In Österreich ist der 8. Mai – noch – kein offizieller Feier- oder Gedenktag. Warum? Anna Rosa Schlechter erinnert an das Erinnern.
Der 8. Mai 1945 markiert das offizielle Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa mit der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen Wehrmacht. In vielen europäischen Ländern ist der „Victory in Europe Day“ öffentlicher Feiertag, wie in Tschechien, der Slowakei oder Frankreich. In Österreich jedoch ist der 8. Mai noch kein offizieller Feier- oder Gedenktag.
Am 5. Mai 2020 jährte sich auch die Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausens durch US-Truppen zum 75. Mal. Seit der ersten Befreiungsfeier 1946 kommen jährlich zigtausende Menschen zu der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, um an die unzähligen Opfer zu erinnern. Nach Kriegsende hat sich Mauthausen schnell zum Zentrum österreichischen Gedenkens entwickelt und verfolgt spätestens seit den achtziger Jahren einen Bildungsauftrag. Doch die Zahl an Holocaust-Überlebenden schwindet von Jahr zu Jahr. 2019 nahmen nur noch 50 der Überlebenden an den Gedenkfeiern teil. „Zeitzeugen sterben, doch das vergossene Leid bleibt“, brachte es der damalige Bundeskanzler Werner Faymann in seiner Rede am ersten „Fest der Freude“ auf den Punkt. Auch dieses Jahr hätten einige der letzten Überlebenden zu den Gedenkfeiern anreisen sollen. Doch 2020 zwingt eine weltweite Pandemie zum ersten Mal seit Ende des Zweiten Weltkrieges das Gedenken in den virtuellen Raum.
Was bedeutet das für die Erinnerungskultur in Österreich?
Bis dato fand das seit 2013 jährlich begangene „Fest der Freude“ (über die Befreiung am 8. Mai 1945) am symbolträchtigen Wiener Heldenplatz mit rund 68.000 Besuchern statt. Das alljährliche Highlight war die Ansprache von Holocaustüberlebenden, zuletzt Shaul Spielmann. Das „Fest der Freude“ steht dieses Jahr unter demselben Themenschwerpunkt wie die virtuelle internationale Befreiungsfeier des KZ Mauthausen am 10. Mai 2020, „Menschlichkeit ohne Grenzen“. Dies speist sich aus dem Mauthausen Schwur, der nur wenige Tage nach der Befreiung des KZ Mauthausen von KZ-Überlebenden verfasst wurde. Er steht seitdem als Leitfaden über der Gedenkstätte.[1] Willi Mernyi, Vorsitzender des Mauthausen Komitee Österreich (MKÖ) zur Entscheidung die Befreiungsfeier dieses Jahr virtuell abzuhalten: „Eine virtuelle Befreiungsfeier kann keinesfalls der Ersatz für eine Befreiungsfeier in der KZ-Gedenkstätte sein. Aber es ist die beste Möglichkeit gemeinsam, international und unter ganz starker Einbindung von Überlebenden zu gedenken.“[2]
Überlebende waren dazu bereit, statt des Besuches Videobotschaften zu senden. Ihre Reaktion auf die Auslagerung der Gedenkfeiern in den digitalen Raum schien recht positiv – auf diese Weise können viele von ihnen an der Gedenkfeier teilnehmen, die sonst nicht fit genug für die Anreise aus dem Ausland wären. Die Jüngsten der Überlebenden sind jetzt 75 Jahre alt: die drei Schicksalskinder von Mauthausen waren erst wenige Tage und Wochen alt, als Mauthausen am 5. Mai 1945 befreit wurde. Ihre berührenden Ansprachen sind online abrufbar.[3]
Diese Botschaften können gerade durch die Vervielfältigungsmöglichkeiten des WorldWideWeb eine ganz neue Reichweite erzielen. Sie können geshared, gepostet, geblogged, getwittert, und nicht zuletzt immer wieder angeschaut werden.
Braucht es Überlebende, um das unfassbare Grauen des Holocaust für spätere Generationen begreifbar zu machen?
Diese Frage wird kontrovers diskutiert. Führende österreichische Historiker wie Peter Pirker verneinen dies. Jedoch warnt er einerseits vor der Ritualisierung von Gedenken, gedenken nur um Gedenken willen, andererseits vor Erinnern als reines politisches Element mit sinnentleertem Inhalt.[4] Um der Ritualisierung zu entgehen, liegt es auch an uns, die Zeitzeugen getroffen haben, ihre Geschichten weiterzutragen an nachkommende Generationen. Wir haben den Auftrag, zu Zeugen der Zeitzeugen zu werden. In der Begegnung liegt etwas sehr Persönliches, ein Zeugnis, das nicht mit der Lektüre einer Autobiographie gleichzusetzen ist.
In der Umsetzung von Projekten der Erinnerungskultur wird manchmal in Frage gestellt, ob nicht schon genug gedacht und erinnert worden sei. Dass die Frage überhaupt aufkommt, zeigt überdeutlich, dass es eben nicht genug ist. Dass Gedenken und Erinnern an die Shoa nach wie vor höchste Priorität hat, bestätigt auch die Formulierung des Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen in seiner Video-Ansprache vom 5. Mai 2020: Der Holocaust sei „eine offene Wunde in der Geschichte Österreichs“.[5] Steigende Prozentzahlen von Antisemitismus in Österreichich laut neuester Studien[6] bestätigen dies.
Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka in seiner diesjährigen Rede zum 5. Mai im Parlament: „Es gibt sechs Millionen Gründe, um gegen Antisemitismus aufzustehen“.[7] Wiederholte (und oft verschwiegene) Schändungen von Gedenkstätten wie dem KZ Mauthausen, oder zuletzt der Porträts von Holocaust-Überlebenden der Ausstellung „Gegen das Vergessen“ des Künstlers Luigi Toscano an der Wiener Ringstraße machen aber auch sichtbar, dass Bildung rund ums Thema Holocaust unfassbar notwendig bleibt. Auch nachkommende Generationen und neu zugewanderte Menschen müssen mit den Verbrechen des Nationalsozialismus, der Shoa, mit deren Vorgeschichte und deren Nachwirkungen, konfrontiert werden. Es ist außerdem auch eine Frage des Anstands, der Toten zu gedenken, Opfer in Ehren zu halten, Verbrechen zu exponieren, auch im Sinne der präventiven Wirkung.
Ruth Klüger (geb. 1931 in Wien) sagt über das Erinnern:
Heute gibt es Leute, die mich fragen: »Aber Sie waren doch viel zu jung, um sich an diese schreckliche Zeit erinnern zu können.« Oder vielmehr, sie fragen nicht einmal, sie behaupten es mit Bestimmtheit. Ich denke dann, die wollen mir mein Leben nehmen, denn das Leben ist doch nur die verbrachte Zeit, das einzige, was wir haben, das machen sie mir streitig, wenn sie mir das Recht des Erinnerns in Frage stellen.[8]
Ein Blick nach Israel, wo bereits am 21. April der יום הזיכרון לשואה ולבורה (Yom haZikaron la-Shoa ve-laG‘vurah) begangen wurde, der Gedenktag an die Opfer der Shoa und im jüdischen Widerstand, sowie die Helden der jüdischen Untergrundkämpfer. Nach dem jüdischen Kalender fällt dieser Tag auf den 7. Nisan, das Datum des Beginns des Widerstands im Warschauer Ghetto (19. April 1943). In der Diaspora wird in den Synagogen und jüdischen Gemeinden gedacht. Unter der Federführung von Yad vaShem, der bedeutendsten Gedenkstätte für den Holocaust in Jerusalem, steht der Yom ha-Shoa jedes Jahr unter einem anderen Thema, unter dessen Blickwinkel der Holocaust betrachtet wird. Im Jahr 2020 ging es ausgerechnet um das gegenseitige Helfen und die Solidarität von Jüdinnen und Juden untereinander.[9]
An dem nationalen Feiertag laufen neue Dokumentationen rund ums Thema oder Trauermusik. Überlebenden wie Nachkommenden erteilt dies eine Form von Wertschätzung und zollt ihrer Geschichte und dem erlebten Leid Respekt. Das gilt nicht nur individuell, sondern auch kollektiv für das jüdische Volk. Das Gedenken ruft jedes Jahr aufs Neue eine Art Nachsinnen darüber hervor, dass es nicht selbstverständlich ist, heute im jüdischen Staat Israel zu leben.
Durch die Corona-Pandemie wird weltweit ein Wert neu entdeckt, die Solidarität. Krisen rücken nicht zuletzt Dinge in Perspektive – das aktuelle Maß an Leid und Tod wird trotzdem nie an das unvorstellbare Grauen des Holocausts heranreichen. Solidarität ist die treibende Kraft von intakten Gesellschaften. Dabei ermöglicht der digitale Raum das Fortbestehen des alltäglichen Lebens. Darin besteht dieses Jahr die große Chance: durch das Medium des Internets kann eine neue Gruppe an Menschen bewegt werden, am Gedenken an 75 Jahre Befreiung von NS-Terror teilzunehmen.
Im flexibleren Homeoffice und durch den Entfall vieler Termine entsteht neuer Raum und die notwendige Ruhe, für die Auseinandersetzung, die unser aller Aufmerksamkeit verdient. Damit büßt der Themenschwerpunkt auch virtuell nichts an seiner Schlagkraft ein. Das zusätzlich notwendige individuelle Gedenken ist seit 4. Mai im Außenbereich des KZ Gusen und der KZ-Gedenkstätte Mauthausen wieder möglich.
Die gegenwärtige Pandemie darf das Gedenken und Erinnern nicht zum Stillstand bringen. Das impliziert einen klaren Bildungsauftrag für die nachkommenden Generationen. Diese Aufgabe fällt auch der politischen Aufklärung zu, die jungen Menschen darlegen muss, wie notwendig eine Auseinandersetzung mit der Geschichte für das Verständnis von Gegenwart ist. Es muss eine Verbindungslinie zwischen Vergangenheit und Gegenwart gezogen werden, auch wenn es manchmal wehtut.
Aber: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.“ (Ingeborg Bachmann)
[1] Siehe Mauthausen Komitee Österreich: https://www.mkoe.at/gedenk-und-erinnerungsarbeit/gedenk-und-befreiungsfeiern (Zuletzt abgerufen am 08/05/2020)
[2] Siehe Fest der Freude: https://festderfreude.at/sites/default/files/files/presse/Presse-Ankuendigung-Fest-der-Freude-29.04.2020.pdf Zuletzt abgerufen am 08/05/2020)
[3] Siehe https://www.mauthausen-memorial.org/de/Aktuell/75-Jahre-Befreiung-KZ-Mauthausen-Die-Schicksalskinder-von-Mauthausen (Zuletzt abgerufen am 08/05/2020)
[4] Peter Pirker gegenüber Der Standard vom 08.05.2019: https://www.derstandard.at/story/2000102691765/wenn-das-erinnern-zu-gedenken-erstarrt (Zuletzt abgerufen am 08/05/2020)
[5] Siehe https://www.bundespraesident.at/aktuelles/detail/mauthausen (Zuletzt abgerufen am 08/05/2020)
[6] Die 2018 von Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka in Auftrag gegebene Antisemitismusstudie ergab, dass in der österreichischen Bevölkerung 10% manifester und rund 30% latenter Antisemitismus vorhanden ist. Siehe https://www.parlament.gv.at/PAKT/PR/JAHR_2019/PK0266/index.shtml (Zuletzt abgerufen am 08/05/2020)
[7] Wolfgang Sobotka Gegenüber der Salzburger Nachrichten vom 04.05.2020: https://www.sn.at/politik/innenpolitik/es-gibt-sechs-millionen-gruende-dafuer-87111046 (Zuletzt abgerufen am 08/05/2020)
[8] Ruth Klüger: Weiter leben. Eine Jugend. Wallstein: Göttingen 1992, S. 73. Das Nachfolgewerk unterwegs verloren. Erinnerungen erschien 2008 im Paul Zsolnay Verlag.
[9] Siehe Yad-VaShem: https://www.yadvashem.org/yv/he/remembrance/2020/theme.asp (Zuletzt abgerufen am 08/05/2020)
Das Titelfoto stammt ebenfalls vom MKÖ:
Rat-Blog Nr. 5/2020
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