In einem neuen Buch wird Radikalisierung im Gefängnis von einem muslimischen Seelsorger thematisiert. Der Religionswissenschaftler Wolfram Reiss erzählt von Stärken und Schwächen dieser Publikation, von seinen persönlichen Erfahrungen als Gefängnisseelsorger und seiner aktuellen Forschung zum Thema.
religionandtransformation: Sie sind Religionswissenschafter, der sich in der Forschung mit den Veränderungen in der Gefängnisseelsorge stärker beschäftigt, weil Sie selbst einmal in einem Gefängnis tätig waren. Was halten Sie von dem neuesten Buch des islamischen Gefängnisseelsorgers Ramazan Demir, in dem er seine Arbeit mit radikalen Muslimen beschreibt?
Wolfram Reiss: Das Buch gibt einen guten Einblick in die Arbeitsweise, die Zielsetzungen und die Argumente islamischer Seelsorge gegenüber radikalen Muslimen. Auch in seiner Analyse der Motive in der Radikalisierung teile ich zahlreiche seiner Aussagen. Es ist jedoch auch in vielfacher Weise höchst problematisch, da es gegen grundlegende Prinzipien zumindest der christlichen Seelsorge verstößt, einige Prämissen voraussetzt, die für die islamische Seelsorge nicht gelten und an manchen Stellen auch eine Polemik enthält, die meines Erachtens nach inakzeptabel ist.
religionandtransformation: Warum meinen Sie, dass es gegen Grundprinzipien der Seelsorge verstößt?
Wolfram Reiss: Das Buch basiert auf der detaillierten Wiedergabe von Gesprächsausschnitten mit Gefangenen. Dies verletzt die seelsorgerliche Schweigepflicht. Die Namen wurden zwar verändert, aber in vielen Fällen werden Personenbeschreibungen vorgenommen, ihre Herkunft, ihr Hintergrund und ihr Aussehen beschrieben, so dass es zumindest für jemanden, der in der Justizanstalt Josefstadt arbeitet, relativ leicht ist, die Personen herauszufinden, wenn nicht auch diese Beschreibungen verändert wurden. Solche Gesprächsnotizen könnten vielleicht noch in einer Supervision in einem kleinen geschlossenen Kreis besprochen werden. In einem Buch, das sich einer breiteren Öffentlichkeit richtet, haben sie meines Erachtens nach nichts zu suchen.
religionandtransformation: Sie sprachen von Prämissen, die in der islamischen Seelsorge fehlen. Sie meinen also, dass die seelsorgerliche Verschwiegenheit nicht ausreichend gewahrt wird?
Wolfram Reiss: Prinzipiell steht man in der islamischen Seelsorge schon zur seelsorgerlichen Verschwiegenheit. Auch Ramazan Demir betont das an mehreren Stellen in seinem Buch. Faktisch wird das aber meines Erachtens mit der Veröffentlichung von detaillierten Gesprächsteilen mit Gefangenen in Frage gestellt. Damit zusammenhängend muss einfach betont werden, dass die Verpflichtung zur seelsorgerlichen Verschwiegenheit nicht so tief verankert ist wie im Christentum. Das hat damit zu tun, dass die seelsorgerliche Verschwiegenheit im Christentum historisch eng mit der Beichte verbunden ist. Eine Verletzung dieser Pflicht kann auch innerkirchlich zu Sanktionen führen. Das Ritual der Beichte gibt es aber nicht im Islam und anderen Religionen.
religionandtransformation: Der islamische Seelsorger beschreibt sich an vielen Stellen als einen, der tief in die „Seelen radikaler Muslime“ blickt – so auch der Untertitel des Buches. Wie beurteilen Sie das?
Wolfram Reiss: Dies ist meines Erachtens eine Anmaßung, denn Ramazan Demir mag vielleicht eine theologisch-religionspädagogische Ausbildung haben, aber er hat weder eine psychologische, psychoanalytische noch psychotherapeutische Ausbildung. Dies sind Ausbildungen, die sich über Jahre hinziehen, wo man Gesprächsprotokolle in kleinen Teams mit Supervision von ausgebildeten Supervisorinnen und Supervisoren analysiert, die eigene Kommunikation und Person intensiv reflektiert. Islamische Seelsorger haben in Österreich noch nicht einmal eine fundierte seelsorgerliche Ausbildung, denn diese wird jetzt erst gerade etabliert. Allerdings steht auch hier die psychologische Kompetenz nicht im Mittelpunkt. Aber selbst wenn man eine intensive seelsorgerliche Ausbildung absolviert hat ist es wohl vermessen, „in die Seele eines Menschen blicken“ zu können. Dies sollte – sofern es überhaupt möglich ist – ausgebildeten Psychologen und Psychoanalytikern überlassen werden. Es ist prinzipiell eine völlige Überforderung religiöser Betreuung und einfach nicht ihre Aufgabe.
religionandtransformation: Ramazan Demir erwähnt 350 Gefangene, die er zu betreuen hat, und fordert auf der Basis seiner Gespräche mit radikalisierten Muslimen die Bezahlung von mehreren Stellen für Imame. Wie stehen Sie dazu?
Wolfram Reiss: Es ist keine Frage, dass sich im Umgang mit der religiösen Diversität auch etwas in der Gefängnisseelsorge strukturell verändern muss. Es hat sich auch bereits einiges verändert, denn längst sind nicht nur Muslime, sondern auch Juden, Buddhisten, Christen aus Freikirchen, Zeugen Jehovas und so weiter aktiv und es wurden erste Treffen aller dieser Seelsorger organisiert. Dabei wird langfristig wohl auch über die Neuverteilung von Stellen, Räumen und Ressourcen gesprochen werden müssen. Allerdings halte ich die Verbindung der Fragestellung von Radikalisierung und Stellen für die islamische Seelsorge prinzipiell für fragwürdig.
religionandtransformation: Warum das?
Wolfram Reiss: Die Verbindung ist aus meiner Sicht höchst fragwürdig, denn dadurch wird zum einen der Eindruck erweckt als ob es sich bei einem Großteil der muslimischen Gefangenen um Extremisten handelt. Alle muslimischen Gefangenen als radikale Extremisten abzustempeln wäre eine pauschale Diffamierung, gegen die sich Demir zurecht an anderen Stellen im Blick auf den Islam vehement wehrt. Nur ca. 70 Gefangene werden derzeit der militanten islamistischen Szene direkt zugeordnet werden. Zweitens wird der Eindruck erweckt, dass die De-Radikalisierung eine zentrale Aufgabe der islamischen Seelsorge sei. Diese Verknüpfung ist jedoch m.E. eher eine Gefahr für die Seelsorge. Sicherlich können Imame einiges indirekt dazu beitragen, weil sie die theologischen Argumente radikaler Muslime besser einordnen können und Gegenargumente vorbringen können, vielleicht auch Sprachkompetenzen und kulturelle Kenntnisse mitbringen, allerdings spricht die seelsorgerliche Schweigepflicht eher gegen eine aktive Einbindung in Deradikalisierungsprozesse. Seelsorger, die sich in ein staatliches Programm zur Deradikalisierung einspannen lassen haben sehr schnell jegliche Glaubwürdigkeit eingebüßt, weil sie dann nur noch als Vertreter des Staates gesehen werden. Etwas ganz anderes ist es, auch andere religiöse Narrative in Gefängnisse einzubringen. Hier können Seelsorger in der Tat etwas beitragen und insoweit finde ich den Ansatz von Ramazan Demir, das offensiv zu formulieren auch hilfreich.
religionandtransformation: Sie sprachen eingangs aber auch von inakzeptabler Polemik des Autors. Was meinen Sie damit?
Wolfram Reiss: Am Ende seines Buches stellt Ramazan Demir einen katholischen Kollegen auf die Stufe eines „unverbesserlichen“ Extremisten. Solche „Unverbesserlichen“ beschreibt er in seinem Buch in einem Kapitel genauer als Ideologen, die auf „niedrigstem sozialen Niveau“ handeln und gegen jegliche Einflüsse und entlarvenden Argumente immun seien, etwa auf Seite 138. Man mag mit den Ausführungen von Hofrat Dr. Christian Kuhn zum Islam an vielen Stellen vielleicht nicht übereinstimmen – er wird nicht namentlich genannt, aber aufgrund der öffentlichen Auseinandersetzungen ist unzweifelhaft wer gemeint ist -, ihn aber sogar mit dem „Austro-Dschihadisten“, der auf einem IS-Propagandavideo zur Tötung von Ungläubigen auffordert und dann vor laufender Kamera in der Tat zwei Personen umbringt, in Verbindung zu bringen, ist nicht nur völlig unter der Gürtellinie gegenüber einem Kollegen, sondern möglicherweise sogar vor Gericht als Rufschädigung justiziabel.
religionandtransformation: Stehen Sie der islamischen Gefängnisseelsorge skeptisch gegenüber?
Wolfram Reiss: Nein, das würde ich nicht sagen. Ich finde es sehr gut, dass diese jetzt thematisiert und aufgebaut wird, denn sie wird gebraucht und benötigt auch Unterstützung. Es geht aber nicht alleine nur um die islamische Seelsorge. Auch die Betreuung durch andere Religionsgemeinschaften muss neu organisiert und strukturiert werden. In vielen Gefängnissen stellen russisch- und serbischsprachige Gefangene ein schwer zu integrierender Bestandteil der Insassen dar. Eine orthodoxe Gefängnisseelsorge steckt jedoch noch in den Anfängen. Es ist zu klären wie man mit Gruppen umgeht, die Mission und Glaubenserweckung als Kern ihres Glaubens ansehen. Die Frage der seelsorgerlichen Verschwiegenheit ist nicht nur im Blick auf den Islam, sondern auch im Blick auf andere Gruppen juristisch zu klären, denn viele Rechtstexte gehen von „geistlichen Amtsträgern“ aus, die es in vielen Religionsgemeinschaften gar nicht gibt. Ein Raum- und Finanzierungsbedarf besteht nicht nur für Muslime, sondern auch für andere Religionsgemeinschaften. Es bedarf einer Standardisierung der Vorbereitung und der kontinuierlichen Supervision, wie dies teilweise in anderen Ländern bereits geschieht.
religionandtransformation: In diesem Bereich der internationalen Forschung zum Thema sind Sie ja selbst aktiv, nicht wahr?
Wolfram Reiss: Ja, genau. Seit nunmehr über einem Jahr haben wir ein Forschungsprojekt, in dem wir uns mit der Religionsausübung in Österreich und anderen europäischen Ländern befassen. Erst im November hatten wir Gäste aus Schweden und Griechenland zu Gast, die in einem Workshop darüber berichteten, wie sie mit der religiösen Diversität in Gefängnissen umgehen. Ich selbst habe gerade einen Report zur Situation in Österreich für EUREL geschrieben, die eine europäische Vergleichsstudie editieren wollen, bei der die Religionsausübung im Gefängnis in ca. 20 verschiedenen europäischen Ländern verglichen wird. Ich denke, dass diese Vergleiche helfen können, Fehlentwicklungen zu vermeiden und bewährte Praxis aufzugreifen.
religionandtransformation: Viel Erfolg für dieses Projekt und Danke für das Gespräch.
Imam Ramazan Demir studierte Islamische Religionspädagogik und arbeitete zunächst als Religionslehrer an österreichischen Pflichtschulen. Seit 2016 leitet er die islamische Gefängnisseelsorge in Österreich. Sein Buch, das in diesen Tagen erschien, trägt den Titel: Unter Extremisten. Ein Gefängnisseelsorger blickt in die Seelen radikaler Muslime, Edition a: Wien 2017.
Rat-Blog Nr. 16/2017