
Dass sich der Mensch in der Welt orientieren kann, ist für ihn seit Urzeiten ungemein hilfreich; nicht nur um zu überleben, sondern auch um sich selbst zu verstehen. Orientierung bieten ihm nicht nur geographische Kenntnisse oder Kulturtechniken, wie die Kontrolle des Feuers oder das Behauen von Steinen: Insbesondere das Wissen um die eigene Vergangenheit, Verständnis von Traditionen und Ritualen sowie der kollektiven Geschichte ermöglichen es dem Menschen, eine intellektuelle Landkarte auszubilden und sich in den kulturellen Räumen und Zeiten zurecht zu finden. Daher überrascht es nicht, dass seit der Frühzeit der Menschheit Wissen, Einsicht und geschichtliches Verständnis höchste Wertschätzung erfahren.[1] Die Studien von Claude Lévi-Strauss sprechen Bände davon, wie wichtig die Ausformung und Weitergabe von Weltverständnissen ist.[2] Diese kulturellen Errungenschaften haben nicht nur eine Bedeutung für die jeweilige Generation; ihr Gewicht wiegt sogar für die kommenden Generationen umso schwerer, wenn bewusst wird, dass durch die Tradition erarbeitetes Wissen und Verständnis nicht verloren gehen, sondern erinnert und für die Zukunft bewahrt werden. Mit einer leicht pathetischen Note lässt sich sagen, dass die Tradition (im größtmöglichen Verständnis) den intellektuellen Selbstverlust verhindert.
Wissen, Einsicht und intellektuelle Bildung erfahren daher den Status von Werten, weil durch sie eine gewisse Identitätssicherung im Selbstverständnis und Orientierung im existenziellen Horizont möglich sind. Dies lässt deutlich werden, dass Werte nicht um ihrer selbst willen schützenswert, sondern vielmehr ein Ausdruck der conditio humana sind. Sie schützen die Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Selbstverständnis.[3]
Zum Problem werden Werte, wenn sie sich nicht mehr an den zugrundeliegenden Erfahrungen orientieren, sondern der kapitalistische Markt zum entscheidenden Faktor wird und darüber bestimmt, ob diese Werte von Relevanz sind und wie ihr Marktwert ausfällt.
Diesem Problem geht Massimo Faggioli in seinem neuesten Buch nach,[4] in dem er den gegenwärtigen Status der katholischen Bildungstradition in den USA untersucht. Besondere Tiefenschärfe bekommt seine Analyse dadurch, dass er nicht die Frage nach katholischer Bildung an staatlichen Universitäten stellt, sondern ganz explizit den vermeintlich sicheren Hafen für diese im Hinblick auf katholische Hochschulen als Fokuspunkt wählt.
Als Startpunkt für seine Analyse nimmt Faggioli die Auswirkungen der römischen Überwachungskultur und den langen Schatten inquisitorischer Praxis gegenüber katholischen Theologen vor dem Zweiten Vatikanum in den Blick: Die neu gewonnene akademische Freiheit, die auf das Konzil folgte, war von kurzer Dauer. In einer beeindruckenden Dialektik wurde die Kontrolle durch kirchliche Autoritäten durch Autoritäten des Marktes ersetzt, die nun die Rahmenbedingungen für die akademische Theologie bestimmen (vgl. 15). Faggioli sieht einen entscheidenden Grund für die nachhaltige Skepsis der katholischen Theologie gegenüber kirchlichen Institutionen und Hierarchien, die z.T. bis zum Anti-Institutionalismus reichen kann: „Catholic theological anti-institutionalism, even though radical in its roots, has been welcomed by and functional to the neo-liberal system in our universities as well in our societies.“ (20)
Weil aber eine Abhängigkeit durch eine andere, von der kirchlichen Hierarchie zum neoliberalen Markt, ersetzt wurde, hat dieser Wechsel keinesfalls zu einem signifikanten Gewinn an Wissenschaftsfreiheit geführt: Vielmehr zeigt sich nun eine grundlegende Ausrichtung von Forschung und Lehre an den Anforderungen des Marktes – katholische Theologie hat dadurch das Marktprinzip internalisiert, ständig aufs Neue relevant bleiben zu müssen (vgl. 16, 130-132).[5] Für Faggioli schlägt sich dieses gesteigerte Relevanzbedürfnis darin nieder, dass sich die akademische Theologie prinzipiell an tagespolitischen, kulturpolitischen und identitätspolitischen Fragestellungen ausrichtet (vgl. 26-28, 64-69) und dadurch aber ihren eigentlichen, theologischen Kern aufgibt: Statt ein Bildungsideal und eine Bildungstradition weiterzuführen und sich gegen kurzsichtige Ausrichtungen und Moden zu verteidigen, führt diese Ausrichtung an bereits gesellschaftlich aufgeladenen Politik- und Kulturdebatten auch innerhalb der Theologie zu identitäts- und kulturpolitischen Kontroversen. Statt theologischer Kooperation und Weiterführung von katholischen Bildungstraditionen spaltet sich die katholische Theologie in Lager, die von ressentimentgeladenen Antiintellektualismus (vgl. 100 u.ö.) zu kirchenferner Sozialpolitik (vgl. 27) reichen.
Als Grunddatum dieser Entfremdung gibt Faggioli das Zweite Vatikanum und dessen Rezeption wie auch Weiterführung im Pontifikat von Franziskus (vgl. 44-50) an. Statt aber dieser Ablehnung nur einen dumpfen, aber wirkungsstarken Revanchismus zu attestieren, geht Faggioli in seiner Analyse ein Stück weiter: Neokonservative Strömungen, die z.B. Gefallen an vorkonziliarer Liturgie finden, sind Ausdruck eines Unbehagens und der Unsicherheit über das eigene Selbstverständnis, die Kompromissnotwendigkeit einer liberalen, demokratischen Ordnung und die notwendige Weiterentwicklung der Kulturlandschaft (vgl. 98f.). Doch laut Faggioli zeigt sich in dieser Ablehnung von Vat II und dem Pontifikat von Franziskus ebenso, dass dadurch Tradition als grundlegender Wert des Katholizismus auf dem Spiel steht (vgl. 49f.).
Faggioli ist sich bewusst, dass es für die gegenwärtigen Krisen in Bildungspolitik, akademischer Theologie und hierarchischer Kirche keinen simplen Patentlösungen geben kann. Vielmehr braucht es kollektive Anstrengungen, wieder akademische Theologie und kirchliches Leben miteinander zu verbinden, denn die Krisen sind keineswegs durch individuelle Anstrengungen zu beheben: Es braucht die gemeinsame Arbeit an der kirchlichen Identität, der katholischen Tradition und Widerstand gegen kurzsichtige Machtpolitik (vgl. 142-150). Der Rückzug in eine Wagenburgmentalität, die mit einer Trennung von säkularer Gesellschaft und kirchlichem Innenleben einhergehen würde und die Idee der katholischen Bildungstradition aufgeben würde, ist für ihn keine Option: Nicht nur ist eine solche binäre Trennung von Kirche und Welt nicht haltbar. Zudem war und ist die Kirche, was die akademische Theologie einschließt, ein unaufgebbarer Kulturträger für die gesamte Gesellschaft: Sie verteidigt Bildung nicht nur als intellektuelles Kapital gegen kapitalistische Marktprinzipien, sondern zeigt gesamtgesellschaftlich Verantwortung und hat daher auch Institutionen entwickelt, um Kultur über Jahrhunderte zu bewahren und relevant zu halten (vgl. 102-107). Daher ist es auch nicht vermessen, der Kirche die Funktion einer intellektuellen Arche beizumessen, die nicht nur kirchliche Güter bewahrt, sondern u.a. in Musik, Kunst, Architektur und Literatur hilft, einen beträchtlichen Teil des Menschheitserbes zu bewahren.
Auch wenn der Fokalpunkt von Faggiolis Analyse auf der US-amerikanischen Hochschullandschaft mit deren Eigenart von konfessionellen Institutionen liegt, lässt sich seine Analyse auch auf die europäische Hochschullandschaft wie die katholische Kirche insgesamt übertragen. Diese Einsicht Faggiolis sollte daher auch hierzulande Überlegungen über den Stellenwert von konfessioneller Theologie an staatlichen Hochschulen hinsichtlich der Frage beeinflussen, ob Theologie auch einen Mehrwert mit sich bringt, der über reine Forschung und Lehre hinausgeht. Besonders virulent zeigt sich die Frage nach dem Stellenwert einer breiten Theologielandschaft im Hinblick auf den Aspekt der Synodalität: Der synodale Prozess der katholischen Kirche verfolgt das Anliegen, die vielfältigen Stimmen zu hören und das gesamte Volk Gottes im Unterscheidungsprozess einzubinden. Aber Unterscheidung ist kein intuitiver Vorgang, sondern braucht Bildung und eine geschulte Offenheit, um zu erkennen, was der ‚Geist der Kirche‘ ist (vgl. Apg 2,7).[6] Um dieses Unterscheidungsvermögen auszubilden, bekräftigt das Abschlussdokument zur Weltsynode den Wert der Theologie und der theologischen Bildung für das gesamte Volk Gottes. Der Wert der Theologie liegt nicht alleine in Forschung und Lehre, sondern zeigt sich insbesondere darin, ein institutioneller Ort des Austauschs, der Beratung und Hilfe sowohl gegenüber den Bischöfen als auch den Gläubigen zu sein.[7] Es lässt sich daher mit anderen Worten sagen, dass die Theologie einen grundlegenden Wert für das kirchliche Leben hat.
Faggiolis Analyse lässt die Gefahr offensichtlich werden, wie schnell Kulturgüter unter das Diktat von kurzsichtigen Marktstrategien gestellt und damit zu austauschbaren Konsumgütern umgemünzt werden können. Dadurch zeigt sich aber auch für ihn, wie gefährlich eine Frontstellung zwischen vermeintlichem Konservatismus und Liberalismus sich auswirken kann, weil diese Frontstellung die eigenen Kräfte von institutioneller wie intellektueller Kohäsion sabotiert. Stattdessen ermöglicht eine aufrichtige Wertschätzung der (kirchlichen) Bildungstradition die akademische Freiheit, sodass Untersuchungen und Einsichten möglich sind, die vom Diktat der Marktlogik ausgeblendet werden sollen, weil sie unerwünscht, irrelevant oder sogar subversiv erscheinen.
[1] Dies gilt gleichermaßen, auch wenn Geschichte mythisch und in einem zyklischen Zeithorizont verstanden wird.
[2] Vgl. Claude Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie I (stw; 226), Frankfurt am Main 21981, 219-233.
[3] Vgl. Hans Joas, Die Entstehung der Werte (stw; 1416), Frankfurt am Main 1999, 255: „Werte entstehen in Erfahrungen der Selbstbildung und Selbsttranszendenz.“
[4] Vgl. Massimo Faggioli, Theology and Catholic Higher Education. Beyond Our Identity Crisis, Maryknoll 2024.
[5] Ebd., 96: „Now universities have become seminaries of another religion: seminaries for the high priesthood of capitalism and for the minor orders of the service economy.“
[6] Vgl. XVI. Ordentliche Generalversammlung der Bischofssynode, Für eine synodale Kirche: Gemeinschaft, Teilhabe, Sendung. Schlussdokument, Vatikan 2024, §45 (zugänglich unter: https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2025/2024-Abschlussdokument-WeltsynodeDEU-Documento_finale.pdf; Abruf 27.5.2025)
[7] Vgl. ebd., §67.
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RaT-Blog Nr. 11/2025