‚Opfer‘ – eine theologische Kategorie unter Verdacht. Differenzierungen innerhalb eines schwierigen theologischen Konzepts

Die theologische Kategorie Opfer steht unter Verdacht. Und das ist vielleicht noch zu gelinde ausgedrückt. Opfer kann im christlichen Kontext zu den theologisch ungeklärtesten und umstrittensten Konzepten überhaupt gezählt werden.[1] Besondere Brisanz ist deshalb gegeben, weil diese Kategorie im (Alltags-)Leben von Menschen präsent ist und – wie in den Vorwürfen deutlich gemacht wird – mit massiven lebenseinschränkenden Konsequenzen für Menschen einhergehen kann.

Vorbehalte gegenüber der Opferkategorie

Vorbehalte gegenüber dem Opferbegriff werden entsprechend von verschiedenster Seite artikuliert, wobei auf die zwei im Deutschen leitenden Bedeutungsstränge ‚Opfer sein‘ (im Sinn von ‚victima‘) und ‚Opfer bringen‘ (im Sinn von ‚sacrificium‘)[2] Bezug genommen wird.

Lebensbeeinträchtigende Dimensionen der Kategorie Opfer im Sinn von ‚victima‘ werden im alltäglichen Leben bei Menschen deutlich, die Opfer personaler Übergriffe von Mächtigen werden, aber auch angesichts struktureller Machtasymmetrien, die auf Kosten von Marginalisierten gehen. Opfer zeigen sich aber auch als erzwungene Opfertaten, als ‚sacrificia‘ zugunsten anderer, die Unterlegenen abverlangt werden. Mit der Idealisierung eines solchen Verhaltens und des Ertragens von Leiden wird die Opferkategorie als perfide Strategie dafür benutzt, um Menschen auszubeuten und bestehende Machtverhältnisse zu stabilisieren. Solche Ausgestaltungen von Opfer als ‚victima‘ und ‚sacrificium‘ werden in einer liberalen Kultur entschieden abgelehnt.

Auch innerhalb der theologischen Reflexion wird die Plausibilität der Opferkategorie massiv angefragt. Nachdem eine bestimmte Form der Opfertheologie im christlichen Raum über Jahrhunderte prägend geworden ist, wird ihr gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit umfassender Kritik begegnet.[3] Aufgedeckt werden die Schwierigkeiten einer religiösen Überzeugung, in der Gott eine Bluttat zur Wiedergutmachung fordert. Ein solches Gottesverständnis, so könnte man sagen, „unterbietet eigentlich die Möglichkeiten des Menschen.“[4] Angesichts dieser Schwierigkeiten wird teils erwogen, Opfer als theologische Kategorie prinzipiell aufzugeben.

Anregungen für eine differenzierte Auseinandersetzung – verschiedene ‚Opfergrammatiken‘

Ist das aber die Lösung? Können mit der Vermeidung der Opferkategorie die aufgezeigten Schwierigkeiten beseitigt werden? So einfach scheint es nicht zu sein. Zum Ersten ist der Opferterminus als angestammter Begriff auch in religiösen Liedern und Gebeten nicht so ohne Weiteres zu eliminieren. Zum Zweiten handelt es sich bei den beschriebenen Zusammenhängen nicht nur um eine terminologische Frage. Auch mit der Überwindung des Opferbegriffs in christlich-theologischen Diskursen wirken die diesen zugrunde liegenden Logiken weiter. Zum Dritten zeigt sich innerhalb der Auseinandersetzungen, dass es sich bei der christlichen Opfertheologie nicht um ein monolithisches theoretisches Konzept handelt. Entsprechend ist es für einen differenzierten Blick hilfreich, „verschiedene Grammatiken“[5] dieser theologischen Kategorie zu unterscheiden. Für eine solch genauere Auseinandersetzung wird in der Folge der Opferdiskurs durch das Herausarbeiten von sich unterscheidenden „Modelle[n]“[6] rekonstruiert. Aus der Fülle an Zugangs- und Deutungsweisen lassen sich fünf Opfermodelle ausmachen, die jeweils eine spezifische Grundidee von Opfer repräsentieren und am Beispiel des Opfers Jesu exemplifiziert werden.

(1) ‚Opfer für Transzendenz‘ stellt das religionswissenschaftlich verbreitete Opfermodell einer Gabe von Menschen zugunsten einer transzendenten Größe dar. Zum Einsatz kommt ein solches Opfer, um das Aufrechterhalten der bestehenden heiligen Ordnung der Welt sowie der Sozialstruktur zu gewährleisten. Christlich findet dieses Modell in der traditionellen Opfertheologie ihren Niederschlag, für die in wesentlichen (aber nicht allen) Aspekten die Satisfaktionslehre von Anselm von Canterbury steht. In diesem Verständnis haben die Menschen mit ihrem sündhaften Verhalten die Ehre Gottes und die Ordnung zerstört. Eine Wiedergutmachung kann nur ein „Gott-Mensch“[7] leisten – weil das Vergehen der Menschen nur von einem Menschen, angesichts der Schwere des Vergehens gegen Gott aber nur von Gott gesühnt werden kann. Jesu ungeschuldeter Opfertod entspricht dieser Forderung und wird in diesem Opfermodell als umfassende Sühneleistung in Vertretung der Menschen gedeutet. Im weiteren Verlauf der Frömmigkeitsgeschichte kommt es aufgrund Verknüpfungen der Opfertheologie mit der Fegfeuer-, Ablass- und Bußlehre zu fatalen Weiterentwicklungen dieser Opferidee. Das Sühnen persönlicher Sünden wird in Analogie zu Jesu Opfer und dem Tilgen der Erbsünde gesehen, ja gefordert. Einschränkungen, Leiden und persönliche Opfer werden im Laufe der Zeit als privilegierte Orte der Begegnung mit Gott gesehen.[8]

(2) Im Modell ‚Opfer der Transzendenz‘ ist eine umgedrehte Aktionsrichtung gegeben. Es ist nicht der Mensch, der ein Opfer für Gott, sondern Gott, der ein Opfer für den Menschen bringt. In diesem von liberalen Theolog:innen präferierten Modell zeigt sich die göttliche Zuwendung im Leben Jesu, in seiner proexistenten Haltung gegenüber den Menschen. Das Leben Jesu wird als „Lebensopfer“[9], sein Tod als Konsequenz dieser Lebensweise angesichts größtmöglicher Ablehnung verstanden. Im Opfertod kulminiert so Jesu Engagement zugunsten der Menschen, durch den ein „unzerstörbarer, endgültiger Zugang z[ur] Gemeinschaft mit Gott“[10] gewährleistet wird. Ein solches Opfermodell ist innerweltlich in einem Gabeverständnis präsent, in dem über reine Reziprozität hinaus die Beziehung zwischen den an einem Opfer beteiligten Größen – zwischen dem:der Opferbringenden und den von einem solchen Profitierenden – bedeutsam ist. Jede Bereitschaft, eigene Einschränkungen zugunsten größerer Lebensmöglichkeiten anderer, gerade Schwächerer, in Kauf zu nehmen, kann als von diesem Modell geprägt gesehen werden.

(3) Im Modell ‚Opfertransformation‘ gilt die Aufmerksamkeit einer Wandlung des Opfers: von Opfer im Sinn ‚victima‘ zu Opfer im Sinn von ‚sacrificium‘. Entscheidend für dieses Modell ist, dass gegebene Viktimisierungen durch eine bestimmte Haltung in ein Opfer als Hingabe transformiert werden. Dieses in erster Linie von der Dramatischen Theologie entwickelte Modell versteht das Opfer Jesu als ein auferzwungenes, passivisch erlittenes Opfer durch andere Menschen, das Jesus in ein aktives Opfer zugunsten seines göttlichen Vaters verändert. Was aus einer Außenperspektive eine Viktimisierung darstellt, ist aus einer Innenperspektive ein Akt der Hingabe. Die „Viktimisierung [wird] nicht ungeschehen gemacht, wohl aber verwandelt.“[11] In dieses Transformationsgeschehen werden alle Menschen als mit hineingenommen gesehen: die Opfer von Viktimisierungsvorgängen, aber auch die solche Vorgänge Verursachenden, insofern diese selbst Opfer der Sünder sind. In Analogie zu Jesu Tun werden in diesem Modell alle Taten von Menschen als Opfer verstanden, in denen diese im Sinn eines sacrificiums viktimisierende Verstrickungen zugunsten anderer aushalten und neu deuten, also transformieren.

(4) Das Modell ‚Opfer-Solidarität‘ beschreibt das Mitleiden einer transzendenten Größe mit viktimisierten Menschen. Gerade in kontextsensiblen christologischen Entwürfen wie der Befreiungstheologie, aber auch in gewissen trinitarischen Konzepten wird dieses Modell vertreten. Das Opfer Jesu erweist sich in dieser Grammatik als Eintauchen Gottes in die Eigenlogik der Welt und als solidarisches Teilen des Schicksals von Menschen, die marginalisiert und zum Opfer gemacht werden. In einem solch spezifischen Verhalten wird bereits ein Potential zur Veränderung der Situation gesehen. Weiterführend wird analog zum Opfer Jesu prinzipiell allen Menschen zugetraut, gegenüber viktimisierten Menschen solidarisch zu sein.

(5) Das Modell ‚Opfer-Perpetuierung‘ meint eine Weiterführung und Manifestierung viktimisierender Zusammenhänge, ohne dass diesen ein soteriologisches Moment inhärent wäre. Es geht um Viktimisierungen, aber auch um idealisiert dargestellte und auferzwungene sacrificia, die das Ertragen von Leid und Missbrauchstaten als Wert darstellen. Solche Opfer dienen allein Höhergestellten und legitimieren und festigen deren Macht. Dabei erfolgt die Begründung der immanenten Logik viktimisierender Vorgänge bzw. Strukturen durchaus mit Bezugnahmen auf eine transzendente Größe. Dies kann eine Gottheit sein, aber auch absolut gesetzte ideologische Größen wie eine weltanschauliche Überzeugung oder das Vaterland. Einem solch höheren Anliegen sollen Menschen alles, ja ihr eigenes Leben unterordnen. Machtasymmetrische und unterdrückerische Strukturen werden dadurch idealisiert und perpetuiert.[12] Der Opfertod Jesu zeigt sich in diesem Modell als Forderung eines kannibalistischen, sadistischen Vaters und der Einwilligung eines masochistischen Sohnes. Im theologischen Diskurs wird auf dieses Modell nur ex negativo Bezug genommen, v.a. Strömungen liberaler und feministischer Theologien grenzen sich dezidiert davon ab. Die Auseinandersetzung mit diesem Modell bedeutet einen grundlegenden Bruch mit der Opfertheologie, die im Widerspruch zu entscheidenden christlichen Überzeugungen gesehen wird und nur überwunden werden kann.

Ausgangspunkt für Weiterüberlegungen

Die Debatte um eine christlich-theologische Opfertheologie – die massive Kritik an ihr, aber auch Versuche ihrer Rehabilitierung – kann mit einer Aufmerksamkeit für verschiedene ‚Opfergrammatiken‘ wesentlich als Streit um unterschiedliche Opfermodelle rekonstruiert werden. Eine solche Herangehensweise ermöglicht es, konkrete Positionen, deren Anliegen und Stärken, aber auch deren Schwächen zu verstehen und zu verorten, entscheidende Unterscheidungslinien zwischen den zugrunde liegenden Opfermodellen auszumachen und den Opferdiskurs insgesamt zu überblicken. Die massiven Anfragen und Vorbehalte gegen die Kategorie Opfer erweisen sich so in erster Linie als Kritik an bestimmten Konzeptionen. Die Berücksichtigung der Pluralität an Modellen und Grammatiken im Feld bietet die Möglichkeit, verschiedene Zugänge zu bedenken und die Opferkategorie abseits der berechtigen Anfragen auch in konstruktiver und kreativer Weise aufzugreifen. Es eröffnet sich damit ausgehend von einem vermeintlich nur noch zu verabschiedenden theologischen Konzept ein spannendes Feld für theologische Konkretisierungen und Weiterentwicklungen.


Bibliographie

[1] Vgl. Spaemann, Robert: Einleitende Bemerkungen zum Opferbegriff. In: Schenk, Richard (Hg.): Zur Theorie des Opfers. Ein interdisziplinäres Gespräch (=Collegium philosophicum 1). Stuttgart: Frommann-Holzboog 1995, 11-24, 21.

[2] Vgl. Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache: Opfer. Verfügbar unter: https://www.dwds.de/wb/Opfer

[3] Vgl. Moosbrugger, Mathias: Die Rehabilitierung des Opfers. Zum Dialog zwischen René Girard und Raymund Schwager um die Angemessenheit der Rede vom Opfer im christlichen Kontext (ITS 88). Innsbruck: Tyrolia 2014, v.a. 13-15.

[4] Striet, Magnus: Wenn Menschen einfach verzeihen können – warum nicht Gott? Opfertod im Christentum (18.07.2021) Verfügbar unter: https://www.deutschlandfunkkultur.de/opfertod-im-christentum-wenn-menschen-einfach-verzeihen-100.html [22.04.23].

[5] Dalferth, Ingolf U.: Die soteriologische Relevanz der Kategorie des Opfers. Dogmatische Erwägungen im Anschluß an die gegenwärtige exegetische Diskussion. In: Baldermann, Ingo u.a. (Hg.): Altes Testament und christlicher Glaube (JBTh 6). Neukirchen-Vluyn: Neukirchener 1991, 173-194, 174, im Original kursiv gesetzt.

[6] Vgl. die zugrunde liegende prinzipielle Idee: Büttner, Gerhard/Reis, Oliver: Modelle als Wege des Theologisierens. Religionsunterricht besser planen und durchführen. Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2020.

[7] Anselm von Canterbury: Cur deus homo. Warum Gott Mensch geworden. Lateinisch und Deutsch. Übersetzt von Franciscus Salesius Schmitt OSB. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 51993, II, 7 (99).

[8] Vgl. Moosbrugger, Mathias: „Denn wen der Herr liebt, den züchtigt er“. Zur theologischen Entgiftung einer spirituellen Tradition. In: Geist und Leben 89/4 (2016), 397-405, 398.

[9] Berger, Klaus: Wozu ist Jesus am Kreuz gestorben? Stuttgart: Quell Verlag 1998, 103.

[10] Menke, Karl-Heinz: Art. Opfer. IV Theologiegeschichtlich u[nd] systematisch-theologisch. In: LThK, Bd. 7, Freiburg i. Br. u.a.: Herder, 3. völlig neu bearb. Aufl. 1998, 1069.

[11] Niewiadomski, Józef: Victima versus sacrificium. Nuancen der spannungsreichen Beziehung von Liebe und Opfer. In: Ders.: Dramatische Figuren des Glaubens. Christlich glauben in den Herausforderungen von heute. Zur Emeritierung des Autors (Hg. Moosbrugger, Mathias/Peter, Karin). Freiburg i. Br. u.a.: Herder 2019, 216-247, 242-243.

[12] So exemplarisch die Argumentation zur Dynamisierung von Misogynie durch die christliche Opferlogik: Anne-Kathrin Fischbach: „Allen alles werden?“ Vom Vulneranzpotential der christlichen Botschaft gegenüber Frauen. In: Feinschwarz. Theologisches Feuilleton (07.12.22). Verfügbar unter: https://www.feinschwarz.net/allen-alles-werden/ [24.04.23].


Photo Credits: Adrian Dascal auf Unsplash


RaT-Blog Nr. 07/2023

  • Dr. Karin Peter ist Leiterin des FWF Elise-Richter-Projekts 'Religionspädagogische Analysen zur Opferthematik' am Institut für Praktische Theologie der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien. Sie beschäftigt sich insbesondere mit Vorstellungen von Schüler:innen als religionsdidaktischer Ressource und mit Religion als pluralem Phänomen im Schulalltag.

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