Das Ende des armenischen Arzach

In den letzten Tagen sind fast alle der rund 120.000 verbliebenen ArmenierInnen aus der Region Nagorno-Karabakh geflohen. Nach der Kapitulation der Streitkräfte der international nicht anerkannten Republik Arzach gibt es zum ersten Mal seit über 2000 Jahren keine ArmenierInnen mehr in diesem für die armenische Geschichte enorm wichtigen Gebiet.

Jahrtausende armenischer Kultur

Schon der Name der 1991 ausgerufen und nach dem armenisch-aserbeidschanischen Krieg de facto über ein wesentlich größeres Gebiet herrschenden Republik spielte auf die antike Provinz Arzach des antiken Armenischen Reiches und das hier von 1000 bis 1261 existierende mittelalterliche Königreich Arzach an, das von der armenischen Dynastie der Bagratiden beherrscht wurde. Dieses Reich wurde zwar 1261 von den Ilkhanen erobert, die nach ihrer Konversion zum Islam sich auch immer mehr von ihrer Mongolischen Herkunft verabschiedeten, konnte unter deren Herrschaft aber noch lange seine weitgehende Autonomie verteidigen. Die so genannten „Fünf Fürstentümer von Karabach“ waren während des persischen Safawidenreiches die letzten autonomen armenischen Fürstentümer und wurden erst 1750 in das von einem turksprachigen Herrschergeschlecht regierten Khanat Karabakh eingegliedert. Dieses Khanat wechselte schließlich die Seiten und wandte sich von Persien ab und Russland zu, das 1813 durch den Vertrag von Gulistan den Großteil des heutigen Aserbaidschan übernehmen konnte.

Diese kurze direkte Herrschaft turksprachiger Muslime reichte nicht aus, das Gebiet von Bergkarabakh zu islamisieren oder gar an einen turksprachigen Dialekt heranzuführen. Die Tataren, wie die Vorfahren der späteren Aseris damals bezeichnet wurden, waren noch keineswegs die allein dominierende Bevölkerung in der Region. Das Türkische wurde in dieser Region schließlich erst unter den Ilkhanen dominant und verdrängte langsam die zur iranischen Sprachfamilie zählende altaserbaidschanische Sprache. Ganz ausgestorben ist die Sprache vermutlich nie. Das heute im Nordwestiran gesprochene Tati – nicht zu verwechseln mit der heute noch in Aserbaidschan gesprochenen ebenfalls iranischen Tatischen Sprache – gilt als eine Spätform des Altaserbaidschanischen.

Obwohl Bergkarabakh überwiegend armenisch besiedelt blieb, vermischten sich natürlich nicht nur unter persischer, sondern auch unter russischer Herrschaft die Volksgruppen einer Region, die nie ethnisch reine Nationalstaaten kannte. So war etwa das Gebiet der heute fast zu 100% aserbeidschanischsprachigen Autonomen Republik Nachitschewan zu Beginn des 20. Jahrhunderts fast zur Hälfte armenischsprachig. Umgekehrt war Jerewan im 19. Jahrhundert mehrheitlich muslimisch und polyglott. In den Straßen der heutigen Hauptstadt Armeniens konnte Türkisch, Persisch, Kurdisch und Armenisch gehört werden.

Erst die Fluchtbewegungen von armenischen Christen aus dem Osmanischen Reich, die kurzlebigen unabhängigen Staaten nach dem Zusammenbruch des Zarenreiches und der Versuch der Sowjetunion ethnisch basierte Sowjetrepubliken zu gründen, führt zu jenen demographischen Verschiebungen, die klare ethnische Mehrheiten mit sich brachten.

Autonomie und Nationalstaat

Die Sowjetunion war allerdings kein Nationalstaat und hatte eine Reihe verschiedener Ebenen von ineinander verschachtelten Föderationssubjekten. Nagorno-Karabakh wurde so 1923 zu einem Autonomen Oblast (Gebiet) innerhabt der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Aber auch außerhalb von Nagorno-Karabakh lebten ArmenierInnen in der Aserbaidschanischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Von einer halben Million ArmenierInnen in Aserbaidschan lebte nur rund ein Fünftel in Nagorno-Karabakh. Die meisten lebte in Baku, Sumgait und anderen großen Städten. Erst das Pogrom von Sumgait am 27. Februar 1988 führte zu einer Massenflucht von ArmenierInnen aus Aserbaidschan aber auch zu Racheakten gegen Muslime in Armenien und zur Flucht dieser aus dem christlich geprägten Land. Vor allem befeuerte diese Entwicklung aber die Unabhängigkeitsforderungen der ArmenierInnen im überwiegend armenischsprachigen Nagorno-Karabakh. Nach einem Unabhängigkeitsreferendum im Dezember 1991 riefen die ArmenierInnen die Unabhängigkeit der Republik Arzach aus, die schließlich nach dem militärischen Erfolg Armeniens und der armenischen Freischärler aus Nagorno-Karabakh 1994 ein wesentlich größeres Gebiet kontrollierte, als die alte Autonomieregion.

Die muslimische Bevölkerung aus den neu eroberten Gebieten, neben ethnischen AserbaidschanerInnen auch weitgehend sprachlich assimilierte KurdInnen musste fliehen. Die Chance aus einer Position der Stärke eine Friedenslösung mit Aserbaidschan zu suchen, verpasste Armenien in den folgenden Jahren. Und Aserbaidschan nutzte die wachsenden Öl- und Gas-Einnahmen um aufzurüsten. Das autoritäre Regime Ilham Alijews, der 2003 seinem Vater Heidar Alijew als Präsident Aserbaidschans nachfolgte, sah sich schließlich 2020 stark genug um einen Großangriff auf die abtrünnige Provinz auszuführen. Schon im November 2020 musste Armenien seine Niederlage akzeptieren und einem von Russland vermittelten Waffenstillstand zustimmen.

Im Dreieck Russland, Iran und Türkei

Dass Russland seiner alten Schutzmachtfunktion für die ArmenierInnen nun beim erneuten Angriff Aserbaidschans nicht mehr nachkam, hat nicht zuletzt mit dem Krieg in der Ukraine zu tun. Russland ist militärisch beschäftigt und konnte es sich nicht mehr leisten, sich mit Aserbaidschan, v.a. aber mit dessen Schutzmacht Türkei anzulegen. Im Vergleich zur Ukraine und der Zukunft der russischen Schwarzmeerflotte, spielt der Transkaukasus für Moskau derzeit eine untergeordnete Rolle. Zudem hat sich Armenien mit seinem zunehmenden Liebäugeln mit dem Westen unter Premierminister Nikol Paschinjan ohnehin zwischen alle Stühle begeben und Russland verärgert ohne aber westliche Unterstützung zu bekommen. Schließlich ist die Türkei immer noch ein NATO-Schlüsselstaat und Armenien nicht nur militärisch, sondern auch ökonomisch sehr viel schwächer als Aserbeidschan.

Als letzter potentieller Verbündeter bleibt Armenien nun der Nachbarstaat Iran, der sich gegenüber Aserbaidschan sehr deutlich zu Wort gemeldet hatte und sich wohl auch aufgrund potentieller territorialer Forderungen Aserbaidschans gegenüber dem Iran keinen zu starken Nachbarn im Norden wünscht. Immerhin sind im Nordwesten Irans große Teile der Provinzen Ost-Aserbaidschan, Zanjan und Qaswin, sowie Teile der Provinzen West-Aserbaidschan und Ardebil von ethnischen Aseris bewohnt. Mit rund 15-20% der Gesamtbevölkerung bilden die Aseris noch vor den KurdInnen die größte ethnische Minderheit im Iran, die auch im politischen und ökonomischen Establishment stark vertreten ist.

Gefahr für das Armenische Kernland

Mit der Eroberung Bergkarabakhs ist der Konflikt nämlich möglicherweise nicht vorbei. Aserbaidschan machte nie ein Hehl aus dem Ziel, einen Korridor zwischen der Autonomen Republik Nachitschewan und dem Rest Aserbaidschans zu schaffen und damit auch Baku direkt mit der Türkei zu verbinden. Ein solcher Korridor wäre aber nur auf Kosten Armeniens oder Irans möglich. Die etwa 44 km lange Grenze zwischen Armenien und Iran, an der es lediglich einen einzigen Grenzübergang über den Fluss Aras gibt. Über den Grenzübergang Nurduz-Agarak läuft der gesamte Handel und Personenverkehr zwischen Iran und Armenien. Auch wenn das Flusstal des Aras selbst kaum besiedelt ist, so liegen an den Hängen des Tales mit Alvank, Meghri und Agarak mehrere armenische Kleinstädte. Würde Aserbaidschan entlang des Flusses Aras Gebietsansprüche gegenüber Armenien stellen, um Nachitschewan mit dem Kern der Republik zu verbinden, wäre nicht nur Kernland der Republik Armenien bedroht, sondern würde Armenien Gefahr laufen, noch weiter isoliert zu werden.

In Bezug auf die nun von Bergkarabakh geflohenen ArmenierInnen zeigt sich Aserbaidschan offiziell für eine Rückkehr der Geflüchteten offen. Laut UN wurden bisher auch keine Kirchen und öffentlichen Gebäude zerstört. Angesichts der systematischen Zerstörung armenischen Kulturgutes in anderen Teilen Aserbaidschans in den letzten 30 Jahren, dürfte dies aber wohl nur eine Frage der Zeit sein. Schon jetzt scheint auf aserbaidschanischen Karten eine wichtige Straße in der bisherigen Hauptstadt Arzachs, Stepanakert bzw. auf Aserisch Khankendi, mit dem Namen Enver Pasha Straße auf. Damit wurde eine der wichtigsten Straßen der Stadt ausgerechnet nach einem der Hauptverantwortlichen für den Genozid der jungürkischen Regierung des Osmanischen Reiches am Armenischen Volk benannt. Enver Pasha, der 1919 in Istanbul in Abwesenheit für seine führende Beteiligung am Genozid zum Tod verurteilt wurde, gilt heute türkischen Ultranationalisten als Idol. Für die ArmenierInnen ist dies ein Zeichen, das in etwa die Benennung einer Heinrich Himmler Straße in Deutschland oder Österreich an Jüdinnen und Juden aussenden würde. Ohne internationale Garantien und eine internationale militärische Präsenz in der Region wird wohl niemand von den geflüchteten ArmenierInnen es wagen, in ihre Heimat zurückzukehren. Das Fenster für so eine internationale Schutzfunktion schließt sich aber in den nächsten Tagen. Die Verwaltung der Republik Arzach hat angekündigt sich bis Ende 2023 aufzulösen. Die allermeisten Menschen der Region sind bereits geflohen. Das isolierte Kernland armenischer Kultur, das über Jahrhunderte seine Autonomie bewahren konnte und in dem zahlreiche jahrhundertealte Klöster und Kirchen von dieser Vergangenheit zeugen, wird nur noch eine Erinnerung bleiben.


Der Autor hat bereits im Jahr 2020 im RaT-Blog über die angespannte Lage in der Kaukasusregion berichtet. Seinen damaligen Beitrag mit dem Titel „Nationalismus, Religion und Hegemonialkonflikte: Die drohende Katastrophe im Kaukasus“ kann man hier nachlesen.


Photocredits: Aufnahme von Stepanakert, der vor wenigen Tagen fast vollständig verlassenen Hauptstadt der Republik Arzach. Quelle: hanming_huang, CC BY 2.0 https://creativecommons.org/licenses/by/2.0, via Wikimedia Commons


RaT-Blog Nr. 16/2023