Ein Standpunkt zu Israel

Nach dem von der Hamas verübten Pogrom an Jüdinnen und Juden am 7. Oktober 2023 ist weltweit der so genannte „Nahost-Konflikt“ in seiner thematischen Aufmerksamkeit ganz nach vorne gerückt. Dabei standen bald nicht mehr nur die Vorkommnisse vom 7. Oktober und Israels Kampf gegen die Hamas in Gaza im Vordergrund, sondern auch, überraschend schnell, ein Meinungsbild, das, vordergründig von Israels militärischen Vorgehen in Gaza ausgelöst, Erstaunliches und auch Erschreckendes zu Tage führte. Europäische Umfragen der letzten Zeit zeigen ein sehr gemischtes Bild in Bezug auf die Solidarität mit Israel. Unterschiede ergeben sich von Land zu Land, aber auch von Jung zu Alt. Praktisch überall hat vor allem bei der jüngeren Bevölkerung die Sympathie für „die Palästinenser“ Vorrang. In Ländern wie Spanien (hier ganz vorne), Großbritannien, Frankreich und Schweden ist prinzipiell eine deutliche Mehrheit für die palästinensische Seite feststellbar. In Deutschland lassen sich deutliche Unterschiede zwischen Ost und West festmachen, aber auch eine Tendenz, dass Wähler:innen der AfD und auch der Linken sich weniger für Israel einsetzen.

Ein erschreckender Trend unter Europas Muslim:innen

Günter Jikeli ist einer jener Forscher, die seit einigen Jahren einen erschreckenden Trend von Antisemitismus unter muslimischen Europäern bzw. in Europa lebenden Muslim:innen zum Thema macht. Eine Studie von Sina Arnold aus dem Jahr 2007 im Auftrag von amira – Antisemitismus im Kontext von Migration und Rassismus in Berlin unter muslimischen Jugendlichen stellte bereits damals fest[1], dass Israel in diesem Spektrum mehrheitlich als Staat nicht anerkannt würde. „Der Staat Israel wurde durchweg als negativ charakterisiert, hier würden „nur böse Leute“ leben. Um Israel zu beschreiben, wurden teilweise klassische antisemitische Stereotype von Kindsmorden und Brunnenvergiftungen bemüht.“ U.a. sagte ein Jugendlicher: „Also, erstens, die Juden haben angefangen, als allererstes. Die haben unser Land angegriffen, die wollen unser Land jetzt einnehmen. Die töten Menschen und Kinder, und verbrennen Frauen mit Babybauch, verbrennen die und so. Ja. Die Juden haben Schuld.“ (S. 6) Oder: „Weil die unschuldige Menschen in Palästina töten, sie nehmen unser Land weg, die klauen uns alles, die klauen uns unsere Moscheen und alles, ich hasse die einfach. Die behaupten, das wäre ihr Land. Und das machen alle Juden? Alle.“ (S. 7)

Das um sich greifende propalästinische Narrativ vieler Israelfeinde in diesem Zusammenhang lässt sich in etwa so zusammenfassen:

1. Die Palästinenser waren immer schon im Land, sie können sich auf die in der Bibel genannten Kanaanäer berufen. Palästina heißt das Land schon in der Antike, weil dort Palästinenser leb(t)en.

2. Juden kamen in größeren Gruppen erst unter dem Einfluss des Zionismus und durch Unterstützung der Kolonialmächte.

3. Europa unterstützt die Juden aufgrund der Schoah.

Der Antisemitismus im linken Spektrum

Dieses etwas vereinfachte Schema ignoriert nicht nur die Jahrtausende alte jüdische Präsenz im Land, sondern verfälscht ganz bewusst Historie. Aber es wäre falsch, die große Beliebtheit dieses Narrativs – keineswegs nur unter Muslim:innen – zu erklären. Denn er braucht geradezu ein modernes sich in der Wissenschaft rasant verbreitenden Phänomens, einer Abkehr von westlichen Werten, einer grundlegenden Kritik des Westens als kolonialistisch, imperialistisch, amerikanisch. Diese ist inzwischen in großen Teilen der europäischen, aber auch amerikanischen Linken, nicht zuletzt an Universitäten stark verbreitet.[2] War das Judentum lange als Opfergesellschaft im Blick, so wandelte sich dies massiv mit dem selbstbewussten Auftreten von Jüdinnen und Juden und der Abkehr vom „Wir sind die ewigen Opfer“-Mythos. Israel wurde zum Reibebaum, zum Inbegriff einer entweder von Amerika gegängelten imperialistischen Macht oder mehr noch zu einer durch seinen Einfluss Amerikas Imperialismus erst ermöglichende Größe. Israel, aber auch die einzelnen Jüdinnen und Juden weltweit wurden als „weiß“ deklariert und mit den damit verbundenen Vorurteilen verbunden. Moderne linke (woke) Bewegungen waren nicht selten bereit, Jüdinnen und Juden als Feinde anzusehen und es wundert nicht, dass von der „Black lives matter“ – Bewegung bis zu Fridays for Future (auch) antisemitische und israelfeindliche Statements zu hören waren/sind. Die linke antiisraelische BDS-Kampagne (Boycott, Desinvestitionen und Sanktionen) fand und findet durchaus auch jüdische Unterstützer, zuweilen mit prominenten Vertreter:innen wie etwa Judith Butler, die  bis zuletzt Israel kolonialen Rassismus vorwirft (vgl. auch das Manifest „Philosophy for Palestine“) und die Gewaltverbrechen von palästinensischen Terroristen herunterspielt, ja sogar in den Kontext von Befreiungsbewegungen bringt.

Ein Kampf gegen den Westen

Weltweit lässt sich feststellen, dass das so genannte westliche Denkbild, eine von Aufklärung, Demokratisierung, Gewaltenteilung, aber auch Industrialisierung und Marktwirtschaft gekennzeichnete Welt, in der die Gleichheit der Geschlechter und Diversität inzwischen zum Alltag gehören, veritabel kritisiert wird. Der globale Süden drängt massiv auf die Weltbühne, dazu lässt der Einfluss Amerikas nach, während China sich als neue Macht steil nach oben hievt. Dabei vereint es einerseits die Ablehnung westlicher Werte, setzt auf vollkommene Kontrolle, stellt den Kommunismus gegen alle „westlichen“ Prognosen als Erfolgsmodell in den Raum und versteht es gleichzeitig, viele Länder des globalen Südens abhängig zu machen. Demokratie erscheint als lässliche Sünde, als ineffizient, während die unterschiedlichsten Formen von Diktaturen weltweit im Aufschwung sind. Im Nahen Osten wurde Israel schon lange als europäisches Projekt gesehen, als Fremdkörper im arabischen Raum. Feindschaft gegen Israel ist nicht nur Feindschaft gegen den Imperialisten, sondern auch gegen eine als weich und ineffizient postulierte Verwestlichung, dessen kulturelle Hegemonie genauso mit Missmut betrachtet wird wie seine wirtschaftliche und wissenschaftliche Erfolgsgeschichte. Jüdinnen und Juden lassen sich nicht mehr in die islamische Welt als geduldete und mit minderen Rechten ausgestattete Dhimmis einordnen. Israel ist ein selbstbewusster, politisch stabiler, demokratischer Staat.

Die „Orientalisierung“ Israels

Eines ist (das jüdische) Israel jedoch definitiv nicht mehr, ein (rein) europäisches Projekt. Was nämlich vor allem die linken Israelkritiker:innen gern verschweigen, ist der Umstand, dass nicht nur etwa 700.000.- Araber im Zuge des israelischen Unabhängigkeitskrieges 1948 das Land verließen, sondern in der Folge ebenso viele jüdische Menschen aus Nordafrika und dem Nahen Osten gezwungen wurden, ihre Heimat aufzugeben. Damit veränderte sich die Zusammensetzung der israelischen Gesellschaft massiv. Heute machen diese so genannten Mizrachim, die aus dem nordafrikanischen Raum stammenden Jüdinnen und Juden und ihre Nachfahren, etwa 53% der israelischen Bevölkerung aus. Dazu kommen über 164.000 äthiopische Jüdinnen und Juden. Vor allem die Mizrachim sind inzwischen auf einem sehr guten Weg, ihre lange Zeit marginalisierte Rolle in der israelischen Gesellschaft deutlich zu verbessern.[3] Die Hegemonie des aschkenasisch europäischen Judentums bröckelt stark. Mizrachim stehen viel konsequenter als früher zu ihren kulturellen Werten, ihrer Erinnerung und ihren religiösen Überzeugungen. Sie wählen in der Regel religiöse und nationale Parteien rechts der Mitte und haben gegenüber der nichtjüdischen arabischen Bevölkerung nicht selten größere Vorbehalte als die Aschkenasim, etwa auch in Bezug auf jüdische Siedlungen im Westjordanland. In vielerlei Hinsicht kommt es zu einer stärkeren „Orientalisierung“, einem Bewusstsein für die orientalische Geschichte Israels und einer kritischen Sicht auf den europäisch dominierten sozialistischen Zionismus der Anfänge des 20. Jh.s. Dass in Israel auch 2 Millionen Araber – sehr viele als Staatsbürger mit entsprechenden Rechten – leben und über 500.000 Menschen aus anderen Ländern, nicht zuletzt aus Asien, muss unbedingt erwähnt werden, um die Vielgestaltigkeit des Landes zu erklären.

Die Macht der Bilder

Die öffentliche Debatte um Israel und Palästina wird heute bekannterweise sehr stark in den social media geführt. Unzählige Postings von beiden Seiten dienen zu einem gewissen Teil der Aufklärung, zu einem größeren der Propaganda. Auch hier hat die pro-palästinensische Seite mit einer weit höheren Zahl an Postings und auch Likes die Nase vor der pro-israelischen. So ist etwa vor allem die Plattform tik:tok, deren Inhalte kaum auf Glaubwürdigkeit geprüft werden, mit dem #freepalestine hashtag dramatisch höher vertreten als durch #standwithisrael. Unzählige Reels, Memes und Cartoons tun das übrige dazu, ein Feindbild zu zementieren. Hier findet sich, um aus vielen Tausenden nur ein – in Varianten wiederkehrendes – Beispiel zu nennen, etwas das Bild eines mit der Palästinaflagge bekleideten Löwen, der die Ratte Israel verspeist[4]:

Man bedient sich dabei zum einen der uralten antisemitischen Gleichsetzung von Jüdinnen und Juden mit Ratten – ein Motiv, das sich auch die Nazis in ihrem Propagandafilm „Der ewige Jude“ zunutze machten, und beerbt zum anderen das Motiv des Löwen, das traditionell für den Stamm Juda steht. Die „wahren“ Judäer sind jetzt die Palästinenser, so die Botschaft.

Was kann nun ein Institut wie die Judaistik oder eine Plattform wie RaT tun, um in dieser Situation wissenschaftlich fundiert und mit Blick auf die breite Öffentlichkeit zu informieren, zu lehren und zu forschen? Man darf in keinem Fall ermüden, die Geschichte des Judentums von den Anfängen bis zur Gegenwart zu erzählen und zu erforschen, dabei einen Schwerpunkt auf das Land und seine Bedeutung zu setzen. Dabei müssen auch postkoloniale und postzionistische Entwürfe auf ihre Glaubwürdigkeit, ideologische Einseitigkeit und Problematik hin untersucht werden dürfen, ohne sofort in ein rechtes ideologisches Eck gedrängt zu werden. Wesentlich ist auch, dass der Aspekt der religiösen Betrachtung des Landes aus allen Perspektiven viel stärker bewusst gemacht wird, als dies derzeit geschieht. Es muss deutlich werden, dass Israel für Jüdinnen und Juden kein kolonialistisches Programm der Moderne darstellt, sondern ein zum Kernbestand kultureller und religiöser Identität gehörendes Element. Antisemitismus muss klar als eigenständiges Phänomen schonungslos benannt und von einer Gleichsetzung mit Rassismus abgeraten werden. Nur so wird deutlich werden, warum Israel zum Reibebaum der Welt wird, zu einem kollektiven Sündenbock, der individuell auch die Jüdinnen und Juden in der Diaspora mit einschließt. Wissenschaft, Politik und Medien sind aufgefordert, intensiv zusammenzuarbeiten.


[1] https://www.google.com/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=&cad=rja&uact=8&ved=2ahUKEwiNpKfu7-aCAxUw9rsIHecHCAoQFnoECA8QAQ&url=https%3A%2F%2Fwww.vielfalt-mediathek.de%2Fwp-content%2Fuploads%2F2020%2F12%2Famira_wahrnehmung_nok.pdf&usg=AOvVaw2MJYm159AQvs5jJXAvJ6xG&opi=89978449

[2] Vgl. etwa den Bericht in: https://scholarworks.brandeis.edu/esploro/outputs/9924088244301921.

[3] Vgl. dazu Lidia Averbukh. Israel auf dem Weg in den „Orient“? Mizrachische Juden gewinnen kulturell und politisch an Bedeutung, SWP-Aktuell 16 (2017), 1-8.

[4] Fotos und Beispiele u.a. unter:

www.youtube.com/watch?v=kXGywcmm_nY

twitter.com/Somalilandaa/photo

twitter.com/Bernadotte22/status/1724210053933085053

www.facebook.com/her.halimize/

twitter.com/Atif_Faseeh/status/1724362011570765944

[Anm. der Redaktion: Wir geben diese Links hier nur wieder, um ihre weite Verbreitung in den sozialen Medien zu dokumentieren und verurteilen die mit diesen Bildern transportierten antisemitischen Botschaften aufs Schärfste. Wir raten davon ab, die hier verlinkten Kanäle mit Aufmerksamkeit in Form irgendwelcher Interaktionen zu „belohnen“.]


Photo Credits Coverfoto: (C) Gerhard Langer


RaT-Blog Nr. 23/2023

  • Univ.-Prof. Mag. Dr. Gerhard Langer ist Vorstand des Instituts für Judaistik an der Universität Wien und Vize-Sprecher des Forschungszentrums "Religion and Transformation".