Der slowenische Philosoph Slavoj Žižek hat ein Buch geschrieben. Daniel Kuran antwortet.
In seinem neuen Buch PANDEMIC!: COVID-19 Shakes the World[1] schreibt der slowenische Philosoph Slavoj Žižek: „not to shake hands and isolate when needed IS todays form of solidarity” (Pan. S. 77). Doch reicht das schon aus, um von Solidarität zu sprechen oder ist das nur das Phänomen einer anfänglichen und naiven Euphorie? Die schrittweise Wiederbelebung des öffentlichen Raums scheint aber wesentlich schwierigere Formen von Solidarität zu fordern als die von Žižek genannte.
Transformation des Sozialen?
Žižek beginnt sein Ende März veröffentlichtes Buch u.a. mit einem Zitat des frühen Hegel. Laut Žižek könne man heute, einem Passanten durch den Sicherheitsabstand ins Auge blickend, eine „rätselhafte“, nicht zu fassende Dimension des Mitmenschen wahrnehmen. Er umschreibt dies auch mit einem Zitat aus Hegels Jenaer Systementwürfen:
„Der Mensch ist diese Nacht, dies leere Nichts, das alles in ihrer Einfachheit enthält – ein Reichtum unendlich vieler Vorstellungen, Bilder, deren keines ihm gerade einfällt –, oder die nicht als Gegenwärtige sind. […] Diese Nacht erblickt man, wenn man dem Menschen ins Auge blickt – in eine Nacht hinein, die furchtbar wird, – es hängt die Nacht der Welt hier einem entgegen.“ (Jenaer Systementwürfe III, S. 172)[2]
Hegels Zitat steckt voller auf die Spitze getriebener Ambivalenz: es schwankt zwischen der zeitlich begrenzten Form „Nacht“ und dem unbefristeten, alle Grenzen verschlingenden „leeren Nichts“ sowie zwischen dem potentiellen Reichtum an Inhalt und dessen gespenstischer Abwesenheit. Furchtbar kann diese Abwesenheit laut Hegel werden, wenn es bei diesem abstrakten Nichts bleibt, das sich nicht zu einer Begegnung konkretisiert. Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Texten, in denen Žižek diese Hegel-Stelle zitiert, lässt er in seinem neuen Buch allerdings die Einfügung „ – in eine Nacht hinein, die furchtbar wird –„ einfach weg (vgl. Pan. S. 2). Die tiefe Ambivalenz, die in Hegels Sätzen steckt, wird dadurch abgeschwächt und zum Ausgangspunkt genommen, um eine bestimmte Hoffnung zu äußern. Žižek schreibt: „So there is a hope that corporeal distancing will even strengthen the intensity of our link with others. It is only now, when I have to avoid many of those who are close to me, that I fully experience their presence, their importance to me.” (Pan. S. 3) Obwohl Žižek eindringlich davor warnt, der aktuellen Pandemie einen tieferen Sinn zuzuschreiben oder gar zu verzwecken (Pan. S. 14), äußert er die Hoffnung, dass durch die Isolation neue Formen der Solidarität ins Leben gerufen werden. Žižek zitiert in dem Buch auch einen Blogartikel von Catherine Malabou zustimmend,[3] die einen ähnlichen Gedanken formuliert hat: „a bracketing of sociality, is sometimes the only access to alterity, a way to feel close to all the isolated people on Earth.” (Pan. S. 98)
Diese Äußerungen sollten nicht vorschnell zynisch abgetan werden zumal sie trotz der weltweiten Suspendierung großer Teile des sozialen Lebens, versuchen, aus der je individuellen Lage heraus eine neue Intensität des Sozialen zur Sprache zu bringen. Angesprochen wird dabei eine neue Intensität des Sozialen in der Suspendierung seiner Form: Neu ist also, dass diese Solidarität sich in einer Form zeigt, in der sie sich bisher nicht gezeigt hat: eine nicht-individualistische, sondern kollektive Isolation. Dabei steht etwas auf dem Spiel, was die Begriffe „social / corporeal distancing“ nur unzureichend ausdrücken: die Frage nach einer neuen Formung des Sozialen, einer Transformation des Sozialen durch die physische Distanz hindurch. Žižek hat Recht daran zu erinnern, dass der Begriff „Virus“ in den letzten Jahren ebenso zur Bezeichnung von Phänomenen im digitalen Raum verwendet wurde und eine vermeintlich „immune“ virtuelle Realität keineswegs als unproblematischer Ersatz für unmittelbare Sozialkontakte herhalten kann. (Pan. S. 44). Insofern nennt Žižek eine wichtige Herausforderung: „we will have to learn to live in a viral world, a new way of living will have to be painfully reconstructed.” (Pan. S. 118). Wie kann aber diese Neuerfindung des sozialen Lebens gerade im öffentlichen Raum aussehen?
Weniger als isoliert
Was geschieht mit dieser Solidarität, wenn sich die gesetzlichen Rahmenbedingungen lockern, die Isolation aufbricht und man wieder unmittelbarer mit dem anderen konfrontiert ist?
Zahlreiche Menschen sind mit der Frage konfrontiert, wie sie in Zukunft ihre Sozialkontakte gestalten oder besser neu erfinden sollen, ob und in welcher Form diese für sie verantwortbar sind. Sicherlich ist Žižek zuzustimmen, wenn er schreibt: „to maintain a corporeal distance is to show respect to the other since I also may be a virus bearer” (Pan. S. 88). Können aber Trennung und Distanz der letzte Horizont des Umgangs mit anderen sein? So notwendig und sinnvoll Abstandsregeln als ein Rahmen der Legalität sind, so stellt sich doch die Frage: Kann es in den Bereichen, in denen es um Eigenverantwortung geht, schon als moralisch gut gelten, die Distanz zum anderen zu waren?
Im Moment herrscht bei vielen ein höchst eigenartiges Gefühl vor: das Gefühl nicht zu wissen, ob man in der sozialen Interaktion gerade die eigenen Prinzipien oder die des anderen bricht, jedoch auch noch nicht wirklich beim anderen anzukommen. Wer hat sich zuletzt nicht schon einmal gefragt: War das an der Kasse oder am Eingangstor gerade ein Sozialkontakt oder war das etwas „anderes“, wofür es noch keinen rechten Begriff gibt? Die größte Verunsicherung verursacht die Isolation nicht in der Isolation selbst, in der wir uns längst mit unseren Prinzipien eingerichtet haben, sondern in ihrer Auflösung, in der wir unseren Bereich verlassen, ohne jedoch beim anderen anzukommen und in dem Niemandsland sozialer Nicht-Begegnung stranden. Dort, wo wir von unseren abstrakten Prinzipien und von der Bindung zum anderen zugleich verbannt wurden.
Moralische Verpflichtung oder kollektive Abstraktion?
In seinem Buch bezieht Žižek sich u.a. auf die frühen Schriften Hegels, in denen dieser sich an den Begriffen von Kants Moralphilosophie abarbeitet. Auf ein Problem kommt Hegel dabei immer wieder zurück: das Phänomen, dass moralische Gebote immer in der Gefahr stehen, zur Abstraktion zu werden, wenn ihr „Sollen“ ohne Rücksicht auf Gegebenheiten der Realität gänzlich entgegengesetzt ist: „Die reine Moralität aber ganz getrennt von der Wirklichkeit, so daß sie ebensosehr ohne positive Beziehung auf diese wäre, wäre eine bewußtlose, unwirkliche Abstraktion[…]“ (Werke III, S. 461).[4] Moralität hat selbst einen Hang zur Isolation und Abstraktion. Und „Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören“, so Hegel noch in seinen späteren Vorlesungen (Werke 20, S. 331).Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass eine Distanzierung von der Welt kein Sonderfall, sondern eine jedem moralischen Gebot eingeschriebene Tendenz ist.
Die Grenzen des „social distancing“ zeigen sich dort, wo dieses von einem moralischen Anspruch zu einer kollektiv vollzogenen Abstraktion wird, zu einer Regel, der keine wirkliche Situation je entsprechen wird. Das geschieht, wenn der Abstand zum Selbstzweck wird, ohne zugleich eine neue Form der Beziehung wiederaufzunehmen. Es kann dann sogar vergessen werden, dass nur der andere, nicht aber der Raum unbedingt schützenswert ist. „Social distancing“ auch zum moralischen Leitbild zu erheben, ist insofern fragwürdig, als das dem Versuch gleichkommt, eine bloße verräumlichte Form der Legalität – in der die Freiheitsräume isolierter Subjekte einander perfekt begrenzen – zum moralischen Inhalt zu erklären. Die Gefahr ist, dass eine bloß verräumlichte Vorstellung von Legalität, die selbst aber immer moralisch zu verantworten ist, schon zum moralisch gebotenen Inhalt gemacht wird. Das kann im äußersten Fall zu einer ganz inhalts- und substanzlose Regel führen, die, wie alle leeren Regeln, zu einer Farce verkommt. Zum primären Resultat haben leere Regeln immer das Phänomen des Verdachts: „Jeder ist verdächtig, und ‚niemand ist kein Risiko‘“ wie Thomas Assheuer es ausdrückt.
Verdacht
Je abstrakter die Regel, je unsichtbarer die Folgen und je weniger Gewicht dem Einzelnen zukommt, desto sicherer ist das Ergebnis eine Haltung des Verdachts. In der Logik des Verdachts ist der andere immer schon „zu nahe“. Ist er nicht in Wahrheit schon hier drinnen, anstatt wie es scheint außerhalb? Kann ich dem vermeintlich Eigenen, kann ich meinen eigenen Sinnen noch trauen? Im Verdacht kann ich den anderen nicht fassen, gerade weil er immer schon zu nahe dazu ist. Tatsächlich ist Verdacht der Zustand, in dem ich bereits alle lebendigen Beziehungen zum anderen soweit aufgekündigt habe, dass er für mich nicht mehr Realität hat als ein Gespenst. Im Verdacht mache ich den anderen zum entkörperten Gespenst, das sich in diesem und jenem Gesicht vielleicht zeigt, aber immer entwischt.
Auswege aus der Abstraktion
Der Problematik einer solchen Situation ist Hegel sich völlig bewusst. Der Verdacht ist immer grenzenlos und richtet sich gegen eine abstrakte Allgemeinheit: verdächtig sind immer „alle“. Doch Abstraktionen können nicht durch weitere Abstraktionen aufgelöst werden. Für Hegel kann deshalb der Einzige Ausweg aus der Entgegensetzung von Sollensansprüchen nicht wiederum in einem Sollen, sondern nur in der Anerkennung eines Seins mit all seinen unmittelbaren Bedürfnissen liegen (vgl. Werke I, S. 324). Allein die Anerkennung unmittelbarer Bedürfnisse vermag, was kein Gesetz vermag, nämlich die Verstrickung in Abstraktionen und Geltungsansprüchen verlassen.
Für eine Gesellschaft ist es daher wichtig, je stärker die notwendige Reglementierung ist, desto sicherer ein Bewusstsein ihrer Bedürfnisse zu bewahren. Diese scheinen in der gegenwärtigen Situation aber kaum genug Gehör in Diskussionen zu finden. Überall dort, wo ich selbst entscheiden kann und muss, kann ich mich dazu entscheiden, den anderen nicht bloß aus einer abstrakten Norm heraus zu schützen, sondern weil ich mich vom Verletzbar-Sein des anderen berühren lasse. Dies verlangt eine auf guten Informationen und kritisch überdachten Einsichten basierende Sensibilität für die Bedürftigkeit des anderen. Jeder, der schon einmal mit einer bedürftigen Person zu tun hatte, weiß dass diese Bedürfnisse oft überraschender, vielfältiger und komplexer sind, als der erste Eindruck meint. In ihnen artikuliert sich überdies auch die gesellschaftliche, nicht nur die physische Verwundbarkeit.
Bei jungen Menschen wird dies besonders ein Bedürfnis nach Zukunft sein: Die durch die Krise nochmals so viel drastischer verringerte Hoffnung auf einen Horizont, der nicht nichts ist.[5] Das Verletzbar-Sein des anderen, das so vielfältig ist, wie jeder einzelne und das meinen unbedingten Schutz verlangt, wird jedoch mehr von uns fordern als sich in einer einfachen Regel ausdrücken lässt.
In seiner Kritik an Giorgio Agamben verlangt Žižek im 8. Kapitel seines Buches, indem er den Soziologen Benjamin Bratton zitiert, dass wir ein differenziertes Vokabular für Inventionen entwickeln müssen, sodass nicht jede Maßnahme sofort als Überwachung und Kontrolle denunziert wird (vgl. Pan, S. 76). Umgekehrt ist aber auch ein differenzierteres Vokabular für die Verletzbarkeit und die Bedürfnisse zu fordern. Jede Maßnahme der Distanzierung sollte zugleich von einer Ausweitung der Sensibilität für die Bedürfnisse des anderen begleitet werden, sodass diese zur Sprache kommen.
Während der Aussetzung eines Großteils der körperlichen Umgangsformen im öffentlichen Raum, ist die Sprache das wichtigste Instrument, um dem anderen einen Körper zu geben. Durch Kontakte und Berührungen, aber auch durch Arbeit, Konsum und Kultur bilden wir für gewöhnlich eine zweite Natur, einen sozialen Körper aus, der nun bei manchen mit Arbeit völlig überlastet, bei anderen aufs Minimalste reduziert und bei vielen virtualisiert ist. Fast haben wir uns auch schon an die gespenstische Verzögerung der Stimme, eingefrorene Bilder von Köpfen in Videokonferenzen und deren plötzliches Verschwinden in einem schwarzen Bildschirm gewöhnt. Die Sprache ist in der Überflutung durch mannigfaltige Vermittlungsformen vielleicht die einzige Vermittlung, die zugleich das Bedürfnis nach Unmittelbarkeit befriedigen kann. Sie vermag es, den anderen zu benennen und durch Gesten der unmittelbaren Anrede von einem Gespenst wieder in einen Körper zu verwandeln. In dieser Zeit ist es wichtig, was sonst oft stumm bleibt, wie physischen Schmerz, körperliches Befinden, komplexe Gefühle, Leid auszusprechen und ihnen so eine Realität in der Sprache zu geben. Erst die Erzählung kann in dieser Situation oft die Realität des Körpers zurückgeben, die durch fehlenden Kontakt verschwunden scheint. Auf diese Weise kann beispielsweise schon eine Email eines auch nur flüchtig Bekannten einen heilsamen Effekt haben, wenn er/sie es nur vermag, seine Verletzbarkeit und Bedürfnisse in die Sprache zu heben.
An die Heilsame Wirkung des Erzählens[6] erinnert nicht nur die Psychoanalyse, sondern auch Walter Benjamin 1932: „Auch weiß man ja, wie die Erzählung, die der Kranke am Beginn der Behandlung dem Arzte macht, zum Anfang eines Heilsprozesses werden kann. Und so entsteht die Frage, ob nicht die Erzählung das rechte Klima und die günstige Bedingung manch einer Heilung bilden mag.“ (Benjamin GS IV.I, S. 430)[7] Dadurch können selbstverständlich viele Probleme nicht beseitigt werden, die Erzählung kann aber sehr wohl den Unterschied zwischen Hoffnung und absoluter Verzweiflung ausmachen.
In unserer Gesellschaft gilt es jedenfalls, ein Monopol auf das, was heilsam ist, zu verhindern. Die Sprache vermag bereits durch die Anerkennung von Leid und Bedürftigkeit, eine erste heilsame Wirkung zu erzielen und in ihrer Zitierbarkeit kennt sie weder Datum noch Patent.
Spirit is not a virus
Žižek spricht in seinem Buch nicht nur vom Coronavirus. Vielmehr versucht er, auch andere Phänomene mit dem Begriff „Virus“ zu erhellen. So schreibt er etwa von „ideologischen Viren“ (Pan. S. 39), die in der Pandemie zum Vorschein kämen, wodurch der Begriff immer mehr ausgeweitet wird. Da die Sprache es laut Hegel vermag, das Höchste und das Niedrigste, das Geistvollste und das Geistloseste, die komplexteste Form geistiger Vermittlung und die stupideste Form biologischer Selbstreproduktion, das Lebendige und das Tote zusammenzuschließen, lässt sich Žižek in gewohnt provokanter Weise dazu hinreißen, Hegels Satz (ein sogenanntes unendliches Urteil) „Der Geist ist ein Knochen“ (Werke III, S. 259f.) zu dem anstößigen Satz „Spirit is a virus“ (Pan. S. 79) umzudeuten. Der Geist kann für Hegel selbst das Niedrigste und Geringste in sich aufnehmen. Was Žižek allerdings verschweigt, ist, dass solche Sätze laut Hegel zu „albernen Vorstellungen“ herabsinken (Werke III, S. 262), wenn sie als solche festgehalten werden. Unendliche Urteile – ein weiteres Beispiel aus Hegels Feder wäre „der Geist [ist] nicht rot“ (Werke VI, S. 324) – sind für Hegel widersinnig, weil die beiden in ihnen verknüpften Begriffe so wenig miteinander zu tun haben, dass sie das Urteil und seinen Versuch, die Welt unmittelbar festzumachen, zerbrechen. Die Bedeutung solcher Sätze liegt für Hegel also darin, dass sie sich selbst aufheben (Werke III, S. 260) und an der Spitze ihrer Absurdität gerade ihr Gegenteil zu lesen geben: „Der Geist ist kein Knochen“, „spirit is not a virus“. Was Geist ist, so müsste man mit Hegel sagen, wird erst an diesem Gegenstoß, eben seiner Gegenreaktion deutlich: Wenn der Versuch, das Gegebene unmittelbar zu beurteilen fallen gelassen werden kann. Unendliche Urteile markieren einen Punkt, an dem ein Perspektivenwechsel möglich und nötig wird. Žižeks Überlegungen sollten ein Anstoß zu einem solchen Perspektivenwechsel sein, der sich fragt, wie Geist und Kultur sich selbst in der neuen Situation hervorbringen können, ohne einfach in unmittelbare Urteile zurückzufallen.
Vom Diskurs der Barbarei zum Diskurs der Kultur[8]
Eine der Hauptthesen von Žižeks Buch ist, dass uns die Pandemie vor eine (zweifelhafte) Alternative stellt: die Alternative zwischen einem neuen Kommunismus (inklusive eines globalen Gesundheitssystems) und einem „barbarischen Kapitalismus“ („new barbarian capitalism“, Pan. S. 127), der die derzeitigen wirtschaftlichen Einbußen auf dem Rücken der Menschen aufzuholen beabsichtigt.
Žižek und Agamben haben vielleicht die konträrsten Positionen in der aktuellen Diskussion eingenommen. In einem Punkt kommen sie jedoch überein: beide sind mit dem Wort der Barbarei schnell bei der Hand. Während Žižek sie als düsteres Szenario in Aussicht stellt, sieht Agamben sie schon umgesetzt in dem, was er als politisch-ethischen Zusammenbruch beurteilt.[9] Weshalb, so könnte man fragen, sind diese Philosophen aber so sicher, im Besitz der Kultur und des Wissens darum, was nicht Kultur ist, zu sein, wo doch auch das kulturelle Leben fast gänzlich zum Erliegen gekommen ist und Künstlerinnen und Künstler wohl mit am längsten unter den Auswirkungen zu leiden haben werden? Anstatt den Vorwurf der Barbarei aus der Tasche zu zaubern, benötigen wir, wie Isabella Guanzini hervorgehoben hat, einen Diskurs der Kultur.[10]
Wäre es nicht einer der wichtigsten Aufgaben, zu fragen, wie die Kultur und die Kunst, die unsere Wahrnehmungsgewohnheiten im öffentlichen Raum, unsere Sensibilität für das Menschliche und die Natur prägen, in der neuen Situation wiedergewonnen werden können? Werden Künstlerinnen und Künstler genügend unterstützt werden? Wie kann Kunst helfen, Leid zu erzählen, eventuell zu lindern und Trennungen zu überwinden?
Eine der größten Aufgaben, die u.a. die Religionen herausfordert, stellt sich mit der Frage nach der Wiedergewinnung des öffentlichen Raums, von dem die Krise nicht zuletzt am deutlichsten zeigt, dass er keine natürliche Gegebenheit, sondern eine durch unsere soziale Praxis hervorgebrachte Sphäre ist.
Zwar tritt Žižek mit einer zurückhaltenden Grundthese an: „The really difficult thing to accept is the fact that the ongoing epidemic is the result of natural contingency at its purest, that it just happened and hides no deeper meaning.” (Pan. S. 14). Jedoch wird dieser Anspruch nicht durchgehalten. Eine der am wenigsten überzeugenden Passagen aus Žižeks Buch scheint deshalb seine nostalgische Beschreibung leerer Großstädte zu sein: „The abandoned streets in a megalopolis – the usually bustling urban centers looking like ghost towns, stores with open doors and no costumers, just a lone walker or a single car here and there, provide a glimpse of what a non-consumerist world might look like.” (Pan. S. 56, Hervorhebung D.K.)
Als Gegenposition zu dieser zweifelhaften Beschreibung könnte man folgenden Satz des italienischen Fotographen Marion Dondero zitieren: „Ich bin unfähig, Interesse für die Schönheit eines Ortes zu verspüren, wenn es da keine menschliche Präsenz gibt.“[11] Vielleicht ist an diesem Satz in einer Zeit, in der Bilder von menschenleeren Plätzen nur allzu gut im Gedächtnis sind, gerade die eingestandene Unfähigkeit interessant. Anstatt schon die eigenen Visionen und Nostalgien nach vor und zurück zu projizieren, ist es vielleicht angebracht einzugestehen, dass völlig unabsehbar ist, in welcher Weise sich unsere Wahrnehmung des Öffentlichen rekonstruieren wird. „Die Zukunft ist offen“[12] wie Regina Polak erinnert, auch in Bezug auf das Öffentliche. Wie wird sich unser Wahrnehmungsapparat des Öffentlichen verändert haben? Muss dadurch das Wissen um die Prekarität des öffentlichen Raums und das Bewusstsein seiner sozialen und materiellen Bedingtheit steigen? Was werden die Auswirkungen dauerhafter Distanz für unsere Wahrnehmung von Körpern bedeuten? Kann es einen öffentlichen Raum nur geben, wenn Körper in ihm erscheinen? Die Wiederbelebung des öffentlichen Raums erfordert jedenfalls die Hilfe der Künstlerinnen und Künstler, die im Moment schwer unter der Krise leiden. „Sie halten die Erinnerung wach, dass es jenseits des Privaten und des bloß Virtuellen auch einen offenen Raum gibt, der gemeinsam geteilt wird“[13] so formuliert es Jakob Deibl. Sie, und wohl auch die Religionen, können einen Beitrag dazu leisten, den öffentlichen Raum in einen menschlichen Raum zu verwandeln.
[1] Slavoj Žižek, PANDEMIC! COVID-19 Shakes the World, OR Books, London – New York 2020.
[2] G.W.F. Jenaer Systementwürfe III. Naturphilosophie und Philosophie des Geistes, neu herausgegeben von Rolf-Peter Horstmann, Meiner, Hamburg 1987.
[3] Catherine Malabou, „To Quarantine from Quarantine: Rousseau, Robinson Crusoe, and ‘I’”, in: Critical Inquiry, 23.03.2020, URL: https://critinq.wordpress.com/2020/03/23/to-quarantine-from-quarantine-rousseau-robinson-crusoe-and-i/ [05.05.2020].
[4] G.W.F. Hegel, Frühe Schriften, in: Werke 1-20, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Suhrkamp Frankfurt am Main 72014. Im Folgenden werden Hegel Zitate, wenn nicht anders angegeben, im Fließtext nach dieser Ausgabe zitiert.
[5] Vgl. Kurt Appel, „Per i giovani, un manifesto“, in : Settimana News, 20.04.2020, URL: http://www.settimananews.it/societa/per-i-giovani-un-manifesto/ [05.05.2020].
[6] Vergleiche dazu auch den lesenswerten Beitrag von David Novakovits, „Die Kraft des Gespräches: Gegen die Bedrohung der Sprachlosigkeit“, in: theocare.network, 16.04.2020, URL: https://theocare.wordpress.com/2020/04/16/die-kraft-des-gespraches-gegen-die-bedrohung-der-sprachlosigkeit-david-novakovits/ [14.05.2020].
[7] Zitiert aus: Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften Bände 1–7, Tiedemann, Rolf / Schweppenhäuser, Hermann (Hgs.), Suhrkamp, Frankfurt am Main 1974.
[8] Vgl. dazu den Beitrag von Isabella Guanzini, „Gruß vom Dach. Wir brauchen jetzt einen kulturellen Diskurs“, in: feinschwarz.net. Theologische Feuilleton, 03.05.2020, URL: https://www.feinschwarz.net/wir-brauchen-einen-kulturellen-diskurs/ [05.05.2020].
[9] Vgl. Giorgio Agamben, “Giorgio Agamben zum Umgang der liberalen Demokratien mit dem Coronavirus: Ich hätte da eine Frag“, Gastkommentar in: Neue Zürcher Zeitung, 15.04.2020, URL: https://www.nzz.ch/feuilleton/coronavirus-giorgio-agamben-zum-zusammenbruch-der-demokratie-ld.1551896?reduced=true [05.05.2020].
[10] Vgl. Isabella Guanzini, „Gruß vom Dach. Wir brauchen jetzt einen kulturellen Diskurs“, in: feinschwarz.net. Theologische Feuilleton, 03.05.2020, URL: https://www.feinschwarz.net/wir-brauchen-einen-kulturellen-diskurs/ [05.05.2020].
[11] Zitiert nach Antonio Gnoli, „In assenza di testimoni“, in: Mario Dondero, Mondadori Electa, Roma 2015, S. 27.32, hier: S. 27.
[12] Regina Polak, „Post-Corona: Die Zukunft ist offen“, Gastkommentar von Regina Polak, in: Die Furche 26.03.2020, URL: https://www.furche.at/meinung/diesseits-von-gut-und-boese/post-corona-die-zukunft-ist-offen-2552309 [14.05.2020].
[13] Jakob Deibl, „Ästhetik und öffentlicher Raum in Zeiten der Krise“, in: theocare.network, 01.05.2020, URL: https://theocare.wordpress.com/2020/05/01/asthetik-und-offentlicher-raum-in-zeiten-der-krise-jakob-h-deibl/ [08.05.2020].
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Rat-Blog Nr. 7/2020
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