Lehrt Not beten? Klagelieder als Krisenliteratur

1967-678~Stone Stele Shrine of the Stelae Hazor 15th-13th c BCE
Zum Gebet erhobene Hände auf einer Basaltstele im spätbronzezeitlichen Heiligtum in Hazor.

Marianne Grohmann widmet sich in der gegenwärtigen Krise einer klassischen Vorlage von Krisenliteratur: den Klageliedern.

„In der gegenwärtigen Krise suchen viele Menschen das Gebet, oft wissen sie aber nicht so recht, wo und wie sie es finden können“ – so beginnt Kurt Appel seinen Blog-Beitrag „Auf der Suche nach dem Gebet“ (10. April 2020).[1] „Not lehrt beten“, heißt es. Stimmt das? Macht die gegenwärtige, weltweite Krise nicht eher sprachlos, verstört und hilflos? Ist das Gebet eine passende Form, um in der Krise sprachfähig zu bleiben? Ein Ort, an dem vorformulierte Gebete gefunden werden können, ist die Bibel. Ein Text klassischer Krisenliteratur sind die Klagelieder.

Das Buch der Klagelieder (auchʾÊkāh, Threni oder Lamentationes genannt) wurde in der Tradition dem Propheten Jeremia zugeschrieben. Im Judentum hat es einen festen Sitz im liturgischen Leben: Jedes Jahr am 9. Av (im Juli/August) wird es zur Erinnerung an die Zerstörung des ersten Tempels durch die Babylonier 586 v. d. Z., des zweiten Tempels durch die Römer 70 n. d. Z., sowie zum Gedenken an weitere Krisen und Katastrophen in der jüdischen Geschichte, bis hin zum Holocaust, gelesen. Die Klagelieder verarbeiten eine konkrete historische Krise, die Zerstörung der Stadt Jerusalem und des Tempels. Wie in vielen anderen biblischen Texten haben Menschen hier ihre Krisenerfahrungen vor mehr als 2500 Jahren in Worte gefasst.[2] Haben diese Texte – über ihren konkreten historischen Entstehungskontext und ihre Rezeption in der jüdischen Liturgie hinaus – das Potential, in unterschiedlichen Krisenzeiten immer wieder neu gelesen zu werden?

Krisenpoesie: Ordnung im Chaos

Die Klagelieder sind fünf zunächst unabhängig voneinander entstandene anonyme Gedichte. Vier von ihnen sind als alphabetische Akrosticha gestaltet: jede Strophe beginnt in fortlaufender Reihenfolge mit dem nächsten Buchstaben des Alphabets. Beim 3., mittleren Lied ist die Form noch gesteigert, indem jeweils 3 Zeilen mit demselben Buchstaben beginnen. Das 5. Lied ist zwar kein Akrostichon, die Verszahl entspricht aber der Anzahl der Buchstaben des hebräischen Alphabets. Diese äußere sprachliche Form bietet einen Rahmen. Auch wenn die Welt rundherum in Trümmer zerbricht, gibt das Alphabet eine gewisse Ordnung im Chaos vor, an der man sich beim Lesen oder Rezitieren festhalten kann.[3]

Die Stadt-Frau als Identifikationsfigur

Eine spezielle Form der poetischen Sprache in den Klageliedern ist der Stimmenwechsel: Verschiedene Perspektiven auf die Zerstörung Jerusalems und des Tempels werden in unterschiedlichen Stimmen – im wörtlichen Sinn des Wortes – „verkörpert:“ Jerusalem spricht selbst als personifizierte Stadtfrau (Klgl 1), ein anonymer Mann in Klgl 3, sowie Einzel- und Wir-Stimmen bringen im Wechsel unterschiedliche Perspektiven auf das persönliche und gleichzeitig gemeinschaftliche Leiden zum Ausdruck. Der einzelne Mensch ist gleichzeitig als Individuum und als Teil der Bevölkerung der Stadt im Blick.

In Aufnahme der Tradition mesopotamischer Stadtklagen veranschaulicht das Bild der einsamen, ihres Mannes und ihrer Kinder beraubten Frau, der Tochter Zion in Klgl 1 und 2 die Zerstörung der Stadt Jerusalem und die Vertreibung ihrer Bewohnerinnen und Bewohner. Gleichzeitig klingen auch Stadtgottheiten an. Klgl 1 setzt in V. 1 mit einer Klage über die als Frau personifizierte Stadt Jerusalem ein:

Ach, wie sitzt sie einsam da, die einst volkreiche Stadt!
Sie wurde zur Witwe, die Große unter den Nationen.
Die Fürstin über die Provinzen wurde zur Fronarbeiterin.[4]

In drei Gegensatzpaaren wird die frühere Situation mit der leidvollen Gegenwart kontrastiert: Der einst Völkerreichen, der Fürstin unter den Provinzen, wird die Einsame, Witwe und Fronarbeiterin gegenübergestellt. Sie „sitzt“ oder „liegt“ einsam da, sie „wurde zur Fronarbeiterin.“ Die Titel rabbāh („die große [Stadt]“) und sārāh („Fürstin“) für Jerusalem sind Ehrentitel, die im Alten Orient auch Göttinnen zukommen: In Darstellungen der Schutzgöttin mit Mauerkrone drückt sich die Nähe von Stadt und Stadtgöttin aus. Religionsgeschichtlich lässt sich die weibliche Personifizierung der Stadt auf die westsemitische Tradition einer Stadtgöttin oder der Frau eines Schutzgottes der Stadt zurückführen, die auch Titel wie „Mutter“, „Tochter“ oder „Jungfrau“ haben kann. Diese Titel für Jerusalem haben zum Teil Überschneidungen mit den unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen der Stadt, die genannt werden. Diese decken über die genannten weiblichen Gruppen hinaus alle sozialen Schichten und Altersstufen ab, auch junge Männer, die Ältesten, Priester, Säuglinge, Kleinkinder etc.[5] Wenn es z.B. in Klgl 2,8 heißt, dass Gott „Heer und Mauer in Trauer gestürzt hat,“ dann schillert der Text bewusst zwischen der Stadt als Ort mit Toren, Gebäuden, Mauern und Straßen sowie ihren Einwohnerinnen und Einwohnern.

Die Personifizierung Jerusalems als Tochter Zion, Jungfrau Tochter Juda etc. in den Klageliedern hebt die Beziehungsebene zwischen Gott, Volk und Stadt hervor, die gestört ist und wiederhergestellt werden soll. Sie stärkt die emotionale Dimension der Beziehung zu Jerusalem als Ort und hat die Funktion, die Hoffnung auf einen Wiederaufbau zu wecken.[6]

Ausdrucksweisen der Klage

Die Klage ist im Alten Orient nicht nur etwas persönlich-Individuelles, sondern ein öffentlich sichtbarer Vorgang. Das „Seufzen“ und „Stöhnen“ (ʼnḥ), sonst ein seltenes Verb, hat in Klgl 1 Leitwortfunktion, jeweils mit unterschiedlichen Subjekten: Priester (V. 4), Zion (V. 8), ihre Bewohner (V. 11), „ich“ / Jerusalem selbst (V. 21–22). Persönlicher Schmerz wird in Klagegesten und -riten verarbeitet, die sich z. B. in Klgl 2,10 widerspiegeln:

Die Ältesten der Tochter Zion sitzen auf der Erde und schweigen.
Sie haben Staub auf ihren Kopf gestreut und Trauergewänder umgebunden.
Die Jungfrauen von Jerusalem haben ihren Kopf zur Erde gebeugt.

Die Klagelieder sind Gedichte, poetische Texte: In ihrer Mehrdeutigkeit laden sie dazu ein, immer wieder neue Sinndimensionen zu suchen. An manchen Stellen fordern sie explizit zum Gebet auf, z. B. Klgl 2,19:

Steh auf, schreie (ronnî) in der Nacht, zu Beginn der Nachtwachen,
schütte wie Wasser dein Herz aus vor dem Angesicht Adonajs!
Erhebe deine Hände zu ihm um des Lebens (næpæš) deiner Kleinkinder willen,
die vor Hunger verschmachten an allen Straßenenden!

Der auktoriale Sprecher fordert Jerusalem zur Klage und zum Gebet auf: Das Wort, das hier für das Klagegeschrei verwendet wird (rnn), bedeutet lautes Rufen und Schreien, sonst oft in Form von Jubel (Lev 9,25; Jes 12,6). Das Ausschütten des Herzens ist ein Vorgang, Inneres, Emotionen und Gedanken nach außen und vor Gott zu bringen. Das Erheben der Hände ist eine im Alten Testament und im Alten Orient weit verbreitete Gebetsgeste (vgl. z. B. Klgl 3,41; Ps 28,2). Die Hände sollen die Verbindung zwischen Mensch und Gott herstellen. Es geht um die næpæš in einem sehr umfassenden Sinn: die Seele,  das Leben,  die Vitalität der Kinder.

Beten mit Körper und Seele

Nach Klgl 1 trifft die Not Jerusalem in Mark und Bein und darüber hinaus in ihrem ganzen Körper. Die personifizierte Stadtfrau Jerusalem spricht selbst, zum Teil in Form von an Gott (JHWH / Adonaj) gerichteten Gebeten, wie z. B. in Klgl 1,20–22:

20 Sieh, JHWH, dass mir eng ist. Mein Inneres glüht in Aufruhr.
Mein Herz dreht sich in meinem Inneren um, denn ich bin sehr in Aufruhr.
Draußen beraubt mich das Schwert der Kinder, im Haus ist es wie tot.
21 Sie haben gehört, dass ich seufze. Da ist keiner, der mich tröstet. […]
22 Denn zahlreich sind meine Seufzer, und mein Herz ist krank.

In diesem Gebet der als Frau personifizierten Stadt Jerusalem werden Leid und Schmerz in ihren körperlichen und seelischen Dimensionen entfaltet. Das „Herz“ ist im Menschenbild der Hebräischen Bibel Zentrum des Menschen in einem sehr umfassenden Sinn: Sitz des Denkens, Fühlens, Wollens und Planens.[7] Wie in vielen Klagepsalmen eines/r Einzelnen (vgl. z. B. Ps 6; 102) verdichtet sich hier die Notschilderung in Körpersprache. Emotionen, Vorgänge im Inneren des Menschen werden drastisch geschildert: Die „Enge“ (wörtlich: „Eingeschnürtsein“) beinhaltet sowohl räumliche Enge, Bedrängnis durch Feinde als auch ein Gefühl von Beklemmung und Angst. Das „Innere“ meint einerseits die Eingeweide, die inneren Organe, und andererseits den Bauchraum als Sitz von Emotionen. Die Eingeweide sind „Seismographen des Gefühls.“[8] Mit der Enge und der bildlichen Schilderung „mein Inneres glüht in Aufruhr“ wird ein sehr umfassendes Bild von Schmerz gezeichnet, in dem sich physische Aspekte nicht von psychischen trennen lassen.

Auch äußere Vorgänge werden in das Gebet einbezogen: Dass sich das Herz im Inneren umdreht, ist nicht nur ein Vorgang von innerlicher Aufruhr, sondern weist auch auf die Zerstörung der Stadt hin.[9] Diese Beschreibungen von inneren körperlichen und seelischen Zuständen stehen in unmittelbarer Korrelation zu Vorgängen im Außen: Die Bedrängnis durch die Feinde (V. 7) hat Konsequenzen im innerlich erfahrenen Zustand von Enge und Angst. Der Aufruhr im Inneren des Körpers hat ein Pendant im Gegensatz von „draußen“ und „im Haus“, bezogen auf die Stadt Jerusalem. „Draußen“ oder „von außen“ wütet das Schwert und „beraubt“ die Menschen der Kinder / macht sie kinderlos, „im Haus“ / im Inneren herrscht der Tod. Am Schluss bleiben zahlreiche Seufzer und die Krankheit des Herzens.

Erinnerung an bessere Zeiten

In den altorientalischen Totenklagen wird häufig das gegenwärtige Elend früherem Glanz gegenübergestellt. Ähnlich passiert das auch in den Klageliedern. Wie im bereits zu Beginn genannten Text die frühere Bedeutung der Stadt Jerusalem der jetzigen Not gegenübergestellt wird, – von der Fürstin zur Fronarbeiterin; von der früher Völkerreichen zur Einsamen (Klgl 1,1) – so geschieht das in ähnlicher Weise z. B. auch in Klgl 1,7:

Jerusalem erinnert sich (zkr) in den Tagen ihres Elends und ihrer Heimatlosigkeit
an alle ihre Schätze (maḥmûdæhā) aus den Tagen der Vorzeit.

In der gegenwärtigen Situation von umfassendem Elend und Heimatlosigkeit wird die personifizierte Stadt als eine dargestellt, die sich an bessere Zeiten erinnert. In den „Schätzen“ oder „Kostbarkeiten“ (maḥmûdæhā) klingen die Tempelschätze an (vgl. Klgl 1,10.11; 2 Chr 26,19), gleichzeitig auch das Begehrenswerte (ḥmd) der Stadt als Frau. Mehrmals wird in den Klageliedern an frühere Pracht (Klgl 1,6) und vergangene Festfreude (Klgl 2,6) erinnert, vgl. Klgl 1,4: „Die Wege Zions / die Wege nach Zion trauern ohne die, die zum Fest kommen.“ Die Erinnerung an das Gute in der Vergangenheit, das Schema Einst und Jetzt, ist ein typisches Merkmal der Totenklage. Über die Erinnerung wird kollektive Identität hergestellt. Das kollektive Gedächtnis kristallisiert sich in der personifizierten Stadt.

Wo ist Gott? – Erfahrungen der Gottferne

Die Krise macht sprachlos. Es bleiben Seufzen, Klagen und Weinen als Ausdrucksformen des Leidens. „Fern von mir ist ein Tröster“ heißt es in Klgl 1,16, „da ist keiner, der mich tröstet“ in Klgl 1,21 (vgl. auch Klgl 1,2.9.17). Gott wird – wie in den Klagepsalmen (z. B. Ps 22) – in der Katastrophe als fern und abwesend erlebt. Gott hat die Stadt vergessen (Klgl 2,1). Das individuelle und kollektive Leiden wird dadurch noch drastischer, dass Gott nicht nur als fern wahrgenommen wird, sondern zusätzlich auch noch als sein Verursacher dargestellt wird, als aktiver Zerstörer und Feind, z. B. in Klgl 1,12–13:

12 Euch bedeutet es nichts, die ihr auf dem Weg vorüberzieht.
Schaut her und seht, ob es einen Schmerz gibt wie den Schmerz,
der mir zugefügt worden ist, mit dem JHWH mich in Kummer gestürzt hat
am Tag seines glühenden Zorns.
13 Aus der Höhe hat er Feuer in meine Knochen geschickt, und dann zertrat er sie.
Meinen Füßen hat er ein Netz gelegt, er hat mich zurückgedrängt,
mich verwüstet, er hat mich krank gemacht für alle Zeit.

Das an solchen Stellen zum Ausdruck kommende Gottesbild ist für uns heute schwer verständlich. Solche Gewaltschilderungen gehen zum Teil an die Grenzen des Erträglichen, insbesondere dadurch, dass die Gewalt nicht nur als menschliche Realität, sondern als von Gott ausgehend dargestellt wird. V. a. Klgl 2 ist eine durchgehende Anklage Gottes, in der Gewalt nicht nur den Feinden, sondern auch Gott zugeschrieben wird.

Diese Schilderungen von göttlicher Gewalt bleiben für ein zeitgemäßes Gottesbild anstößig, aber sie werden vielleicht vor ihrem altorientalischen Hintergrund zumindest erklärbar: Das Motiv, dass die Gottheit ihre Stadt nicht ausreichend beschützt und sie deshalb untergeht, hat – allerdings viel ältere – Parallelen in den altorientalischen Stadtuntergangsklagen. Diese führen die Zerstörung von Städten auf unerklärliche Entscheidungen von Gottheiten zurück. Die Verantwortung wird in den Stadtuntergangsklagen auf mehrere Gottheiten aufgeteilt: Die Stadtgottheiten können ihre Stadt nicht schützen, weil höherstehende Gottheiten ihren Untergang beschlossen haben. In der Hebräischen Bibel übernimmt JHWH beide Funktionen, sowohl die eines mächtigen Gottes, der für die Zerstörung der Stadt verantwortlich gemacht wird, als auch die der schützenden Stadtgöttin, die um Hilfe angerufen wird. Weit verbreitete Gestaltungselemente, die sich auch in den Klageliedern finden, sind z. B. der Zorn der Gottheit und die Vernichtung durch Feuer und Sturm.[10] Die Rede vom Zorn Gottes ist ein verzweifelter Aufschrei, ein Versuch, eine Erklärung für die Not zu finden.[11] Intention dieser Texte ist es, JHWH als mächtig zu zeigen, sogar als Herrn (Adonaj) über den Untergang, um auch in der Niederlage an der Vorstellung von der Macht Gottes festhalten zu können.[12]

Menschliches Leiden wird also letztlich in den Klageliedern wie in der Hebräischen Bibel insgesamt auf Gott zurückgeführt. Gott wird für die menschliche Not verantwortlich gemacht. Beklagt wird eine Situation, in der JHWH entweder in weite Ferne gerückt ist oder selbst hinter der Gewalt der Feinde steht. Anders als in den altorientalischen Parallelen sehen manche Klagelieder den Grund dafür, dass Gott auf die Seite der Feinde gewechselt hat, im Verhalten der Menschen.

Vom Gedicht zum Gebet – Gott als Adressat der Klage

Wie in den Klagepsalmen wird Gott in den Klageliedern zwar für die menschliche Not verantwortlich gemacht, aber trotzdem als Adressat der Klage angerufen und um Hilfe gebeten. Mehrmals wird JHWH zum Sehen und genauen Hinschauen aufgefordert (Klgl 1,9.11.20; 2,10), so z. B. in Klgl 1,9: „Sieh dir, JHWH, mein Elend an, der Feind ist groß geworden!“

Auch wenn die Klagelieder wenig Trost zu bieten haben, liegt zumindest im Aussprechen der Not vielleicht ein erster Schritt in Richtung ihrer Überwindung. „Jerusalem erinnert sich“ (Klgl 1,7) – das Stichwort zkr kommt in diesem Zusammenhang öfter vor. Es umschreibt einen Erinnerungs- und Klagevorgang zur Bewältigung der Katastrophe. Der Text will trotz aller Not zum Gebet hinführen und dazu auffordern, Gott als Ansprechpartner für das Leiden anzusehen. Gott ist Adressat der Klage und des Hilferufes, ihm wird das Leid geklagt. Menschliche Not hat im Gebet, in der Klage einen Ort. Nicht nur Jerusalem und ihre Bewohnerinnen und Bewohner werden zum Erinnern aufgerufen, sondern auch Gott wird dazu aufgefordert, die Ferne aufzugeben und sich wieder an die Stadt und die Menschen zu erinnern (Klgl 3,19).

Klgl 3,20–21, aus dem als Rede eines Mannes gestalteten – im Vergleich mit Lied 1, 2 und 4 etwas jüngeren – Lied,[13] beschreibt eine Art Schlüsselstelle für die Intention der Klagelieder:

20 Meine Seele (næpæš) erinnert sich (zkr) immer daran und ist niedergedrückt in mir.
21 Das will ich mir zu Herzen nehmen, und darauf will ich hoffen.

Der Text beschreibt den Übergang vom schmerzhaften Erinnern (zkr) an die Not der Vergangenheit zur Rückerinnerung an die noch davor liegende Gnade Gottes. Er fordert dazu auf, sich trotz aller gegenwärtigen Gewalt an das davor liegende Erbarmen Gottes zu erinnern. Der Zorn Gottes wird als vorübergehende Phase dargestellt.

Die Verbalisierung von Leidenserfahrungen in einer Bedrohungssituation ist ein erster Schritt der Bearbeitung von Ängsten und Nöten.[14] Das Gottesbild der Klagelieder verbindet gewaltvolle und barmherzige Seiten: Der Appell an Gott, genau hinzusehen und sich wieder an sein Volk zu erinnern, hat nur Sinn, wenn von Gott nicht nur Gewalt, sondern auch Erbarmen und Trost erhofft werden.[15] Auch wenn die Klagelieder wenig Hoffnungsperspektiven zu bieten haben, zeigen sie zumindest erste Schritte von Krisenbewältigung auf: Aussprechen von Leidenserfahrungen, Erinnerung an bessere Zeiten, Klage und Gebet.[16]


 

Titelbild-Copyright: Israel Museum, Jerusalem.


[1] Kurt Appel, Auf der Suche nach dem Gebet, in: https://rat-blog.at/2020/04/10/auf-der-suche-nach-dem-gebet/ (zuletzt abgerufen am 28.5.2020).

[2] Regina Polak schreibt, dass „die Texte der Heiligen Schrift nahezu durchgängig im Kontext von Katastrophen und Krisen verfasst wurden“ vgl. Regina Polak, Krise? Eine kleine Phänomenologie der Krise, in: https://theocare.wordpress.com/2020/05/25/krise-eine-kleine-phanomenologie-der-krise-regina-polak/ (zuletzt abgerufen am 28.5.2020).

[3] Vgl. Else K. Holt, Daughter Zion: Trauma, Cultural Memory and Gender in OT Poetics, in: Eve-Marie Becker et al. (ed.), Trauma and Traumatization in Individual and Collective Dimensions. Insights from Biblical Studies and Beyond (Studia Aarhusiana Neotestamentica 2), Göttingen 2014, 162–176: 171:  “It takes reading to acknowledge and recognize the form that is so important for conveying the message of Lamentations; that of assurance and ‘order amid chaos.’”

[4] Übersetzungen der Bibeltexte aus dem Hebräischen durch die Autorin.

[5] Vgl. Adele Berlin, Lamentations. A Commentary (Old Testament Library), Louisville / London 2002, 13–15.

[6] Vgl. Christl Maier, Lost Space and Revived Memory. From Jerusalem in 586 B.C.E. to New Orleans in 2009, in: Brad Kelle et al. (ed.), Interpreting Exile. Displacement and Deportation in Biblical and Modern Contexts (Ancient Israel and its Literature), Atlanta 2011, 189–201: 192.

[7] Vgl. Klaus Koenen, Klagelieder (Threni) (Biblischer Kommentar zum Alten Testament 20), Neukirchen-Vluyn 2014-2015, 86–87; Bernd Janowski, Anthropologie des Alten Testaments. Grundfragen – Kontexte – Themenfelder, Tübingen 2019, 148–155.

[8] Silvia Schroer / Thomas Staubli, Die Körpersymbolik der Bibel, Gütersloh 22005, 55.

[9] Vgl. Klaus Koenen, Klagelieder (s. Anm. 7), 87.

[10] Vgl. Ulrich Berges, Klagelieder (Herders Theologischer Kommentar zum Alten Testament), Freiburg et al. 2002, 46–52.

[11] Vgl. Klaus Koenen, Klagelieder (s. Anm. 7), 95.

[12] Vgl. Klaus Koenen, Klagelieder (s. Anm. 7), 105f.

[13] Vgl. Christian Frevel, Die Klagelieder (Neuer Stuttgarter Kommentar, Altes Testament 20/1), Stuttgart 2017, 43–44.

[14] Was Erich Zenger, Ein Gott der Rache? Feindpsalmen verstehen, in: ders., Psalmenauslegungen 4, Freiburg et al. 2003, 7, zu den sog. „Feindpsalmen“ sagt, gilt auch für die Klagelieder.

[15] Vgl. Christian Frevel, Die Klagelieder (s. Anm. 13), 192f.

[16] Vgl. Marianne Grohmann, Anthropologische und theologische Dimensionen des Leidens in den Klageliedern der Hebräischen Bibel, in: Theologisch-Praktische Quartalschrift 168/2020, 22–31.

 


Rat-Blog Nr. 8/2020

  • Univ.-Prof. Dr. Marianne Grohmann ist Universitätsprofessorin für Altes Testament am Institut für Alttestamentliche Wissenschaft und Biblische Archäologie der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.

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