
“Solo le pido a Dios
Que el dolor no me sea indiferente
Que la reseca muerte no me encuentre
Vacía y sola sin haber hecho lo suficiente”[1] (Leon Gieco)
Der große Chronist des belagerten Sarajevos, Dževad Karahasan, der Autor, der mit Büchern wie seinem Tagebuch der Übersiedelung zeigte, wie man im Kleinen das Große sieht, beklagte einst, dass mit dem Kampf gegen seine Stadt nicht bloß irgendeine wie viele andere angegriffen würde, sondern das zweite Jerusalem, „weil allein in Sarajevo und in Jerusalem auf so kleinem Raum Gotteshäuser aller vier monotheistischen Religionen existierten und wirkten.“ Die Bedeutung dieser Zeilen klärt sich auf, wenn wir weiterlesen. In dem Text, berichtet Karahasan von einem Gespräch zwischen ihm und einem französischen Journalisten, der ihn in der belagerten Stadt besucht. Karahasan bemühte sich darin dem Franzosen zu vermitteln, dass ihn nicht die individuellen Unwegsamkeiten belasteten, die das Leben in einer belagerten Stadt mit sich brächten, sondern viel mehr die Gefahr, die für Sarajevo als Modell eines gelungenen Zusammenlebens in Vielfalt ausgehe.
„Es gelang mir nicht zu Ende zu reden, weil den Franzosen interessierte, wie ich es denn bei fünfzehn Grad minus in einer Wohnung ohne Fensterscheiben aushalten könne. In meiner Antwort bemühte ich mich aufrichtig, meinen Gesprächspartner davon zu überzeugen, dass es auszuhalten sei, und zeigte meine Hände und Füße, die keine Erfrierungen aufwiesen, ging wichtigtuerisch vor ihm auf und ab und fuchtelte mit den Armen, hüpfte und machte sonst noch alles Mögliche, um zu zeigen, dass die Kälte gar kein so großes Problem sei. Aber ein Problem sei, sagte ich, wenn auf der Welt nur noch ein Jerusalem übrigbleibe, weil die Ganzheit der Welt sich mindestens an zwei Orten manifestieren müsse, um zu überzeugen und von uns wirklich erlebt werden zu können.“[2]
Ein Ort an dem seit Jahrhunderten vier Weltreligionen – das Judentum, das orthodoxe und katholische Christentum, sowie der Islam – Seit an Seit lebten und Menschen unterschiedlicher Nationalität gemeinsam ihre Spuren und Zeichen in der Stadt setzten, dieser Ort sei in Gefahr zu verschwinden, durch ethnischen Chauvinismus, durch die Erhöhung der einen Gruppe und die Herabsetzung der anderen.
Natürlich kann Karahasans Punkt als rein urbanes Phänomen gedacht werden, als Verteidigungsrede für städtischen Multikulturalismus (Taylor), Superdiversität (Vertovec) oder Konvivialität (Gilroy)[3]. Er kann aber auch als zutiefst demokratisches Prinzip gelesen werden, als ein Prinzip, das Koexistenz in Vielfalt als wesentliches Element für gelungene Sozialität erkennt. Als ein Ideal, welches sich über Jahrhunderte entwickelt hat, dessen großer Wert sich aber erst richtig zeigte, nachdem im 20. Jahrhundert Begriffe wie „ethnische Säuberung“ ihr euphemistisches Mäntelchen verloren hatten.
Sarajevo entronn der Umsetzung dieses Traums kleiner, ängstlicher Männer nur um Haaresbreite und manche mögen bei der aktuellen politischen Lage in Bosnien und Herzegowina einwenden, es sei ihm gar nicht entronnen. Wie dem auch sei, mehr als dreißig Jahre später müssen wir uns eingestehen, dass heute nicht mehr nur das zweite, sondern auch die Existenz des ersten Jerusalems, des eigentlichen Jerusalems, auf dem Spiel steht.
Es wäre gewiss unredlich, Dževad Karahasan anzurufen und damit zu suggerieren, dieser – leider schon verstorbene – Intellektuelle, der sich gegen den Zugriff der Nachwelt nicht mehr wehren kann, stünde auf der Seite „des palästinensischen“ oder „des israelischen“ Volkes. Für derart plumpe Verallgemeinerungen und einem Denken in politischen Lagern wäre er gewiss nicht zu haben gewesen. Gleichwohl, so behaupte ich, hätte er für das Ideal des ersten Jerusalems, als einen Modellfall der gelungenen Koexistenz der Weltreligionen, Sprachen und Geschichten Partei ergriffen, ebenso wie er dies für sein zweites Jerusalem, für Sarajevo, für die konkrete Pluralität und Vielstimmigkeit seiner Stadt stets getan hat. Und für die Pluralität als politisch-ethisches Prinzip.
Im zweite Jerusalem, Sarajevo, wird die jüngere Geschichte der Stadt und des Landes in den Schulen nicht mehr in einer Weise gelehrt, die die Schrecken der Vergangenheit zu benennen weiß. Bosniakische Kinder erhalten einen anderen Geschichtsunterricht, als ihre serbischen Nachbarskinder und diese wiederum einen anderen als ihre kroatischen Schulkolleginnen und-kollegen. Dies ist, und das sei allen Erwachsenen die meinen, anders ginge es nicht und so solle es sein, ins Stammbuch geschrieben, ein armseliger Befund. Die Grundlage des Unterrichts bilden nicht geschichtswissenschaftliche Erkenntnisse, nicht die Menschen, die in Massengräbern verscharrt wurden, nicht die Leute, denen Unrecht angetan wurde, sondern die Gefühle der ethnischen Verletztheit. Es ist ein heiliger Zorn, der gegen jene heraufbeschworen wird, die angeblich solche Wunden am „eigenen Volkskörper“ hinterlassen haben, dass sie noch immer nicht verheilen konnten. Jene Verletzungen wären auch heute noch so präsent, dass die Anerkennung der Wunden, die im Namen des eigenen Volkes an der Menschheit geschlagen wurden, für viele unmöglich zu sein scheint sei.
Jener Ungeist der wahrhaften, gerechten, überschießenden Reaktion auf Unrecht, die im Anderen nur den historischen Feind, nicht aber den langjährigen Nachbarn sieht, beseelt auch heute noch die Gemüter der kleinen und großen Kriegsherrinnen und Kriegsherren auf allen Seiten. Wenn wir an das erste Jerusalem denken, sind es sowohl Kräfte in der israelischen Regierung (Smotrich, Eliyahu, Ben Gvir, und jene, die sie gewähren lassen), als auch gewalttätige Antisemit*innen unter den Palästiner*innen, die das Ideal, das Karahasan mit der Stadt verbindet, gefährden. Jene Akteur*innen scheinen bereit, die gesellschaftliche Vielfalt als Wert und Grundlage von Demokratie und Ermöglichungsbedingung friedlicher Koexistenz auf dem Altar ihrer eigenen Verletztheit zu opfern. Die Kriegsführung in Gaza zeigt beispielhaft, was solche Entscheidungen handelnden Akteur*innen abverlangen, nämlich das Verkennen der Menschlichkeit des Anderen. Dadurch bleibt kaum mehr Platz für Mitgefühl und Mitleid, zwei Gefühle, die essentielle Korrektive im menschlichen Zusammenleben darstellen. Das wie eine Monstranz vorangetragene heilige Ziel verlangt von den Soldatinnen und Soldaten Israels und den messianischen Kämpfer*innen auf palästinensischer Seite, den Anderen als historischen Feind zu sehen, und erlaubt dadurch, enormes ziviles Leid in Kauf zu nehmen.
Somit heißt, das erste Jerusalem zu verteidigen, Palästina zu verteidigen vor dem Krieg und Israel zu verteidigen vor Angriffen. Das erste Jerusalem zu verteidigen heißt, zu erkennen, welche politischen Kräfte, der Vielfalt an den Kragen wollen und diese Tendenzen und Politiken zu bekämpfen. Das Diktum, das erste Jerusalem zu verteidigen fußt dabei gerade nicht auf einem bereits festgeschriebenen, historisch-informierten Opfer-Täter Denken. Es geht nicht um akkumulierte Schuld, nicht einmal darum, wer den ersten Stein geworfen hat. Der Grund, das erste Jerusalem zu verteidigen, besteht darin, dass jede angestrebte Homogenität zum Scheitern verurteilt ist. Das von Smotrich, Eliyahu und Ben Gvir ausgegebene Ziel der Vertreibung von Palästinenser*innen aus dem Gazastreifen, die Durchsetzung des Westjordanlandes mit israelischen Siedlungen, muss scheitern, ebenso wie der Überfall der Hamas vom 7. Oktober 2023 scheitern musste. Sie mussten und müssen scheitern, jedoch nicht, weil die damit verfolgten Ziele prinzipiell nicht umsetzbar wären. Sie mussten und müssen auch nicht scheitern, weil es ein prinzipielles Korrektiv gäbe, das Menschen davon abhielte unsagbares Leid an Anderen zu verursachen. Diese Gewalt musste und muss scheitern, weil sie auf einem trügerischen Prinzip basiert, welches bedeutet, das eigene Menschsein, den Platz in der gemeinsamen Welt im Prozess der Erreichung des Zieles, zu verlieren. Scheitern heißt somit, die Fähigkeit zu verlieren, in einer Welt mit anderen zu leben und die Wahrheit der eigenen Taten, ohne Selbstbetrug, ertragen zu können.
Bereits der nicht erfolgreiche Krieg gegen das zweite Jerusalem, gegen Sarajevo, hat diese gesellschaftliche Pathologie zum Vorschein gebracht. Menschen können sich nicht mehr ernsthaft in den Spiegel sehen, nicht in die Augen der Väter und Mütter blicken, müssen die Wahrheit ausblenden, um keine Scham empfinden zu müssen für die Taten und um kein Mitleid empfinden zu müssen mit den Opfern und ihren Nachkommen. Auch für diese Pathologie hat Dževad Karahasan einen Satz. In der Einübung ins Schweben lässt er Mutter Ljuba, eine Bewohnerin Sarajevos, ausrufen: „Mein Gott, werden sie uns jemals das Böse verzeihen, das sie uns antun?“[4]
Wie mag das gesellschaftliche Trauma auf Opfer- wie auch auf Täterseite aussehen, wenn es irgendwann kein erstes Jerusalem mehr gibt? Bereits heute ist die geschichtliche Wahrheit im eigentlich unbesiegten Sarajevo für viele direkte Beteiligten und ihre Nachfahren unerträglich und zwar dermaßen unerträglich, dass es sogar als Gefährdung gesehen wird, Kindern zu erlauben, die Geschichte zu kennen. Wie unerträglich muss erst die Geschichte eines besiegten ersten Jerusalem sein? In Sarajevo, der geschundenen, aber unbesiegten Stadt, bleibt die Hoffnung auf das Eingestehen, dass das heilige Ziel und alles, was zur Zielerreichung eingesetzt wurde, uns von unserem Mensch-Sein entfernt hat. Von unserer Fähigkeit, mitfühlende Wesen zu sein, welche die Leidensfähigkeit und somit auch das Leid anderer zu erkennen vermögen. Davon, uns selbst in der Anderen zu erkennen, bevor diese mit geschichtlichem Ballast überhäuft und zu meinem Feind oder meiner Feindin erklärt wird. Diese Menschlichkeit muss verteidigt werden, gegen die Erzählungen der Demagoginnen und Demagogen von der Tiefe der Wunde und der Heiligkeit des Zorns und des Zieles. Das erste Jerusalem zu verteidigen heißt, dieses menschliche Prinzip zu verteidigen in Israel, in Palästina, in Bosnien und Herzegowina, in Deutschland, in Österreich, in den USA, in Ungarn, an allen Grenzen, überall, immer.
[1] Ich bitte Gott nur darum, dass mir der Schmerz nicht gleichgültig sei, dass mich der vertrocknete Tod nicht finde, leer und alleine, ohne genug getan zu haben.
[2] Karahasan, Dževad (2021): Tagebuch der Übersiedlung. Berlin: Suhrkamp. S. 68.
[3] Taylor, Charles (1995): Multiculturalism. Princeton: Princeton University Press; Vertovec, Steven (2024) Superdiversität. Migration und soziale Komplexität. Berlin: Suhrkamp; Gilroy, Paul (2006): Postcolonial Melancholia. New York: Columbia University Press.
[4] Karahasan, Dzevad (2023): Einübung ins Schweben. Berlin: Suhrkamp. S.168.
Photocredits: „Jerusalem“ by mockstar is licensed under CC BY-ND 2.0.
RaT-Blog Nr. 14/2025