Kontaktperson: Ao. Univ. Prof. Dr. Agnethe Siquans (Institut für Bibelwissenschaft der Universität Wien)
weitere Informationen: http://eswtr2017.univie.ac.at/
Rat-Blog Nr. 7/2017