Unsichere Aussichten und Angst unter den Christen Syriens

Wie die offiziellen Äußerungen der zahlreichen in Syrien vertretenen Kirchen verdeutlichen, hat der Zusammenbruch des Assad-Regimes und die rasante Eroberung ganz Syriens durch die Hayat Tahrir al-Sham (HTS), eine radikal-islamistische Koalition jihadistischen Ursprungs, die Christen des Landes in tiefe Unruhe versetzt.

Die symbolträchtige Einnahme von Damaskus

Die Eroberung von Damaskus in der Nacht von 7. auf den 8. Dezember war auch deshalb besonders symbolträchtig, weil sowohl das katholisch-melkitische, das syrisch-orthodoxe Patriarchat als das griechisch-orthodoxe Patriarchat von Antiochien dort seinen jeweiligen Sitz hat. Seit seinen Anfängen spielte das Gebiet des heutigen syrischen Staates eine zentrale Rolle für das Christentum. Auf dem Weg nach Damaskus soll Paulus dem auferstandenen Christus begegnet sein. Syrische Kirchenväter trugen maßgeblich zur Formulierung der christlichen Doktrin in den ersten Jahrhunderten nach Christus bei. Darüber hinaus spielten Christen zumindest anfangs eine bedeutende Rolle im ersten islamischen Großreich, dem Kalifat der Umayyaden (661-750), dem Damaskus als Hauptstadt diente. So war beispielsweise der bis heute wichtige Kirchenvater Johannes von Damaskus (gest. 749), bevor er sich ins Kloster Mar Saba in Palästina zurückzog, ein höherer Beamter unter den Umayyaden.

Auf den umayyadischen Kalifen Umar II. gehen laut islamischer Rechtslehre die Regelungen der sogenannten Dhimma, dem Status der sogenannten ahl al-kitab, der Leute des Buches, (vorrangig Juden und Christen), zurück. Der Dhimma-Vertrag verpflichtet den islamischen Herrscher zum Schutz des Lebens und Besitzes der Schutznehmenden, der sogenannten Dhimmis, sowie zur Toleranz ihrer religiösen Praktiken. Im Gegenzug waren die Dhimmis neben anderen Regelungen, wie etwa dem Verbot, Waffen zu tragen, neue Kirchen zu errichten oder bestehende zu renovieren, zur Entrichtung der Kopfsteuer (jizya) verpflichtet. Auch das Läuten der Kirchenglocken wurde untersagt.

Trotz der Einschränkungen in islamischer Zeit erhielt sich die große kirchliche und kulturelle Vielfalt in Syrien. Während sich die alteingesessenen griechisch-orthodoxen und katholisch-melkitischen Syrer bis heute mehrheitlich als Teil der arabischen Kultur fühlen, fanden syrisch-aramäische und assyrische Christen nach den Massakern an den syrischen Christen in der Südosttürkei 1915 im Nordosten Syriens, das derzeit von kurdischen Kräften kontrolliert wird, Zuflucht. Ebenso bauten sich zahlreiche Überlebende des Völkermordes an den Armeniern eine neue Existenz in Syrien auf.

Die Christen unter dem Baath-Regime

Vor dem Arabischen Frühling stellten die Christen fast zehn Prozent der Bevölkerung (fast zwei Millionen) dar. Die Tatsache, dass das gesellschaftliche Mosaik Syriens seit jeher auch zahlreiche islamische sowie nichtislamische Gemeinschaften wie Alawiten, Drusen, Zwölfer-Schiiten, Ismailiten und Jesiden sowie nichtarabische Ethnien wie auch Kurden, Tscherkessen und Tschetschenen umfasst, minderte das Gefühl der Verwundbarkeit unter Christen. Dennoch sank der Anteil der Christen von fast zehn Prozent der Bevölkerung vor dem Bürgerkrieg seit 2011 auf 2,5 Prozent, wie das US State Department 2023 schätzte.

Das Baath-Regime unter Hafez al-Assad und später seinem Sohn Bashar al-Assad förderte einen säkular geprägten, religiös inklusiven arabischen Nationalismus. Unter ihnen hatte Syrien offiziell keine Staatsreligion, wobei Artikel drei der Verfassung jedoch vorschreibt, dass das Staatsoberhaupt muslimisch sein müsse. Das Regime war darauf bedacht, dass Christen in staatlichen Institutionen repräsentiert waren. Darüber hinaus setzte das Baath-Regime auf einen direkten Draht zu den Kirchenoberhäuptern als Vertreter ihrer jeweiligen Gemeinschaften, welche für das Personenrecht (Ehe, Scheidung, Erbschaft) zuständig sind. Dieses sogenannte millet– oder neo-millet-System geht auf die Praxis im osmanischen Reich zurück.

Die Lage der Christen nach 2011

Mit dem Ausbruch des Arabische Frühlings, sprachen die Kirchenoberhäupter ihre Unterstützung für das syrische Regime aus, auch weil Teile der Opposition zusehends salafistisch-jihadistisches Gedankengut vertraten. Ein weitverbreiteter Spruch im jihadistischen Lager war: „Die Alawiten ins Grab, die Christen nach Beirut“. Zahlreiche Christen, darunter Geistliche, wurden entführt, ermordet und enteignet. Eine große Anzahl an Kirchen und Klöstern wurde zerstört. Die prominentesten Fälle sind jene der syrisch-orthodoxen und griechisch-orthodoxen Bischöfe von Aleppo, die 2013 entführt wurden und seitdem als verschollen gelten.

Während des Krieges stilisierte sich Bashar al-Assad als Beschützer der Christen und spielte mit deren Angst vor den islamistischen Rebellen. Als das christlich-aramäische Dorf Maaloula 2014 von der syrischen Armee und der Hisbollah zurückerobert wurde, besuchte al-Assad die Klöster und Kirchen, um die Schäden zu sichten und die Gemeinschaft seines Schutzes zu versichern.

Die Christen bildeten jedoch während des Arabischen Frühlings und des anschließenden Krieges keineswegs eine homogene Gruppe, die das Assad-Regime unterstützte. Einerseits fanden sich in der Opposition anfangs auch prominente christliche Syrer, wie Michel Kilo und Anwar al-Bunni, andererseits verweigerten auch zahlreiche Christen den Dienst in der syrischen Armee und flohen ins Ausland. Ihr Besitz wurde konfisziert, wenn ihre  Familien keine Kompensation zahlten. Auch befanden sich unter den politischen Gefangenen, die in den vergangenen Tagen aus syrischen Gefängnissen freikamen, Syrer aller Religionsgruppen. Die Unterstützung der Kirchen für Assad nach dem Arabischen Frühling versetzt daher die Kirchenoberhäupter heute in eine heikle Lage. In Anspielung auf das ungeahnte Ausmaß der Gräueltaten in den Gefängnissen, sagte das syrisch-orthodoxe Patriarchat in einer Stellungnahme am 14. Dezember: „Die Kirche ist voller Ehrfurcht vor den Entwicklungen der letzten Tage, welche das Ausmaß der Tyrannei offenbarte und die große Ungerechtigkeit verdeutlichte, die ausgeübt wurde und die vielen nicht bewusst war“.

Was erwartet nun die Christen?

Abu Muhammad al-Jolani, der seine Laufbahn im Irak bei al-Qaida begann, daraufhin ihren Ableger in Syrien, die Jabhat al-Nusra leitete, und sich seit einigen Jahren offiziell vom globalen Jihadismus und dessen Methoden distanziert, ist seit dem Beginn der Offensive Ende November bemüht, den Ängsten der „Minderheiten“ entgegenzuwirken. Im Zuge der Einnahme Aleppos verlautbarte er beispielsweise „Vielfalt ist unsere Stärke, nicht unsere Schwäche“. Weiters gab es laut dem syrisch-orthodoxen Patriarchat zahlreiche Treffen zwischen hochrangigen Geistlichen der Kirche und „Vertretern der Revolution“.

Unter dem Begriff „Minderheiten“ subsumiert al-Jolani auch Drusen und Alawiten, ihre Unterstützung für das Assad-Regime schwand zuletzt. Im August 2023 fanden in Suwayda, einer von mehrheitlich Drusen bewohnten Provinz im Süden des Landes, schwere anti-Regime-Proteste statt, die von den religiösen Anführern der Drusen teilweise unterstützt wurden. Bereits 2022 hatte sich al-Jolani um Annäherung an die Drusen bemüht, mit Hinweis auf Sure 2:256 des Koran: „la ikrah fi al-din„, „Kein Zwang in der Religion“.

Dass al-Jolani anscheinend die nicht-sunnitische und nicht-arabische Bevölkerung unter dem Begriff „Minderheiten“ (aqalliyat) subsumiert, statt sich des auf Arabisch geläufigeren Begriffs „tawa’if“ (Gemeinschaften) zu bedienen, wirft Fragen auf und kann als Entgegenkommen an den Westen verstanden werden, der Wert auf den Schutz von „Minderheiten“ legt. Die syrischen Christen jedoch sehen sich nicht als Minderheit und lehnen diese Bezeichnung ab, weil sie diese mit der Dhimma und einem Gefühl der Fremdheit und Ohnmacht im eigenen Land assoziieren. In seiner Predigt am 15. Dezember erinnerte der griechisch-orthodoxe Patriarch daran: „Wir sind nicht Gäste in diesem Land, noch kamen wir heute oder gestern. Wir stammen von den alten Wurzeln Syriens und sind so alt wie das Jasmin von Damaskus“.

HTS hat bereits Erfahrung im Umgang mit Christen, nämlich in Idlib, wo al-Jolani eine lokale Regierung auf die Beine stellte. Wassim Nasr, Journalist bei France 24, besuchte die Provinz im Mai 2023 und recherchierte dort auch zur Situation der einheimischen Christen. Eines der Probleme, das er berichtete, war die Enteignung von Drusen und Christen durch HTS. Die Lage soll sich jedoch mit der Zeit etwas gebessert haben. So durften die Christen Kirchen renovieren, jedoch keine Kirchen zurückgewinnen, die in Moscheen umgewandelt worden waren. Noch symbolträchtiger ist, dass Christen in Idlib bisher weder Kirchenglocken läuten lassen noch Kreuze auf Kirchen setzen durften. Die islamische Kopfsteuer gab es allerdings nicht. Es ist daher zurzeit unklar, inwieweit sich HTS in ihrem Umgang mit nicht-Muslimen von traditionellen islamischen Vorstellungen leiten lässt.

Ausblick

Die Zukunft der Christen in Syrien hängt daher davon ab, inwiefern HTS unter al-Jolani ihre Vorstellungen eines islamischen Staates und Gesellschaft nun umsetzen. Ebenso schwerwiegend wird auch sein, inwieweit sie die massiven wirtschaftlichen und sozialen Probleme des Landes lösen können. Die Frage nach der Rückgabe von enteignetem Land und Besitz stellt eine der schwierigsten Herausforderungen dar, da beide Seiten – sowohl das Assad-Regime als auch die Rebellengruppen – entlang konfessioneller Linien enteignet haben. Außerdem werden die geopolitischen Entwicklungen und Interessen der Regionalmächte in Syrien Auswirkungen auf die Lage der Christen in Syrien haben. Offen bleibt daher gerade, was mit dem Nordosten Syriens passiert. Derweil haben die neuen Machthaber in Damaskus die Christen aufgefordert, nichts an ihren Weihnachtsfeierlichkeiten zu ändern. Dazu gehört, dass zumindest heuer die Glocken in Damaskus und ganz Syrien läuten dürften.


Photocredits: Weihnachtskrippe an der Universität Saint-Joseph in Beirut, (C) Anna Hager


RaT-Blog Nr. 21/2024