Workshop Zeitdiagnostik religiöser Vielfalt in Wien und Österreich

Die Ereignisse im Gefolge des 7. Oktobers 2023 haben erneut gezeigt, wie komplex und teilweise auch konfliktgeladen die religiös-weltanschauliche Situation in Österreich sein kann und welche vielfältigen Konsequenzen sie für das Leben in der Stadt hat – im öffentlichen Raum, im Beruf und/oder im privaten Umfeld. Die Antisemitismus-Meldestelle des Bundesministeriums für Inneres sowie die Dokumentationsstelle Islamfeindlichkeit und antimuslimischer Rassismus haben bekanntgegeben, dass diese neue Phase des Nahostkonflikts zu einem starken Anstieg der antisemitischen und islamfeindlichen Vorfälle in Österreich geführt hat (Bundesministerium Inneres o.J.; Dokustelle Islamfeindlichkeit o.J.). Die Wiener Bildungsdirektion wies darauf hin, dass es dringend notwendig ist, den Nahostkonflikt in den Schulen zu thematisieren (Bildungsdirektion Wien n.d.). Und Andrea Pinz, die Leiterin des Erzbischöflichen Amtes für Schule und Bildung der Erzdiözese Wien, hat festgestellt, dass der Konflikt auch den Religionsunterricht erreicht hat (Erzbischöfliches Amt für Schule und Bildung 2023).

Um mit dieser dynamischen Situation adäquat umgehen zu können brauchen Menschen, die professionell mit Religion und religiöser Vielfalt konfrontiert sind (wie etwa Lehrer:innen, Polizist:innen, Verwaltungsangestellte oder Journalist:innen), möglichst klare und fassbare Begriffe. Die großen akademischen religionswissenschaftlichen und -soziologischen Debatten mit ihren paradigmatischen Aussagen helfen in dieser Situation nur bedingt weiter: Die anhaltende Kritik des Säkularisierungsparadigmas durch Autor:innen wie David Martin (1978), José Casanova (1994) und Grace Davie (2013) hat das intuitive Verständnis von Religion und religiöser Vielfalt weiter in Frage gestellt. In die gleiche Richtung verweisen die Debatten um die Individualisierungstheorie (Luckmann 1967), die Globalisierungstheorie (Beyer 2013; Luhmann 2000), die Theorie der Postsäkularen Gesellschaft (Habermas 2009) und/oder die Theorie der Re-Sakralisierung (Joas 2019). Sie alle betonen die Komplexität der gegenwärtigen Situation, bringen sie aber nur selten auf konkrete Begriffe.

Genau hier liegt das Ziel des Workshops „Zeitdiagnostik religiöser Vielfalt in Wien und Österreich“. Im Rekurs auf das Konzept der sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnostik soll er mit einem innovativen Fokus an diese Debatten anschließen. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich im deutschsprachigen Raum eine differenzierte Debatte zur sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnostik entwickelt – etwa am Begriff des hybriden Subjekts (Reckwitz 2020), der Weltrisikogesellschaft (Beck 2008) oder der Multioptionsgesellschaft (Gross 1994). Begleitet werden diese Debatten von Metareflektionen zur Zeitdiagnostik etwa von Thomas Alkemeyer/ Nikolaus Buschmann/Thomas Etzemüller (2019), Oliver Dimbath (2016) sowie Uwe Schimank/Ute Volkmann (2007/2008).

Alle diese Zeitdiagnostiken betonen die Dynamiken des sozialen Feldes in unterschiedlichen sozio-kulturellen Kontexten und wenden sich gegen paradigmatische Aussagen. Sie nutzen konkrete Fallbeispiele, um zentrale Aspekte der Gegenwartskultur begrifflich zu fassen. Aktuelle Theoriedebatten werden dabei als erste Heuristiken genutzt. Im Zentrum steht dabei das konkrete Verständnis sozialer Tatsachen in der Gegenwartskultur (Oliver Dimbath 2016, S. 25-59). Dieser Zugang kann auch einen differenzierten Zugriff auf aktuelle Phänomene religiöser Vielfalt in Wien und Österreich eröffnen. Der zweitägige Workshop soll die allgemeinen Konturen der Zeitdiagnostik religiöser Vielfalt umreißen, die Situation in Wien und Österreich skizzieren, Vergleiche mit der Schweiz (minimaler Kontrast) und Südafrika (maximaler Kontrast) anstellen und die Diskussionen in einer Abschlusssitzung zusammenführen.

Im Zentrum stehen die folgenden vier Fragen:

  • Wodurch zeichnet sich religiöse Vielfalt in Wien und Österreich aus?
  • Wie lässt sie sich praxisnah auf den Begriff bringen?
  • Worin bestehen die Besonderheiten der Situation vor Ort im internationalen Vergleich?
  • Was bedeutet dies für professionelles Handeln?
 13.9.202414.9.2024
9:00 – 10:30 Focus: Switzerland Dr. Carla Hagen (University Bern / CH)Dr. Manéli Farahmand (Centre intercantonal d’information sur les croyances / CH) Chair: N.N.
10:30 – 11:00 Coffee Break
11:00 – 12:30Introduction + Keynotes Keynote: Univ. Prof. em. Dr. Grace Davie (University Exeter / UK)Keynote: Univ. Prof. Dr. Oliver Dimbath (University Koblenz / D) Chair: Karsten LehmannFocus: South Africa Univ. Prof. Dr. Asonzeh Ukah (University Cape Town / SA)Dr. Fungai Chirongoma (University Cape Town / SA) Chair: MA Anissa Strommer
12:30 – 14:00Lunch BreakLunch Break
14:00 – 15:30Focus: Vienna Dr. Anna Rosa Galiley (University Vienna / A)HS-Prof. Dr. Karsten Lehmann (KPH Vienna/Krems / A) Chair: Dr. Elif MedeniFinal Session: Assoz. Prof. Dr. Jakob Deibl (University Vienna / A)
15:30 – 16:00Coffee Break 
16:00 – 17:30Focus: Austria Univ. Prof. Dr. Handan Aksünger-Kizil (University Vienna / A)HS-Prof. Dr. Edda Strutzenberger-Reiter (KPH Vienna/Krems / A) Chair: N.N. 

Der Workshop wird von RaT – Research Centre ‚Religion and Transformation in Contemporary Society‘, der Stadt Wien und der KPH Wien/Krems finanziert. Die Organisation liegt bei HS-Prof. Dr. Karsten Lehmann. Die Workshopsprache ist Englisch.

Bei Interesse an der Teilnahme wird um Anmeldung per Mail an marian.weingartshofer@univie.ac.at gebeten.


Referenzen:

  • Alkemeyer, Thomas / Buschmann, Nikolaus / Etzemüller, Thomas (Hg.), Gegenwartsdiagnosen, Kulturelle Formen gesellschaftlicher Selbstproblematisierung in der Moderne, transcript 2019.
  • Beck, Ulrich, Weltrisikogesellschaft, Suhrkamp 2008.
  • Beyer, Peter, Religions in global Society, Routledge 2013.
  • Bildungsdirektion Wien (n.d.), Nahost-Konflikt – über Krieg reden (letzter Zugriff: 12.8.2024).
  • Bundesministerium des Inneren (n.d.), Noch nie so viele Übergriffe (letzter Zugriff: 12.8.2024).
  • Casanova, José, Public Religions in the modern World, University of Chicago Press 1994.
  • Davie, Grace, The Sociology of Religion, A critical Agenda, Sage Publications 22013.
  • Dimbath, Oliver, Soziologische Zeitdiagnostik, Generation – Gesellschaft – Prozess, utb 2016.
  • Dokustelle Islamfeindlichkeit (n.d.), Besorgniserregender Anstieg von Antimuslimischen Rassismus (letzter Zugriff: 12.8.2024).
  • Erzbischöfliches Amt für Schule und Bildung (n.d.), Nahost-Konflikt auch im Religionsunterricht präsent (letzter Zugriff: 12.8.2024).
  • Gross, Peter, Die Multioptionsgesellschaft, Suhrkamp 1994.
  • Habermas, Jürgen, Zwischen Naturalismus und Religion, Suhrkamp 2009.
  • Joas, Hans, Die Macht des Heiligen, Eine Alternative zu der Geschichte von der Entzauberung, Suhrkamp 2019.
  • Lehmann, Karsten / Reiss, Wolfram (Hg.), Religiöse Vielfalt in Österreich, Nomos-Verlag 2022.
  • Luckmann, Thomas, The invisible Religion, The Problem of Religion in modern Society, Macmillan Company 1967.
  • Luhmann, Niklas, Die Religion der Gesellschaft, Suhrkamp 2000.
  • Martin, David, General Theory of Secularization, Harper & Row 1978.
  • Reckwitz, Andreas, Das hybride Subjekt, Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne, Suhrkamp 2020.
  • Schimank, Uwe / Volkmann, Ute (Hg.), Soziologische Gegenwartsdiagnosen I, Eine Bestandsaufnahme, VS Verlag 22007.
  • Volkmann, Ute / Schimank, Uwe (Hg.), Soziologische Gegenwartsdiagnosen II, Vergleichende Sekundäranalysen, VS Verlag 22008.

Photocredits: (C) Brittani Burns auf Unsplash


RaT-Blog Nr. 16/2024

  • HS-Prof. Dr. Karsten Lehmann ist Professor für 'Interreligiosität' an der KPH Wien/Krems und Leiter des Spezialforschungsbereichs Interreligiosität (SIR) ebendort. Seit einigen Jahren ist Lehmann außerdem Mitglied des Forschungszentrums RaT.

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