„Eine halbvergessne Sage“? Franz Werfels Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ als Dokument des jungtürkischen Genozids an den Armeniern

In seinem fast 1000seitigen Roman hat Franz Werfel im Jahr 1932/33 den ersten staatlich organisierten Genozid zum Thema gemacht. Ausgelöst wurde der Roman, wie Werfel in einer Art Vorwort dazu schrieb, durch das „Jammerbild verstümmelter und verhungerter Flüchtlingskinder, die in einer Teppichfabrik arbeiteten.“ Auf sie traf er, als er sich im Frühjahr 1929 in Damaskus aufhielt. Diese Kinder bildeten einen Rest derer, die dem Genozid der Jungtürken entkommen waren. 1,5 Millionen Armenierinnen und Armenier waren dem nationalistisch organsierten Abschlachten in den Jahren 1915-1917 zum Opfer gefallen, im Schatten des Ersten Weltkriegs, in dem auch Werfel eingezogen war.

Franz Werfel war damals, als er diese Reise unternahm, 39 Jahre alt. Wenige Monate danach heiratete er Alma Mahler, die, deutsch-nationalistisch und antisemitisch gesonnen, von Werfel als Bedingung der Ehe seinen Austritt aus der Wiener jüdischen Gemeinde verlangte. Dem kam Werfel nach, trat jedoch unmittelbar nach der Eheschließung ohne Wissen seiner Gattin wieder in die jüdische Gemeinde ein. Die von ihm gelebte Solidarität mit dem durch die Geschichte gejagten, geknechteten und immer wieder auferstandenen jüdischen Volk verpflichtete ihn sein Leben lang. Auf dieser Solidarität basierte seine Empathie eben auch mit dem armenischen Volk, dessen Geschick für Werfel dem des jüdischen Volkes nahestand. In den „Vierzig Tagen des Musa Dagh“ finden sich deshalb auch viele Anklänge an jüdische Überlieferung, auch wenn die gesamte Anlage des Romans von der christlichen Widerstandsgeschichte einer armenischen Gruppe gegen das jungtürkische Morden bestimmt ist.

In Profil, Charakter und Geschick des Protagonisten Gabriel Bagradian werden Grundzüge des biblischen Moses erkennbar. Gabriel Bagradian wächst wie Mose mit den Anforderungen und Überforderungen mit. Sein Profil wird schärfer, seine Ausrichtung bestimmter, seine Einsamkeit dramatischer und härter. Und am Schluss wird Gabriel Bagradian, während der ausgemergelte Rest seiner Gruppe vom Kreuzer „Guichen“ aufgenommen wird, noch einmal zurückgerufen zum Grab seines Sohnes, der in einem Kampfgeschehen gefallen war. Dort ist er allein und denkt an seinen Sohn und die Hundertschaften von Toten, die der Widerstandskampf gekostet hatte – ein Bild wie am Berg Nebo, wo der einsame Mose der Bibel sich noch einmal sammelt. Wie Mose, so wird auch Bagradian nicht den letzten Schritt der Rettung gehen können. Doch gleichzeitig zeigt sich ein dramatischer Unterschied der beiden Szenen. Mose starb am Berg Nebo und sah bei Tag ins versprochene Land hinüber, Werfels Gabriel Bagradian wird am Musa Dagh in stockdunkler Nacht liquidiert. In einem letzten Gewaltbild verdichtet Werfel noch einmal den Terror dieses Genozids, wenn er paradox schreibt: „Gabriel Bagradian hatte Glück: Die zweite Türkenkugel durchschmetterte ihm die Schläfe. Er klammerte sich ans Holz, riss es im Sturze mit. Und das Kreuz des Sohnes lag auf seinem Herzen.“

Eine zweite Verbindung findet sich in der Grundzahl 40. Sie strukturiert die biblische Mosegeschichte in drei 40-Jahr-Perioden; in der dritten Periode, in der des Zugs durch die Wüste hin zu den Grenzen des versprochenen Landes, sammeln sich gewissermaßen die Zeiten davor ein, weil alles als Hinweg zum Land Israel gelesen wird. Im Roman verdichtete Franz Werfel den entscheidenden Weg auf 40 Tage und lehnte damit diese Periode deutlich an die letzte Exodusperiode an. Das hielt eine klare Botschaft bereit: Die Massaker dieses Genozids und seine Folgen dürfen nicht das letzte Wort behalten und die Zeiten definieren.

In einer dritten Hinsicht verbindet Werfel die Fluchtmöglichkeit des armenischen Restes übers Meer mit dem Durchzug der Mosegruppe durchs Rote Meer. Wo wie in der Gegenwart spekuliert wird aufs (Mittel-)Meer als Massengrab, das seine Toten verschlingt und verschweigt, kehrt sich durch literarische Intervention das Meer als der Ort des Ertrinkens in beiden Erzählungen um. Es wird Hoffnungszone für Rettung, die es heute für Flüchtlinge immer noch ist, trotz allem. Exodus, das große Versprechen, das massakrierte Flüchtlinge immer noch anzog, auch wenn sie fast willenlos voranstolperten wie in Werfels Roman, hat Werfel entlang der biblischen Geschichte auch seinem Roman im Widerstand gegen diesen Genozid eingeschrieben.

Romane wie „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ gehören dem Fiktionalen zu. Ihre Impulse liegen häufig in Erfahrungen, die schreibend weitergearbeitet, gestaltet, umgebaut, neu gefasst und schließlich zu einem Gesamtdrama gebildet werden. Für den Roman suchte Werfel darüber hinaus Archive und Menschen auf, die ihn in den historischen Kontext der Jahre 1915-1917 setzten. Das steht in großer Ähnlichkeit zu dem, was die biblischen Geschichten zeigen. Auch sie sind von Erfahrungen ausgelöst, werden überliefert, weiter verarbeitet und irgendwann schriftlich gefasst und so übermittelt; historische Bezüge lassen sich entdecken, doch die Geschichten selbst liefern keine Protokolle dessen, was gesagt worden und was unmittelbar geschehen ist.

Von den Schreibern biblischer Schriften weiß man fast nichts. Das liegt daran, dass die Idee eines ästhetischen Genies, dessen narratives oder künstlerisches Werk an seinem Namen hängt, etwa 300 Jahre alt ist und daher die meisten biblischen Schreiber im Anonymen verschwunden bleiben.

Und doch gibt es manche Spuren in die Vergangenheit, die mit der Schreibarbeit Franz Werfels konvergieren. Am Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ schrieb er nach eigener Auskunft vom Juli 1932 bis zum März 1933; unterbrochen wurden die Arbeiten nur durch Vortragsreisen, auf denen er die erfolgslosen Verhandlungen zwischen Enver Pascha und Pastor Johannes Lespius entsprechend seiner eigenen Archivarbeit in der Fassung des Romans vortrug. Sonst aber schrieb er an diesem Werk in der Einsamkeit seines Hauses, das auf einem Höhenzug lag, der zu Breitenstein gehört und der Rax gegenüberliegt. Abgewandt dem Lärm der Großstadt Wien, schrieb er in einer Einsamkeit, in die Werfel im Prophetenroman „Höret die Stimme“, 1937 veröffentlicht, den Propheten Jeremia versetzte, als dieser seine Schriftrolle neu schrieb, nachdem der König sie hatte verbrennen lassen (Jer 36,27f). In solcher Einsamkeit entsteht etwas, das sich prophetische Aufmerksamkeit nennen lässt: Fokussierung auf ein Entscheidendes, Pflichtiges – und das steht stets im Zusammenhang mit humaner Gegenwart und Zukunft.

Franz Werfel hat seinen Armenier-Roman vor 90 Jahren veröffentlicht. Die armenische Kirche von Österreich hat ihm diesen Einsatz nicht vergessen. 30 Jahre nach Werfels Tod im amerikanischen Exil im Jahr 1945 finanzierte die Leitung der armenisch-orthodoxen Kirche die Exhumierung Werfels und seine Beisetzung auf dem Wiener Zentralfriedhof in einem Ehrengrab.

Das macht: Dichter und Künstler teilen mit den Propheten den scharfen, analytischen Blick, das genaue Hinsehen, das feinsinnige Hinhören – mit einem Wort: gesteigerte Wahrnehmung, die empathisch macht und deshalb, nur deshalb ahnen lässt, was kommen wird. Werfels Roman über den Genozid, den die Jungtürken am armenischen Volk verübt hatten, liest sich wie eine düstere Anfangsgeschichte von Genoziden, die folgten und in der Schoa ihren Tiefpunkt erreichten; Werfel sah das kommen, wie Vorträge bereits aus den frühen 1930er Jahren zeigen, konnte sich jedoch die Gründlichkeit und Technik nicht vorstellen, die im Gesamtraum des NS-Regimes zur Schoa, zur Vernichtung aller Juden und Jüdinnen führte, derer man habhaft werden konnte.

Mit seinem Roman ragt Werfel auch 90 Jahre später in die Gegenwart. Kaum hört man heute dichterisch-empathische Worte, alte und gegenwärtige. Prophetisches wird von Massengeschrei überstimmt, das Parolen, Schlagworten und Lügen folgt, die allesamt terroristische Drohungen mit sich führen, jederzeit bereit für die Realisierung. Dass in diesen Tagen und Wochen deren realste und härteste wieder einmal die jüdischen Gemeinschaften treffen, in Israel und überall dort, wo sich jüdische Gemeinschaften finden, ist eine Katastrophe, keine Tragödie, weil eine Tragödie keine Verantwortlichkeiten kennt. Im Sog des Hamas-Terrors hetzen und drohen russische und iranische Staats- und Religionsideologen, die diesen Terror direkt unterstützen, weil sie wieder einmal ihre Chance wittern, durch einen Genozid zumindest den Staat Israel auszulöschen. Daraus machen diese Mächte so wenig Geheimnis wie damals, als die Jungtürken ihre Agenda formulierten und ausübten oder später, in einem qualitativen Sprung, der NS-Staat Reichsgesetze schuf, die das Morden zur Pflicht erhoben.

Traurig, wie aktuell dieser Roman Franz Werfels ist. Als hätte man aus der Geschichte nichts gelernt, sondern wiederholte sie in immer neuen Gewaltausbrüchen, die immer gefährlicher und tödlicher werden. Karl Marx‘ Diktum, wonach sich die Geschichte zweimal wiederhole, zuerst als Tragödie, dann als Farce, bildet eine überholte Einsicht ab. Werfels Roman „Die vierzig Jahre des Mus Dagh“ vor sich, erkennt man die gewaltige Steigerung von Gewaltausübung, wie sie in den vergangenen 110 Jahren seit dem Genozid am armenischen Volk erkennbar wird. Dass die offizielle politische Repräsentation der Türkei diesen Genozid bis heute leugnet, bestätigt, wie rhetorisches Gebrüll Taubheit, Blindheit und Apathie erzeugt, um hernach jede Gewalt ausüben zu können, der man sich verschreiben will.Traurig ist das. Doch Werke wie dieser Roman von Franz Werfel und andere wie sein Prophetenroman „Höret die Stimme“ zünden in der Nacht ein kleines Licht an, in Erinnerung an starke Charaktere, die dem Geheul und den Gewaltausbrüchen ihren Widerstand entgegenstellten.


Photocredits: (C) Wolfgang Treitler


RaT-Blog Nr. 18/2023

  • Wolfgang Treitler, geb. 13.4.1961, seit 1998 ao. Univ.-Prof. für Theologische Grundlagenforschung. Schwerpunkte der Forschung und Publikationen: Messiasdeutungen; christlicher Antijudaismus und seine Grundlagen; Schoa-Literatur; sexuelle Missbrauchsverbrechen in der Katholischen Kirche.