Kurt Appel widmet sich der bleibend aktuellen Frage nach dem Gebet.
In der gegenwärtigen Krise suchen viele Menschen das Gebet, oft wissen sie aber nicht so recht, wo und wie sie es finden können. Die Generation der Großeltern, die jetzt tragischerweise beschleunigt stirbt, ist noch mit dem Gebet aufgewachsen, die Generation der Eltern weiß, dass es das Gebet gibt, findet aber nur mehr schwer Zugang dazu, die jungen Menschen heute, die für vieles sehr offen sind, finden wiederum kaum Personen, die ihnen das Beten lehren könnten, weder innerhalb noch außerhalb der christlichen Gemeinden.
Die Frage des Gebets ist der Ernstfall der Gottesfrage: Glauben die Christen an einen Gott, der im Gebet hilft oder ist Gott eine anonyme Macht? Gibt es einen Gott, der den Beter hört? Und wenn Gott, falls es ihn gibt, nicht zu weit weg ist, um zu hören, warum hilft er dann manchmal und manchmal oder auch sehr oft nicht? Überleben zum Beispiel vor allem die Personen, die gut beten können, lebensbedrohliche Krisen wie das Corona-Virus und muss sich daher jeder, der selber ein unzulänglicher Beter ist, das Gebet eines möglichst frommen Menschen oder gar einer frommen Gemeinschaft sichern? Oder hilft das Gebet ohnehin nicht, und es bleibt nur die Tapferkeit des Einzelnen, sich seinem Schicksal zu ergeben?
Die Frage des Gebets zwingt dazu, sich klarer darüber zu werden, an welchen Gott man glaubt. Gott als Energie, als Macht, als ferne Ursache, die vielleicht für den Urknall verantwortlich ist, scheidet aus, wenn man den Gott sucht, zu dem man beten kann. Es gibt aber auch eine alte und ehrwürdige Gottesvorstellung, die weit in die überlieferte Kunst, in den Katechismus und in das kollektive Bewusstsein hineinreicht: Es handelt sich um die Vorstellung von Gott als Herrn des himmlischen Palastes, von Gott als allmächtigen Herrscher des Himmels und der Erde, der vom Jenseits aus auch das Diesseits kontrolliert und an den man sich – vielleicht am besten über Mittelsfiguren (Heilige, Engel, Tote) – wenden kann. Ob der Beter mit seinen Eingaben erfolgreich ist, ist in dieser Tradition von Faktoren abhängig, die teilweise willkürlich scheinen (warum erhört Gott das Gebet der Person/Gemeinde A und nicht von B?), teilweise aber auch Rückschlüsse auf die Person des Beters (oder des Mittlers, den der Beter zu Hilfe ruft) zulassen: Dieser muss sich durch einen einwandfreien Lebenswandel dazu würdig gemacht haben, dass sein Gebet erhört wird. Er muss hinreichend gläubig sein und darf möglichst nicht an der Erfüllung des Gebets zweifeln. Und er muss natürlich lang und intensiv beten können. Aber selbst wenn all diese Voraussetzungen erfüllt sind, scheint es doch keine Garantie auf Erfolg zu geben. Mit einer gewissen Willkür in Gott rechnen selbst die Frömmsten, die in Gott den allmächtigen Weltenlenker sehen. Etwas befremdlich klingt daher das Jesuswort, welches ganz klar festhält: „Bittet, dann wird euch gegeben“ (Mt 7,7; Lk 11,9). Jesus spricht also von einem Gott, der weder besondere Voraussetzungen des Beters verlangt noch im Ungewissen darüber lässt, ob er das Gebet erfüllen wird oder nicht. Gott erhört den Beter und der Beter kann sogar, wie Jesus sagt, Berge ins Meer stürzen lassen (Mk 11,23). Warum also sterben jetzt so viele liebe Menschen, obwohl Gott darum gebeten wurde, sie zu retten? Hat Gott die Gebete nicht gehört? Oder erfüllt er doch nur die Gebete derer, denen er ganz besonders zugetan ist?
Wenden wir uns also der Gottesfrage zu, um vielleicht eine Antwort auf diese Fragen zu finden. Der große Philosoph (und Theologe) Hegel sprach als einer der ersten einen ungeheuerlichen Verdacht aus: Ihm fiel auf, dass die wichtigste Eigenschaft Gottes, nämlich dessen Allmacht, auch und gerade dem Tod zukommt. Darin lag auch die tiefe Überzeugung der griechischen antiken Welt, die unser Denken, auch die theologische Tradition, mit beeinflusst hat: Wir alle unterliegen dem Schicksal und das Wesen des Schicksals besteht darin, dass wir sterben: wir alle, Juden/Christen und Heiden, Herren und Knechte, Mann und Frau. Die Griechen wussten auch, dass man diesem Schicksal zwar nicht entkommen kann, dass es aber möglich ist, den Tod auszulachen, ihn wenigstens kurzzeitig von seinem Thron zu stoßen. Allerdings eben nur kurzzeitig. Der Tod ist also der große Herr über das Leben, wobei es immer wieder Versuche gab und gibt, den Tod zu besiegen: mittels Technik, mittels dem Zeugen von Nachkommen, in denen wir weiterleben, mittels der Gemeinschaft, die auch ohne uns weiterexistiert, oder indem wir uns über den Tod stoisch hinwegsetzen, ihn gleichsam ignorieren. In Krisenzeiten kommt man allerdings mit all diesen Strategien rasch an eine Grenze, wenn liebe Menschen sterben, wenn Dinge unerledigt bleiben oder sogar ein letzter Gruß verwehrt ist.
Verbirgt sich also hinter der Vorstellung eines allmächtigen Gottes in Wirklichkeit das Antlitz des Todes? Ist der allmächtige Vater identisch mit dem Sensenmann? Hegel sieht jedenfalls das Revolutionäre in Jesus darin, dass uns dieser vom Bild des todbringenden Gottes befreit hat. Bis dato hatte jeder, der den Tod momenthaft durch Ironisierung, durch Macht und Technik überwunden hatte, sich selbst an dessen Thron gesetzt; das Prinzip des Todes als letzter Herr über das Leben blieb damit aber bestehen. Jesus dagegen ist zwar, wie er in seinen Zeichenhandlungen zeigt, Herr über die Elemente und sogar Herr über das Leben, aber er stellt sich gerade nicht auf das Podest des allmächtigen Herrschers. Jesus verdrängt den Tod nicht, er banalisiert ihn nicht, vielmehr gibt er ihm eine neue Bedeutung: Der Tod wird zum Zeichen der Fragilität, der Verletzbarkeit des Geschöpfes, welches dieses liebenswert macht. Er wird Zeichen dafür, dass wir gegenseitig auf Hilfe, auf Freundschaft und Solidarität angewiesen sind. Jesus ist in Getsemani von Furcht und Angst ergriffen (Mk 14,32), vielleicht auch und gerade um seine Schüler, die nicht in der Lage sein werden, mit ihm zu wachen. Auf alle Fälle zeigt der letzte Lebensabschnitt Jesu ein ganz anderes Bild von Gott als das Bild des souveränen Weltenherrschers: Es zeigt das Bild von Verletzbarkeit und Hilfsbedürftigkeit, aber auch von einem Mitsein, welches die Grenzen des Todes überwindet.
Nach diesem kurzen Blick auf den Karfreitag und Ostern, also auf den Untergang und die Neuschöpfung der Welt, sei ein kurzer Blick auf die Schöpfung geworfen, um sich dem Gebet zu nähern. Gott spricht im Akt der Schöpfung. Deshalb befinden wir uns in einer Welt, die durch das Wort in Kraft gesetzt ist: „Gott sprach: Es werde Licht! Und es wurde Licht“ können wir am Anfang der Bibel lesen (Gen 1,3). Unsere Welt ist kein Machwerk, sondern Trägerin des Wortes: Alles, was geschaffen ist, nimmt das Wort auf, es hat Bedeutung. Unsere Welt ist daher nicht wie ein Machwerk (ausschließlich) durch Ursache und Wirkung, durch Raum und Zeit zusammengehalten, vielmehr steht jede Kreatur in einem Bedeutungszusammenhang mit all den anderen Kreaturen. Während ein Machwerk vollkommen von seinem Macher abhängig ist, zeichnet sich die ins Wort gerufene Schöpfung dadurch aus, dass ihr unendliche, ständig sich neu einstellende Bedeutungen zukommen. Jedes Geschöpf hat seine eigene Geschichte, die immer wieder neu erzählt werden muss. Das Gebet vermag Dinge (z.B. den Berg) aus ihrem bloß physischen Zusammenhang herauszunehmen – es vermag also den Berg aus seiner bloß raumzeitlichen Dimension zu versetzen – und immer neue Bedeutungszusammenhänge zu kreieren und zu vernehmen: Das bloße Ding wird so zum Geschöpf, es wird, wie der Heilige Franz von Assisi gewusst hat, zum Bruder und zur Schwester. Es ist nicht mehr bloßes Objekt unserer Wahrnehmung, sondern Subjekt, welches uns in unserem Selbstverständnis neue Bedeutung schenkt und selbst wiederum von uns Bedeutung empfängt. Der Zusammenhang zwischen den Kreaturen ist kein (ausschließlich) physischer mehr, sondern ein solcher des Sinnes, des sich gegenseitigen Schenkens.
Wenn der Beter betet, dann tritt er ein in diesen Sinnzusammenhang. Streng genommen ist biblisch gesehen die gesamte Welt Gebet. Die Dinge stehen nicht für sich, sondern geben einander Bedeutung und empfangen deren tiefsten Sinn, d.h. die Unendlichkeit des Bedeutungszusammenhanges in Gott. Jeder Mensch kann seine gesamte Geschichte, was immer auch die Geschichte anderer, gewissermaßen aller anderen, einschließt, vor Gott bringen. Im Gebet tritt nicht einfach eine physische Veränderung als dessen Wirkung ein, sondern was sich im Gebet verwandelt, ist der Beter selbst und mit ihm die Bedeutung der Welt und damit auch der Sinnzusammenhang, in dem die Kreatur steht (was auch physikalische Konsequenzen nach sich zieht genauso wie die Entscheidung eines Menschen, etwas zu tun, die Welt auch physisch verändert).
Der Gott Jesu ist nicht derjenige Gott, der sich herrschaftlich an die Spitze der Pyramide des Seins setzt und die Welt nach unseren unmittelbaren Wünschen raumzeitlich verändert (oder auch nicht). Vielmehr eröffnet er durch sein oft leises, unscheinbares, sich nicht aufdrängendes Mitsein unserer Existenz und der Existenz aller Kreaturen neue Sinnhorizonte, er schenkt jeder von ihnen eine einmalige sie bejahende Geschichte, mit anderen Worten: Er ruft jede Kreatur mit ihrem Namen und verbindet sie mit seinem Sein und dem Sein der Anderen.
Das Gebet ist auf diese Weise ein offener Prozess, in dem die Welt jeweils neu in der Verbindung mit Jesu Freundschaft und Mitsein geschaffen wird. Dabei hat alles seinen Namen und seinen Ort; auch die Toten sind nicht vergangene Objekte, sondern Kreaturen, deren Präsenz sich verwandelt hat. Sie sind nicht mehr raumzeitlich mit uns, sondern in der Liebe und der Bedeutung, die sie unserem Dasein geben. Das Gebet ist daher nicht nur Ausrichtung an Gott, den allmächtigen Himmelsherrscher, sondern es bezieht den Betenden, Lebende und Tote, den Menschen und auch Gott selbst mit ein. Gott ist daher nicht der Ferne, sondern der, der mitten im und durch das Gebet spricht, der sich schon im Akt der Bitte gibt. Dies tilgt nicht das Leid, die Verletzbarkeit, die Unzulänglichkeit, den Tod, sondern bezieht sie mit ein – am Ende aber soll alles seinen ihm bestimmten Namen bekommen, der sich, wie das Sakrament der Taufe zeigt, mit SEINEM Namen, dem Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, dem Namen des Mitseins verbindet. „JHWH“: Ich bin da für euch. „Immanuel“: Gott ist mit uns.
Der Text erschien ursprünglich auf SettimanaNews. Dort finden Sie auch die italienische Version: http://www.settimananews.it/teologia/in-cerca-della-preghiera/
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Bildquelle: Pixbay/JPlenio.
Rat-Blog Nr. 3/2020
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