
Ein Mensch – ein Erdling – vernetzt
Einen Erdling nicht nur als Mensch, sondern auch als organischen Teil unseres Planeten Erde zu begreifen bedeutet, dass dieser Erdling auch all jenes ist, was Er(dling) mit eigener Kraft bewirkt, um etwas in die Realität oder ins Leben zu rufen. Zugleich heißt dies nichts anderes, als dass der Erdling nicht mehr nur als wahrnehmbares, sinnlich vermitteltes Lebewesen zu verstehen ist, als materieller Leib mit der Fähigkeit auf andere, ihm fremde Materie einzuwirken, sondern darüber hinaus ist der Er selbst als all jene Produkte oder Resultate zu verstehen, die Er selbst erschaffen hat oder imstande ist zu erzeugen:

Die international tätige Multimedia- und Performancekünstlerin Eva Petrič hat in der Kollegienkirche in Salzburg die 9,5 m große Figur des Erdlings aus Idrija-Spitzenmuster (Bestandteil des UNESCO Weltkulturerbes und Leitmotiv vieler ihrer Arbeiten) als Mahnmal konzipiert. Ein Mahnmal, das die Auswirkungen humanoiden Verhaltens auf unsere unmittelbare und mittelbare Umwelt ins Gedächtnis rufen soll. Dass Erdlinge sich in produktiver Weise, also lösungsorientiert engagieren und Netzwerke oder Verflechtungen ausbilden, die auch andere dazu animieren sich zu expandieren, ist die eine Sache: Auf das soll das Helle der Spitze hinweisen. Wohingegen die andere Seite uns darauf aufmerksam machen soll, dass der Weg auch in diametral entgegengesetzter Weise beschritten werden kann, nämlich dann, wenn es um die Dekonstruktion oder Hemmung von Netzwerken geht, oftmals hervorgerufen durch Konflikte oder reaktives Verhalten: Auf das soll das Schwarze der Spitze hinweisen. Obgleich dem Idrija-Erdling durch die scharfen Kanten des Alu-Dibond zu seiner Form verholfen wird, will Er zugleich auf etwas anderes, das außerhalb seiner Form liegt, hinweisen. So dient der Erdling zugleich als Metapher dafür, dass das Netz der Spitze sich fiktiv über die Grenzen hinaus weiten kann: endlos – stets neue Verflechtungen eingehend. Denn: Alle Dinge sind verkettet, verfädelt und verliebt.[1]
Wir wollen damit Erdlinge als Agent:innen bezeichnen, die Machenschaften oder Verflechtungen nicht nur aus freiem Willen konstruieren, sondern diesen mitunter auch ohnmächtig gegenüberstehen oder unter ihnen zu leiden haben. Aber auch wollen wir den Erdling als das be-greifen, was als das 5. Element (neben Erde, Feuer, Wasser und Luft) benannt werden kann. In der griechischen Antike bereits hat Aristoteles den Äther als das 5. Element bezeichnet, der uns heute unter dem Begriff der Atmosphäre zugänglicher ist. Der Erdling ist zwar Teil dieser Atmosphäre, da Er einerseits aus ihr besteht, andererseits sie mit-erschafft – Er erschafft sie insofern, als Er qualitativ Einfluss auf sie ausübt, indem Er einerseits sie sich entfalten lässt und sie andererseits auch beeinflusst, sie manipuliert, da die Atmosphäre als allumfassendes Netzwerk (Matrix) funktioniert.
So soll der Erdling als Mahnmal dafür dienen, dass diese spezifische Erd-Atmosphäre aus der Wechselbeziehung von Erdling und Erde hervorgeht; es also der Verantwortung des Erdlings obliegt, die Atmosphäre in negativer Weise zu beeinflussen und damit unseren Planeten zu unterjochen.
Ein Mensch – ein Erdling – vernetzt sich
Ein Spiegel mit dem enormen Ausmaß von 12 m Durchmesser ziert den Boden und korrespondiert mit der lichten Kuppel der Kollegienkirche, einer der bedeutendsten Barockkirchen des Architekten J. B. Fischer von Erlach. Zugleich bildet er den Dreh- und Angelpunkt des Kunstwerkes, worin sich der Erdling reflektiert. Vieles, nicht nur der Erdling selbst, kann in diesem Spiegel zur Reflexion gebracht und unseren Blicken zugänglich gemacht werden. Ist aber das, was wir allgemein im Spiegel zu erkennen glauben, auch tatsächlich die Wiederholung eines spezifisch realen Objekts, wohlwissend, dass wir es durch den Blick in den Spiegel in anderer Perspektive repräsentiert bekommen? Einen ersten Ansatz auf die Frage liefern dabei die Astronauten der ISS-Kuppel: Sie erklären, dass unter veränderten Bedingungen, nämlich aus der Distanz einerseits und unter Aufhebung bestimmter physikalischer Gesetze andererseits, der Planet Erde zwar für uns immer noch derselbe bleibt, ein Perspektivenwechsel es uns aber ermöglicht, einen anderen Bewusstseins-Modus ihm gegenüber einzunehmen. Bringen wir diesen Gedanken mit der Reflexion im Spiegelbild in Verbindung, so lässt sich sagen, dass das Objekt des Spiegelbilds nie absolut identisch mit dem realen Objekt ist, indem es sich als Duplikat wiederholt, sondern eine gewisse Differenzierung immer schon mit sich trägt. Das Wort Itara im Sanskrit bezeichnet dies treffend, da es ‚Wiederholung‘ und ‚Abwechslung‘ zugleich bedeutet. So kann man über die Wiederholung sagen, dass sie nie das Identische wiedergibt,[2] sondern auch immer etwas Fremdes, auf die andere Seite des Objekts zeigt. Mit der Erde verhält es sich ebenso. Erst in dem Moment, wo wir sie von oben überblicken, begegnen wir ihr in anderer Weise, treten mit ihr in ein anderes Verhältnis, treten wir ihr mit Empathie entgegen. Das in anderem Licht Erscheinende lässt uns auch ihre Strukturen und Vernetzungen besser verstehen, worin Erdlinge integraler Bestandteil sind.


Ein Erdling – ein Mensch vernetzt sich in der weißen Zelle
Die Weite und dekorativ monochrome Sparsamkeit der Kollegienkirche ähnelt den idealen musealen Ausstellungsbedingungen wie sie für die 2. Hälfte des letzten Jahrhunderts proklamiert wurden. Der weiße Raum in einem Museum wurde zu einem Raum erklärt, in dem das Bewusstsein sich nicht nur allgemein öffnet, sondern besonders geschärft wird für die darin ausgestellten Kunstwerke. Die Atmosphäre hier erlaubt es, ohne Ablenkung in die Kunstwerke einzutauchen und Netzwerke in besonderer Weise zu erleben.[3] Spiegel haben die Eigenschaft, dass sie etwas in unser Blickfeld rücken können, das ohne sie unseren Blicken nicht zugänglich wäre: wie etwa vorbeilaufende Besucher:innen, die sich ebenso im Spiegel reflektieren können.[4] Aber auch unsichtbare Netzwerke längst vergangener Zeiten, beinahe so unscheinbar wie das Drehen des Erdlings um sich selbst, wollen wieder aufleben. So soll sich unser Fokus auch auf die von Pfaffinger und Meinrad Guggenbichler (Abb. 4 und 5) ausgeführten Figuren in den Seitennischen der Kirche richten. Der teils aktive Gestus der barocken Figuren lässt Beine oder Arme aus den Nischen in den freien Kirchenraum treten. Auch sie appellierten damals auf diese Weise an die Besucher:innen und strebten so Vernetzungen an. Wir dürfen auch diese nicht übergehen, denn auch sie sind eingebunden in das Netz des Lebens und verdienen Empathie. Und wenn sich der Erdling im gigantischen Spiegel dreht und sich darin reflektiert, so denken wir vielleicht auch an Räume, Zeiten und Atmosphären, die es zu bewahren gilt.


Literaturverzeichnis
Deleuze, Gilles: Differenz und Wiederholung. Aus dem Französischen von Joseph Vogl. München: Fink 2007.
Eco, Umberto: Über Spiegel und andere Phänomene. Aus dem Italienischen v. Burkhart Kroeber. München/ Wien: C. Hanser Verlag 1988.
O᾽Doherty, Brian: In der weißen Zelle. Hg. vonWolfgang Kemp. Berlin: Merve Verlag 1996.
Nietzsche, Friedrich: Also sprach Zarathustra. Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1999.
[1] Nietzsche 1999. S. 402. (Das Nachtwandler-Lied in: Also sprach Zarathustra).
[2] Vgl. Deleuze 2007,
[3] Vgl. Eco 1988, S. 29-31.
[4] Vgl. O᾽Doherty 1996, S. 9.
Photocredits: Abbildungen mit freundlicher Genehmigung zur Veröffentlichung von: Verwaltungsdirektor der Kollegienkirche Mag. Mag. Wallisch-Breitsching.
(C) Abb. 1-3: Eva Petrič, Abb. 4-5: Petra Pirklhuber.
RaT-Blog Nr. 7/2025