Antakya und Gaziantep waren über Jahrhunderte Orte religiöser Vielfalt – ein Alltag, der lange selbstverständlich war. Heute erzählen Synagogen und Friedhöfe von einem fast verschwundenen jüdischen Leben und davon, warum das Erinnern daran für unsere Gegenwart wichtig bleibt. Hier lebten Muslim*innen, Christ*innen und Jud*innen oft Tür an Tür. Städte wie Gaziantep waren eng mit Aleppo verbunden – über Handel, Familienbeziehungen und gemeinsame Nachbarschaften.
Als am 6. Februar 2023 die Erde in Südostanatolien bebte, gehörte Antakya zu den am stärksten betroffenen Städten. Sie gilt seit Jahrhunderten als Wiege unterschiedlicher Kulturen und Religionen – darunter auch der jüdischen. Die Zerstörung der Synagoge ging weltweit durch die Medien und lässt die Frage aufkommen, ob sie eines Tages vollständig restauriert sein wird. Mit dem Erdbeben und dem Tod zahlreicher Angehöriger der jüdischen Gemeinschaft verschwanden nicht nur Menschen, sondern auch Stimmen und Erinnerungen, die den Alltag dieser historischen Stadt geprägt hatten.
Antakya war eines jener seltenen urbanen Zentren, in denen Kirchen, Moscheen und Synagogen in Sichtweite voneinander standen. Die Nähe war nicht nur räumlich, sondern auch sozial: gemeinsame Märkte, Nachbarschaften und Feste. Hier wurde Zusammenleben jahrhundertelang praktiziert, lange bevor man dafür Begriffe wie „Pluralität“ oder „Koexistenz“ einführte.
Erinnerungen zwischen Verschwinden und Bewahren
Während Antakya durch das Erdbeben internationale Aufmerksamkeit erhielt, zeigt Gaziantep – nur zwei Autostunden von Hatay entfernt – eine andere historische Entwicklung: das allmähliche Verstummen jüdischen Lebens über viele Jahrzehnte hinweg. Die „Große Gaziantep Synagoge“ (Büyük Gaziantep Sinagogu) wurde 1886 errichtet und diente bis in die späten 1970er-Jahre als religiöses und gemeinschaftliches Zentrum der überwiegend sephardischen Juden der Stadt (siehe Bild 1 und 2). Mit der schrittweisen Abwanderung der Gemeinde verlor das Gebäude seine Funktion und wurde 1979 endgültig geschlossen. Warum die jüdische Gemeinde Gaziantep verließ, hat mehrere Gründe. Viele junge Menschen zogen ab den 1930er-Jahren in größere Städte wie Istanbul oder Izmir, wo es bessere Schulen, Arbeitsplätze und Aufstiegsmöglichkeiten gab. Gleichzeitig veränderte sich die Wirtschaft in Südostanatolien: Traditionelle Handelswege verloren an Bedeutung, und kleinere Minderheiten konnten oft kaum bleiben. In den 1960er- und 1970er-Jahren kamen politische Spannungen hinzu, die das Sicherheitsgefühl vieler Familien beeinträchtigten. Nach 1948 übersiedelten zudem viele jüdische Familien aus Gaziantep nach Israel; ein Schritt, der den weiteren Rückgang der Gemeinde beschleunigte.
Nach jahrzehntelangem Leerstand und baulichen Schäden begann in den 2000er-Jahren eine Restaurierung, die den Erhalt des Gebäudes sicherte. Am 27. Dezember 2019 wurde die Synagoge im Rahmen einer Hanukka-Feier erstmals wieder öffentlich eröffnet und als Museum genutzt. Damit bleibt die Synagoge ein stilles, aber eindrückliches Erinnerungszeichen einer fast vollständig verschwundenen Gemeinschaft und ihrer historischen Präsenz in Gaziantep. Heute ist die Synagoge kein aktiver Gebetsraum mehr, doch ihre Bedeutung hat sich verändert: Sie ist ein Erinnerungsort, der sichtbar macht, dass Gaziantep früher religiös vielfältiger war, als es heute erscheint. Gerade deshalb ist es wichtig, dass solche Gebäude öffentlich zugänglich bleiben – nicht nur für Nachfahren der ehemaligen Gemeinde, sondern für alle, die sich für die Geschichte der Region interessieren. Diese Gedenkorte ermöglichen es, die Spuren kleinerer Gemeinschaften nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und historische Vielfalt erfahrbar zu machen. Die Restaurierung der Synagoge ist daher mehr als ein architektonisches Projekt: Sie ist ein Schritt, dieses kulturelle Erbe im öffentlichen Bewusstsein zu halten (Bild 1 und 2).


Bild 1 und 2: Die „Große Gaziantep Synagoge“ (Quelle: Eigene Fotos)
In Gaziantep befindet sich auch ein jüdischer Friedhof (siehe Bild 3 und 4), der an die ehemaligen jüdischen Bewohner dieser heute fast ausschließlich als muslimisch wahrgenommenen Stadt erinnert. Im Inneren des jüdischen Friedhofs befindet sich eine zweisprachige Informationstafel der Stadt Gaziantep. Sie dokumentiert die Wiederherstellung der Friedhofsmauer, die 2011 von Yakup Franko Bilmen und Yesua Kohen Bildirici finanziert wurde; zwei Personen, die im Rahmen dieser Restaurierung als Unterstützer genannt sind. Die Anlage ist heute durch ein Gittertor und eine Umfriedung geschützt. Stark verwitterte Grabsteine zeigen den heutigen Zustand vieler Gräber im jüdischen Friedhof von Gaziantep; viele Inschriften sind nur noch teilweise lesbar, ein Hinweis auf jahrzehntelange Vernachlässigung und Witterungseinflüsse.


Bild 3 und 4: Jüdischer Friedhof in Gaziantep (Quelle: Eigene Fotos)
Was bleibt, sind Orte wie dieser Friedhof: stille Zeugnisse einer Geschichte, die kaum erforscht wurde. Antakya und Gaziantep bilden die Ausgangspunkte meiner Forschung über jüdisches Leben in Anatolien. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie Gemeinschaften, die einst fester Bestandteil städtischer Gesellschaften waren, verschwinden – und was von ihnen bleibt. Diese Fragen wurden für Anatolien bislang kaum systematisch untersucht. Während Istanbul und Izmir als Zentren jüdischer Geschichte gut erforscht sind, wurden Städte in Anatolien bisher weitgehend vernachlässigt. Gerade dieser Mangel zeigt, wie notwendig neue Forschung zu Städten wie Gaziantep und Antakya ist. Hier setzt mein Forschungsprojekt an, das diese weitgehend übersehenen Regionen erstmals in den Mittelpunkt stellt. Sie zeigen, wie eng religiöse und kulturelle Traditionen miteinander verflochten sind, wie sich diese Beziehungen unter den politischen und sozialen Umbrüchen des 20. Jahrhunderts verändert haben – und wie diese Veränderungen im 21. Jahrhundert weitergehen.
Ich arbeite mit historischen Dokumenten, Fotografien und Inschriften, aber auch mit Erinnerungen von Menschen, deren Eltern oder Großeltern einst Teil dieser Gemeinden waren. Aus diesen Quellen entsteht ein vielstimmiges Bild: Es erzählt vom Verschwinden von Nachbarschaften, von Festen und Ritualen, die heute kaum noch zelebriert werden und von der Kraft der Erinnerung, die selbst in Fragmenten fortbesteht.
Die verflochtene Geschichte Anatoliens
Anatolien war über Jahrhunderte hinweg ein Raum religiöser und kultureller Verflechtungen – ein Ort, an dem jüdische, muslimische und christliche Lebenswelten ineinandergreifen. Was lange als Randregion galt, zeigt sich heute als Ort, an dem Kulturen einander begegnen, sich austauschen und Neues hervorbringen. Von hier aus lassen sich Entwicklungen beobachten, die für das Verständnis religiöser Minderheits- und Mehrheitsverhältnisse sowie des sozialen Zusammenhalts entscheidend sind.
Diese Geschichte ist nicht abgeschlossen. Sie wirkt nach – in Erzählungen, Erinnerungen und Spuren, die überall dort sichtbar werden, wo Menschen trotz ihrer Unterschiede miteinander leben. Ihre Bedeutung reicht weit über Anatolien hinaus: Sie zeigt, wie verletzlich historische Vielfalt ist und wie wichtig es bleibt, ihre Spuren sichtbar zu halten.
RaT-Blog Nr. 19/2025
Photocredits: Bilder 1-4: (C) Aysun Yaşar