Vor 250 Jahren, am 27. August 1770, wurde G.W.F. Hegel geboren. Doch weshalb kommt seinem Werk bei Kritikern und Anhängern so hohe Bedeutung zu und warum erfährt das Interesse an Hegel heute eine Renaissance? Kurt Appel gibt einen Einblick in die Gründe für diese erstaunliche Entwicklung.
Bis heute gehört Hegel zu den meistzitierten Autoren. Das ist insofern erstaunlich, als Hegels Hauptwerke, die Phänomenologie des Geistes und die Wissenschaft der Logik, vor mehr als 200 Jahren veröffentlicht wurden und zu den schwierigsten philosophischen Schriften gehören, die jemals geschrieben wurden.
Wirkung und Kritiker Hegels
Hegels öffentliches Wirken begann in Jena und erlebte seinen Höhepunkt in Berlin, wo er 1831 als berühmter, aber zunehmend kritisierter Philosoph starb. Er galt als letzter Systemdenker der abendländischen Welt, der versuchte, alle Bereiche unserer Welt (Natur, Kunst, Religion, Philosophie, Gesellschaft und Geschichte) gedanklich zu durchdringen und ein allgemein gültiges Wissensfundament über die Funktionsweise des Seins zu gewinnen, welches in seiner Totalität auf einen dem Denken zugrundeliegenden Logos (Geist) gründete. Darüber hinaus wurde er als preußischer Staatsphilosoph betrachtet, der Preußen idealisierte, wenngleich er seitens der Regierung unter Verdacht stand, religions- und damit staatszersetzend zu sein. Nicht zuletzt auf Grund zunehmender Repression spielte er am Ende seines Lebens mit dem Gedanken, Preußen zu verlassen. Nach seinem Tod bildeten sich Schulen, die je nach Stellung zur Religion als rechts- und linkshegelianisch kategorisiert wurden. Der bedeutendste Hegelrezipient des 19. Jahrhunderts war zweifelsohne Karl Marx, der seinen dialektischen Materialismus in Auseinandersetzung mit Hegels Dialektik entwickelte. Ab dem späten 19. und im 20. Jahrhundert wurde Hegels Philosophie zum negativen Symbol eines Denkens, von dem man sich abzugrenzen trachtete. Liberalen Denker*innen galt Hegels Systementwurf als ideologischer Wegbereiter einer totalitären Gesellschaft. Die marxistische Philosophie würdigte Hegels Dialektik, sah aber darin einen quasireligiösen Weltgeist am Werk, der die wahren ökonomischen Dynamiken der Geschichte verschleierte und damit revolutionärem Denken entgegenstand. Bürgerlich-existentialistische Traditionen konstatierten an Hegels Geschichtsphilosophie ein Fortschrittsdenken zulasten der Würde und der Leiderfahrungen des Individuums, postkolonialistische Philosophien kritisierten Hegels Geschichtskonzeption als eurozentristisch. Analytische Philosophie verstand sich ursprünglich geradezu als Gegenprogramm zur holistischen Dialektik Hegels, das postmoderne Denken identifizierte in Hegels Schriften einen Panlogismus, der die Welt ins Denken aufheben würde. Theolog*innen warfen Hegel Pantheismus oder Atheismus vor. Materialistische Philosophien, die die Physik als Grundlage allen Seins betrachten, können mit Hegel ohnehin nichts anfangen, da sein Geist- und Subjektbegriff nicht aus einer objekthaft verstandenen Welt ableitbar ist.
Die gegenwärtige Renaissance des Hegelschen Denkens
Umso erstaunlicher ist die Renaissance, die das Hegelsche Denken in den letzten Jahren erfährt: Sowohl in der gegenwärtigen analytischen Philosophie als auch in der aktuellen kontinentalphilosophischen Tradition spielt Hegels Denken eine bedeutende Rolle: Ganz unterschiedliche Philosoph*innen aus aller Welt wie Žižek, Malabou, Buck-Morss, Butler, Fukuyama, Lilla oder Brandom beziehen sich auf Hegels Werk. Dazu beigetragen hat sicher die mittlerweile global geführte Auseinandersetzung um die Selbstbestimmung des Subjekts und die Frage nach einer Sinngebung der Geschichte angesichts von Bedrohungsszenarien, die die gegenwärtige Weltordnung fundamental in Frage stellen.
Ein Narrativ der Freiheit
Im Zentrum der Hegelschen Philosophie steht ein philosophischer Narrativ der Freiheit. Der Freiheitsgedanke ist dabei nicht auf die Handlungsfreiheit des Subjekts oder dessen Möglichkeit des unbeschränkten Konsums zu reduzieren: Vielmehr besteht er darin, selbstbestimmt allgemein gültige Handlungen zu setzen und Teil eines umfassenden kreativen Prozesses zu werden, der sich in Kunst, Religion und Wissenschaft zum Ausdruck bringt und entsprechende politische und ökonomische Rahmenbedingungen erfordert. Hegel war der Auffassung, dass Freiheit mit einem individuellen und kollektiven Selbsterkenntnisprozess einhergeht, dabei aber nicht auf die menschliche Sphäre reduziert werden kann, sondern sich bereits in biologischen und physikalischen Abläufen manifestiert, was eine holistische Weltsicht erfordert.
Dialektik
Zentrales Moment der Hegelschen Methodik ist die Dialektik, die versucht, die Transformation von relationalen Inhalten und darin auftretende Widersprüchlichkeiten und Diskontinuitäten zu denken. Die berühmte doppelte Negation (Negation der Negation) Hegels ist nicht einfach eine Rückkehr zu immer neuen Synthesen, vielmehr versucht sie offene Prozesse als solche in ihrer Dynamik zu denken. Wenn jede Bedeutung in der Abgrenzung gegenüber anderen negierend ist, so richtet sich diese Negation auch noch einmal gegen sich selbst (und damit die eigenen Abgrenzungen) und bewahrt dadurch eine fundamentale Offenheit. Dieser offene und dynamische Charakter der Hegelschen Philosophie, verbunden mit einem extrem reichhaltigen Instrumentarium an Denkbestimmungen, wird gegenwärtig neu entdeckt in Philosophie, Soziologie, Politikwissenschaften, Theologie und Geschichtswissenschaften. Hegels Philosophie, die einen ständigen Übersetzungsprozess erfordert, scheint hervorragend geeignet, inter- und transkulturell geprägte Gesellschaften, in denen solche Übersetzungen fundamentale Bedeutung erlangen, geistig zu erfassen. Eine Dimension des Hegelschen Denkens, die möglicherweise noch neu zu entdecken und zu reformulieren sein wird, ist Hegels Naturphilosophie, da in ihr Trennungen des 19. Jahrhunderts von Materie und Geist, Natur und Freiheit, Gesetz und Zufall hinter sich gelassen wurden. So vereinigt Hegels Denken viele Widersprüche in sich: Der Idealist Hegel kann auch als materialistischer Denker angesehen werden, der holistische Systemphilosoph steht für eine radikale Offenheit des Seins, in dem auch Brüche und Diskontinuitäten Platz haben und Hegels Geistkonzeption lässt Raum für theistische, atheistische und pantheistische Deutungen.
Zum Abschluss sei noch die Bemerkung angebracht, dass dem Standort Wien seit Jahrzehnten eine gewisse Bedeutung in der Hegelforschung zukommt und die Wiener Universität auch immer die dafür notwendigen Freiräume zur Verfügung gestellt hat. Stellvertretend für diese Tradition soll Herta Nagl-Docekal genannt sein, die nicht zuletzt auf Grund umfassender Kenntnis Hegelscher Kategorien den feministischen und geschichtsphilosophischen Diskurs international mitbestimmt hat.
Dieser Beitrag ist in leicht überarbeiteter Form auch auf dem Medienportal der Universität Wien erschienen.
Rat-Blog Nr. 15/2020
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