Corona, der öffentlichkeitslose Raum und die Wissenschaft/Covid-19, the public-less space and science

 

Ein Sommerausblick mit den Mitgliedern des Beirates des Forschungszentrums Religion and Transformation. Interviews von Katharina Limacher und Margareta Wetchy.

An outlook on summer with the speakers of RaT. Interviews by Katharina Limacher and Margareta Wetchy. (English version below)

Ein ungewöhnliches Semester geht zu Ende, das die Universitäten nicht nur vor große organisatorische Herausforderungen stellte, sondern auch wissenschaftliche Forschung in ein neues Licht rückte. Die Expertise von Wissenschaftler*innen war in den vergangenen Monaten gefragt und gleichzeitig diskutiert wie nie. Zu den Fragestellungen, die Handlungsanweisungen für die Arbeit in Laboren und Krankenhäusern zu entwickeln suchten, gesellten sich schnell auch solche, die sich mit den individuellen Herausforderungen derer beschäftigten, die das Virus vielleicht nicht persönlich in ihrer gesundheitlichen Verfassung, aber dennoch mit seinen gesellschaftlichen Auswirkungen betraf. In unseren Kurzinterviews mit den Mitgliedern des Leitungsteams von RaT haben wir die Dimensionen der bisher mit dem Corona-Virus vergangenen Zeit außerhalb des medizinischen Bereiches zum Thema gemacht: Welche politischen, soziologischen und religionswissenschaftlichen Fragestellungen ergaben sich in den letzten Wochen? Welche persönlichen Eindrücke wurden gesammelt? Welche Lehren können aus der Corona-Zeit gezogen werden? Herzlichen Dank an Prof. Sieglinde Rosenberger, Prof. Kurt Appel, Prof. Gerhard Langer und Prof. Lukas Pokorny für die Beantwortung unserer Fragen!

Prof. Sieglinde Rosenberger, Institut für Politikwissenschaft:

Welche Fragen beschäftigen Sie nach den Erfahrungen der letzten Wochen?

Wie kann es zukünftig (wieder) gelingen, gesellschaftlich und politisch im Sinne der Vielen und über nationale Grenzen hinweg zu handeln? Diese Frage ist virulent in und nach einer Zeit, in der das Sein im öffentlichen Raum zurück gedrängt wurde/wird, Zusammenkünfte nur unter erschwerten Bedingungen stattfinden können, berufliche Aktivitäten verstärkt in die „eigenen vier Wände“ verlagert wurden/werden. Was bedeuten diese Maßnahmen für den Zusammenhalt von Gesellschaften, wie verständigen wir uns über das Leben in Gesellschaften und nicht nur über Gemeinschaften?

Welches Potential für gesellschaftliche und religiöse Transformationen sehen Sie in der aktuellen Situation?

Potential für Veränderungen gibt es genug. Die derzeitige Situation stellt einiges von den Beinen auf den Kopf: Wir erfahren, dass es die funktionierenden Staaten sind, die die Unternehmen durch die Krise tragen. Wir erfahren, dass staatlich geführte Gesundheitseinrichtungen besser Krisen bewältigen als privat geführte. Wir erfahren den immensen Wert von Kinderbetreuung und Schule. Kurzum, das Wissen um die politische Machbarkeit hat ein „Gelegenheitsfenster“ bekommen. Die Frage ist, wie rasch und vor allem wer die Gelegenheiten für welche Interessen nutzt? Engagement und Artikulation ist vermutlich derzeit notwendiger denn je.

Was erhoffen Sie sich für die Sommerpause und das neue Semester?

Den Rückgewinn der öffentlichen Räume – allerdings unbedingt unter Einhaltung der viel zitierten Sicherheitsmaßnahmen.

Prof. Kurt Appel, RaT/Institut für Systematische Theologie und Ethik:

Welche Fragen beschäftigen Sie nach den Erfahrungen der letzten Wochen?

Ich habe in Italien mehrere Artikel in Zeitungen geschrieben, die auf breite Resonanz gestoßen sind. Die Frage ging in die Richtung, wie unsere Gesellschaft mit der Covid-Krise umgeht und welche Aporien sich dabei zeigen. Dabei waren Stichworte zum Beispiel die Suche nach absoluter Sicherheit, die Verdrängung von Sterblichkeit, die massive Benachteiligung der jungen Generationen. Religionsphilosophisch beschäftigt mich die Frage nach dem Gebet in Zeiten der Krise und dessen Transformation.

Welches Potential für gesellschaftliche und religiöse Transformationen sehen Sie in der aktuellen Situation?

Es geht meiner Meinung nach ganz massiv darum, von einem absoluten Sicherheitsdenken im Sinne menschlicher Allmachtsphantasien Abstand zu nehmen. Das Menschliche ist immer mit Unverfügbarkeit verbunden und es bedarf einer neuen Kultur, diese Unverfügbarkeit und Offenheit zu leben. Das bedeutet natürlich nicht, menschliches Leben mutwillig aufs Spiel zu setzen und technische und wissenschaftliche Errungenschaften zu diskreditieren.

Notwendig ist meines Erachtens ein kritischer Blick auf eine Expert*innenkultur, die alles der Machbarkeit unterstellt und ein kritischer Blick auf eine Politik, die menschliche Verantwortung durch Autoritarismus ersetzt. Positiv ist, dass wieder die Notwendigkeit eines funktionierenden Staates in den Blick kommt. Die Religion müsste wieder viel stärker die Offenheit und Unverfügbarkeit menschlicher Existenz als Ausgang allen Sinnes thematisieren. Weiters ginge es darum, zu thematisieren, dass der Mensch die Herausforderung und die Verantwortung eines sinnerfüllten Lebens nicht in eine unbestimmte Zukunft auslagern darf.

Welche Fragen beschäftigen Sie nach den Erfahrungen der letzten Wochen?

Ich erhoffe mir eine physische Begegnung mit den Studierenden. Die virtuelle Welt darf die körperliche Begegnung des Anderen nicht ersetzen.

Prof. Gerhard Langer, Institut für Judaistik:

Welche Fragen beschäftigen Sie nach den Erfahrungen der letzten Wochen?
Offengestanden habe ich mich in der Zeit einerseits mit lange liegen gebliebenen Aufgaben beschäftigt, ein Buch zu jüdischer Bibelauslegung in Bezug auf Frauen im Mittelalter ediert und an meinem Buch „Judentum für Dummies“ gearbeitet, sowie einige kleinere Artikel geschrieben. Die privilegierte Situation des Hochschullehrers und Forschers, der zu Hause am Schreibtisch arbeiten kann und den Vorteil der Ruhe und der Ungestörtheit genießen kann, ist mir wieder sehr bewusst geworden – ebenso wie das Bedürfnis nach dieser Ruhe, nach dem ungestört Forschen können. Das Reisen, das ich sonst sehr viel praktiziere, ist mir nur sehr beschränkt abgegangen. Dafür wurde – ökologisch weniger gut – das Auto stärker genutzt als sonst, allerdings auch in sehr beschränktem Rahmen. Ein Fahrrad wird definitiv wiederbelebt werden.

Welches Potential für gesellschaftliche und religiöse Transformationen
sehen Sie in der aktuellen Situation?

Ich denke, dass wir alle mehr und mehr auf ein online-Lernen und -Lehren zusteuern. Außerdem habe ich festgestellt, dass viel mehr Menschen ihre Angelegenheiten und Einkäufe online erledigen. Der Konsum geht auch zurück. Die Gastronomie leidet. Wir stehen hier vor einem Umbruch in ein Zeitalter, wo – zumindest in einigen Branchen und Bereichen – vom Schreibtisch aus viel erledigt wird. Umso wichtiger und sichtbarer sind aber die Menschen im Medizinbereich, in der Pflege, der Versorgung, und der Infrastruktur geworden. Ich arbeite ja schon lange größtenteils zu Hause und genieße das, aber für viele ist es eine Umstellung und ob fehlender Ressourcen auch nicht immer leicht. Hier wird definitiv die Schere zwischen arm und besser gestellt, zwischen gut gebildet und gut aufgestellt und eher schlecht gebildet und wenig auf Online-Lernen vorbereitet sichtbar, gerade auch bei Schüler*innen.

Was erhoffen Sie sich für die Sommerpause und das neue Semester?
Die Sommerpause sollte Zeit bringen für den nächsten Krimi, für den ich auch einiges recherchieren muss. Das neue Semester? Mal sehen, ob es weiter eher online- oder wieder face-to-face-Begegnungen geben wird. Im Bereich Prüfungen und auch in Vorlesungen klassischen Stils habe ich diese Form lieber. Seminare waren auch online annehmbar.

Prof. Lukas Pokorny, Institut für Religionswissenschaft:

Welche Fragen beschäftigen Sie nach den Erfahrungen der letzten Wochen?
Insbesondere verblüffte mich die Aktualität und Vielgestaltigkeit verschwörungstheoretischer Elemente in den Millenarismusvorstellungen alternativer/neuer religiöser Gemeinschaften. Damit zusammenhängend war es gleichermaßen faszinierend, in welchen Formen so manche Gemeinschaften Covid-19 unter ritualpraktischen Gesichtspunkten begegneten. Eine zeitnahe systematische Erforschung ist jedenfalls geboten.

Welches Potential für gesellschaftliche und religiöse Transformationen
sehen Sie in der aktuellen Situation?

Ich denke, dass die aktuelle Situation mit ihren weitreichenden ökonomischen und sozialpsychologischen Folgen die Schaffung und Popularisierung millenaristischer Vorstellungswelten enorm begünstigt.

Was erhoffen Sie sich für die Sommerpause und das neue Semester?

Die Umsetzung so mancher Forschungsideen.


Covid-19, the public-less space and science. An outlook on summer.

An unconventional semester is slowly ending. Not only have universities around the world been faced with enormous organizational challenges, but also scientific research itself received unforeseen attention. The expertise of scientists was both highly demanded and controversially discussed. Questions that were raised to guide work in laboratories and hospitals were soon complemented by questions that sought to highlight individual challenges and burdens that those faced who were not medically affected by the virus, but were affected by the social implications the pandemic entailed. We spoke to the RaT leadership team to find out about the dimensions of Covid-19 outside of the medical sphere: Which questions did arise from the standpoints of political, sociological and religious studies? Which personal impressions did the team members gather? What can we learn from the weeks and months with Covid accompanying us in our daily lives? Our sincere thanks go to Prof. Sieglinde Rosenberger, Prof. Kurt Appel, Prof. Gerhard Langer and Prof. Lukas Pokorny who took the time to answer our questions!

Prof. Sieglinde Rosenberger, Institute for Political Science:

What questions did you come across over the last few weeks?

How can we successfully manage to socially and politically act in accordance with the needs and wishes of the large majority and across national borders? This question is particularly virulent in and after a time in which the individual’s presence and mobility in the public space was drastically restricted, in which meetings and gatherings took place under difficult conditions, in which professional activities were increasingly shifted to our own four walls. What do these measures mean for societal cohesion, how do we communicate about life in societies and not only in communities?

What potential do you see for social and religious transformations in the current situation?

There is enough potential for transformation. The current situation turns a lot of things upside down: We learn that it is the well-functioning states that carry companies through crisis. We learn that state-run health care institutions are better in coping with crises than private ones. We learn how extremely valuable childcare and schools are. In short, knowledge of political feasibility got a window of opportunity. The question that remains is how quickly and, most importantly, who will seize the opportunity and for what interests? Engagement and communication are most likely more necessary now than ever.

What are your hopes for the summer break and new semester?

To regain the public space – however, in strict compliance with the frequently quoted safety measures.

Prof. Kurt Appel, RaT/Institute for Systematic Theology and Ethics

What questions did you come across over the last few weeks?

I wrote several articles for Italian newspapers that found broad resonance. The questions asked about how our society deals with the Covid-19 crisis and which impasses became visible during this time. Key questions in this context were, among others, the search for full security, the displacement and suppression of mortality, and massive discrimination of the younger generations. With regard to the philosophy of religion, I mostly thought about the question of prayer during times of crises and its transformation.

What potential do you see for social and religious transformations in the current situation?

In my opinion, we have to move away from an absolute safety culture in the sense of the ‘human fantasy of omnipotence’. The humane is always related to unavailability and there is a need for a new culture that allows for living this unavailability and openness. This of course does not mean that the lives of humans should deliberately be jeopardized, and that technological and scientific achievements should be discredited. I believe that expert culture that subordinates everything to the paradigm of feasibility has to be critically questioned. I believe that policies that replace human responsibility with authoritarianism should be critically questioned. What I see as highly positive is the fact that the need for a well-functioning state has gained new attention. Religion should much more focus on the openness and unavailability of human existence. Furthermore, the necessity that the individual should not shift challenges and responsibilities of a meaningful life to an undetermined future has to be brought to attention.

What are your hopes for the summer break and new semester?

I hope to meet my students in face-to-face settings once again. The virtual world must not be a substitution for physical meetings with the other.

Prof. Gerhard Langer, Institute for Jewish Studies:

What questions did you come across over the last few weeks?

Admittedly, I worked on some tasks that had been pushed aside for a long time. I edited a book on Jewish Bible interpretations in relation to women in the Middle Ages and continued to work on my book “Jewish Studies for Dummies” and some shorter articles. I very much became conscious of the fact that I am in the highly privileged position of a professor and researcher who can work at his desk at home, and who can enjoy the benefits of the quiet times and of not being interrupted. I furthermore realized how much I appreciated this quietness and the opportunity to carry out research without interruption. I hardly missed the traveling that usually takes up a considerable amount of time. Despite its ecological drawbacks, I relied more on using the car but am very sure that a bike will soon be revived as well.

What potential do you see for social and religious transformations in the current situation?

I think that we will much more focus on both online learning and teaching in the future. I furthermore became aware of the fact that many already heavily rely on doing their errands and shopping in the online world. Consumption sees some decline, restaurants and cafés suffer. We do find ourselves at the beginning of a new era in which – at least in certain areas of life and work – much more tasks will be carried out from the desk at home. Contrastingly, health care in hospitals, care of the elderly and children, and those who help to keep the infrastructure running have become even more important. Personally, I have been working largely from home for a long time and enjoy it, but for many this entails quite a bit of change and a lack of resources makes it even more difficult to adapt to these changes. The divide between the poor and the wealthy, the well-educated and well-equipped and poorly educated and less equipped for online learning becomes visible, especially among students and pupils.

What are your hopes for the summer break and new semester?

I hope to have enough time for the next crime novel and the research for it. The new semester? We will see if the virtual meetings will once again replace the face-to-face meetings or if the latter will be revived. While I prefer exams and lectures in the traditional setting, seminars were also acceptable online.

Prof. Lukas Pokorny, Institute for Religious Studies:

What questions did you come across over the last few weeks?

I was especially surprised by the topicality and broad variety of the elements of conspiracist theories in the imaginations of millenarianism of alternative and newer religious communities. What is related to that are the unconventional ways and forms of how some communities approached Covid-19 from perspectives of practical ritual that truly fascinated me. Systematic research of such phenomena will be needed.

What potential do you see for social and religious transformations in the current situation?

I think that the current situation with its far-reaching economic and socio-psychological effects will greatly and positively influence the formation and popularization of millenarianistic worlds of imaginations.

What are your hopes for the summer break and new semester?

To be able to realize some new research ideas.


Always find out more at: https://www.religionandtransformation.at/en/


Rat-Blog Nr. 10/2020

  • Katharina Limacher ist VDTR Programmmanagerin und Religionswissenscahftlerin an der Universität Wien. Sie mag das Sommertreiben genauso wie die aktuell noch relativ ruhigen Museumsinnenräume.

  • Margareta Wetchy works as an organizational assistant at the Research Centre Religion and Transformation at the University of Vienna. Her main research interests are contemporary social, cultural and political movements on the Arabian Peninsula and in Syria and Iraq.

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