Überlegungen zu Hegels „Der Geist des Judentums“

Wir brauchen ein anderes außer uns, das in uns fährt. Wir allein können uns keinen allgemeinen Sinn verleihen, darum schauen wir neben uns, über uns und wieder in uns hinein.

Der Himmel als Raum der unendlichen Weite erscheint grenzenlos. Und so siedeln wir in ihm unseren Sinn an. Verorten ihn aber nicht nur, sondern machen ihn zu einem unsrigen und verleihen ihm Körper und geben ihm einen Namen – Gott.

Ein Gott, der, für die Welt und uns verantwortlich, Zentrum und Erlösung ist. Eine Welt, in der es einen Gott gibt, scheint eine erstrebenswerte zu sein, auch wenn die Frage nach ihm bereits Jahrhunderte der Menschheitsgeschichte füllt und für die größten Zerwürfnisse der Menschheit gesorgt hat.

Hegels Verständnis der Religion

Die drei großen monotheistischen Religionen das Judentum, das Christentum und der Islam, rekurrieren dabei auf sehr unterschiedliche Narrative, die im Namen Gottes ausgetragen werden. Ich möchte mich in Form eines (sehr) kurzen Kommentars auf Georg Wilhelm Friedrich Hegels frühe Schrift „Der Geist des Judentums“ konzentrieren. Die Religion nimmt in Hegels gesamter Systemtheorie jene Entwicklungsstufe ein, die das Bewusstsein vor der Kunst und Philosophie durchläuft. Zur Vervollkommnung des Geistes erfüllt die Religion für das Selbstbewusstsein damit eine einheitsstiftende sowie verwirklichende Funktion. Hegel grenzt das Christentum dabei stark vom Judentum ab. Nach seiner Auffassung stellt das Christentum die fortschrittlichere Entwicklung des Geistes dar:

Diese Veränderungen, die andere Nationen oft nur in Jahrtausenden durchlaufen, mußten beim jüdischen Volke so schnell sein; der Zustand der Unabhängigkeit, an allgemeine Feindschaft geknüpft, konnte nicht festhalten, er ist zu sehr der entgegengesetzte der Natur; […] der Zustand der Unabhängigkeit der Juden sollte ein Zustand einer völligen Passivität, einer völligen Häßlichkeit sein.[1]

Hegels Kritik am Judentum

Über den Vorwurf des Antijudaismus Hegels – wie auch jenen Kants, Fichtes, Schleiermachers und Schopenhauers – wurde in der Rezeption bereits viel diskutiert.[2] Und auch die vorliegende Stelle bezeugt eine Entgegensetzung des jüdischen Volkes zu allen anderen Nationen. Diffamierend werden allerdings erst solche Aspekte, die von einer Wesenhaftigkeit – oder hier von der Natur – des jüdischen Volkes ausgehen.

Hier verlässt Hegel eine historisch-kulturelle Dimension und leitet aber gerade von dieser ein Wesen des jüdischen Volkes ab, indem er es mit biblischen Narrativen von Abraham und Moses sowie mit den religiösen Praktiken des Judentums verbindet.[3]

Abraham: Die Trennung vom Anderen

In seinen frühen Schriften, die durch Herman Nohl lange als „theologische Jugendschriften“ bekannt waren, behandelt er nicht nur das Judentum, sondern vorrangig das Christentum, aber ebenso Moral, Liebe und Religion im weiteren Sinne. Im vorliegenden Fragment über das Judentum entwickelt Hegel eine Erklärung der Geschichte des Judentums und versucht die Frage zu beantworten, was das Schicksal desselben ist. Es wird schnell deutlich, dass Hegel biblische Figuren wie Abraham, Noah und Moses symbolisch benutzt, um die Genese des jüdischen Volkes als Geschichte von Zerstörung, Verdammnis und Verzweiflung zu charakterisieren. Die erste Figur, Abraham, der als Stammvater der Juden und damit als Begründer der Geschichte des jüdischen Volkes gilt, ist der Erzählung nach direkt zu Beginn von einer Trennung gekennzeichnet: „Der erste Akt […] ist eine Trennung, welche die Bande des Zusammenlebens und der Liebe zerreißt, das Ganze der Beziehungen, in denen er mit Menschen und Natur bisher gelebt hatte; diese schönen Beziehungen seiner Jugend […] stieß er von sich.“[4] Gottes Berufung Abrahams markiert also einen radikalen Bruch zwischen ihm und der Welt, nach der er einen Prozess der Entfremdung oder man könnte auch sagen der Entmenschlichung durchläuft. Als feindseliger Herrscher stellt er jene Einheit dar, die nicht das Seiende, sondern das rein Gedachte bzw. das Ideal zur Wirklichkeit erhebt.[5] Die Trennung Abrahams von der Welt markiert letztendlich auch die Trennung Gottes von der Welt: „Die ganze schlechthin entgegengesetzte Welt, wenn sie nicht ein Nichts sein sollte, war von dem ihr fremden Gott getragen, an dem nichts in der Natur Anteil haben sollte, sondern von dem alles beherrscht wurde.“[6] Gott wird damit für die Menschen ein unerreichbarer Gott, der durch Abraham für Entfremdung und Spaltung steht. Weil Gott so unerreichbar ist, erscheint seine Wirkungsmacht in der Natur als gewaltsam und feindselig, da Abrahams „Wurzel seiner Gottheit seine Verachtung gegen die ganze Welt war.“[7]

Noah und die Unterwerfung der Menschheit

Die zweite Figur, Noah (der der Chronologie folgend eigentlich der erste sein müsste), stellt für Hegel nicht nur eine die Menschheit rettende, sondern zugleich eine die Menschheit gefügig machende Figur dar. Um die Menschheit zu retten, musste er mit Gott einen Bund eingehen und die Menschen so zu Gehorsam erziehen. Dieser Gehorsam ist dadurch ebenso Ausdruck von Abhängigkeit der Menschheit vom guten Willen Gottes, der einzig durch das Band Noahs wiederhergestellt wurde: „[…] unter dem Lebendigen, das einer solchen Beherrschung fähig ist, legte es den Menschen das Gesetz auf, das Gebot, sich selbst so zu beschränken, daß sie einander nicht mordeten; wer diese Schranken überträte, der falle seiner Macht anheim und werde also zum Leblosen.“[8] Auch dies kann als Entfremdung zwischen Mensch und Gott interpretiert werden, da die Menschheit als solche einzig passiver Empfänger ist und vom allmächtigen, unerreichbaren Gott beherrscht werden muss, da sie alleinig nicht für ihren Selbsterhalt sorgen kann.

Moses, der Gesetzgeber und die Entfremdung

Die dritte biblische Figur, mit der sich Hegel am meisten auseinandersetzt, ist Moses. Ihm kommt die Rolle des Gesetzgebers zu, da er am Berg Sinai von Gott dazu bestimmt wird, seine gesetzliche Ordnung der Menschheit aufzuerlegen. Moses selbst symbolisiert damit die äußere, gesetzliche Ordnung, die das Verhältnis zwischen Gott und Mensch nach Hegel im Judentum wesentlich charakterisiert. Diese Gesetzlichkeit ist allerdings keine innere, selbstständige Gesetzlichkeit und deswegen befähigt es den Menschen auch nicht zur Freiheit. Im Gegenteil: Hegel spricht dem Judentum alleiniges Existenzrecht aus Feindschaft zu: „Eine allgemeine Feindschaft läßt nur physische Abhängigkeit, eine animalische Existenz übrig […].“[9] Nach Hegel ist dem Geist des Judentums inne geschrieben, ewig heimatlos und getrieben zu sein, da das jüdische Volk nie eine Einheit als Nation war, noch einen bleibenden Wohnsitz hatte. Ihre Existenz ist damit für ihn an den Gegensatz aller anderen religiösen Völker und Nationen gebunden, weswegen ihre physische Abhängigkeit allein an Gott geknüpft ist.

Antijudaismus, Rassismus und Fortschrittsdenken bei Hegel

Diese zugeschriebene absolute Passivität des Judentums übersetzt Hegel gewissermaßen als „Knechtschaft“[10] des jüdischen Volkes.

Wie das israelitische Volk nur teilweise sich gab und als was es sich im allgemeinen bezeichnete, das war ein Stamm desselben ganz; nämlich ein völliges aber dienendes Eigentum ihres Gottes, welche Diener denn auch ganz nur von dem Herrn genährt wurden, unmittelbar seine Haushaltung besorgten, seine Einnehmer im ganzen Lande und Hausdienerschaft ausmachten, seine Rechte zu behaupten hatten […].[11]

Es gibt noch viele andere Stellen in dem vorliegenden Fragment, die offen antijudaistische Narrative offenlegen. Ohne Frage bedient Hegel damit zu seiner Zeit dominant vorherrschende Erzählungstendenzen, die nicht nur dem Spektrum des Rassismus oder Antisemitismus zuzuordnen sind, sondern ebenso zum Antijudaismus gezählt werden müssen. Meiner Lesart nach erwächst gerade Hegels Antisemitismus und Rassismus erst aus dem Antijudaismus. Eine Essentialisierung sowie Hierarchisierung von Religionen ist in erster Hinsicht oberflächlich und in weiterer schlicht falsch. Das Christentum als fortschrittlichere oder vollendete Religion im Gegensatz zum Judentum aufzustellen, ist Symptom einer Fortschrittslogik, die sich selbst oder in diesem Fall das christliche Europa in das Zentrum des einzig Wahren stellt. Eine Essentialisierung wiederum lässt sich bei Hegel nur in einem extremen Maße verstehen, da er wie in dem eingangs erwähnten Zitat den Juden gar nicht erst eine anders geartete Natur zuschreibt, sondern das jüdische Volk entgegengesetzt der Natur also sogar als unnatürlich – oder man könnte auch sagen unmenschlich – charakterisiert.

Religion, Liebe und Einheit bei Hegel

Das vorliegende Fragment Hegels ist einschlägiges Beweisstück für ein Denken eines der größten Philosophen der Geschichte, der hinter seinen eigenen Maßstab fällt. Ein völlig anderes Bild geben aber diejenigen Stellen bei Hegel, in denen er von seinem frühen Standpunkt abweicht, wie zum Beispiel in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte und in der Phänomenologie des Geistes.[12] Es sollte betont werden, dass Hegel in der Phänomenologie des Geistes jedoch auch anerkennende Tendenzen gegenüber dem Judentum erkennen lässt und sie in seine Religionsphilosophie mit aufnimmt.[13]

Auch andere Abschnitte in den frühen Schriften lassen zumindest Momente durchblicken, in denen Hegel dem Judentum eine starke Relevanz zuschreibt, wenngleich es fragwürdig bleibt, wie er das Verhältnis zwischen Menschlichkeit und Religion bewertet: „Diese Religion [das Judentum; E.S] kann erhaben und fürchterlich erhaben, aber nicht menschlich sein […]“.[14] Interessant wäre es, sich die Verbindung von Religion und Liebe in Christentum und Judentum bei Hegel genauer anzuschauen. Denn die Fähigkeit zur Liebe scheint für ihn eine maßgebliche Bedingung dafür zu sein, um welche Qualität von Religion es sich handelt. Durch die Liebe kann der Bruch zwischen Ich und dem Anderen überwunden werden, indem sie eine Einheit in ihren Gegensätzen vereint eingehen. Die zugeschriebene Entfremdung des Judentums kann durch diese einheitsstiftende Form der Liebe abgelegt und eine Gemeinschaft von Religionen ermöglicht werden. In der Liebe wird das Ich erst frei, indem es sich im Anderen erkennt.


Literatur

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich. Frühe Schriften. Werke in 20 Bänden. Frankfurt: Suhrkamp, 1971.

Jaeschke, Walter. Die Vernunft in der Religion : Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels. Stuttgart-Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog, 1986.

Appel, Kurt. Entsprechung im Wider-Spruch : eine Auseinandersetzung mit dem Offenbarungsbegriff der politischen Theologie des jungen Hegel. Münster Hamburg London: LIT, 2003.


[1] Hegel 1971: 294.

[2] Vgl. Appel 2003: 18–20; vgl. Jaeschke 1986.

[3] Vgl. Hegel 1971: 274–296.

[4] Hegel 1971: 277.

[5] Vgl. ebd.: 278 f.

[6] Ebd.: 279.

[7] Ebd.: 279.

[8] Hegel 1971: 275.

[9] Ebd.: 283.

[10] Ebd.

[11] Ebd.: 285.

[12] Vgl. Jaeschke 1986.

[13] Vgl. Jaeschke 1986.

[14] Hegel 1971: 427.


Photocredits: Elin Samson


RaT-Blog Nr. 22/2024

  • Elin Samson studiert im Master Philosophie und verfasst ihre Masterarbeit über die körperlichen Dimensionen des Selbstbewusstseins bei Hegel. Parallel dazu ist sie für den Social Media Auftritt von RaT verantwortlich und Studienassistentin von Esther Heinrich.

    View all posts