Ein Essay von Marian Weingartshofer.
Der folgende Essay ist nicht aus Expert*innenperspektive, sondern aus der Position eines interessierten Zuhörenden verfasst. Im ersten Teil meines Textes wird der Versuch unternommen, einen Einblick in die beim Workshop präsentierten Forschungsfelder zu geben. Anschließend daran habe ich im zweiten Teil versucht, einige Reflexionen über die Frage des produktiven Umgangs mit diesen verschiedenen Zugängen anzustellen.
Ein facettenreiches Programm…
Der Eröffnungsvortrag von Astrid Mattes führte direkt in die Welt der empirischen Forschung: Mattes, die aktuell das ÖAW-Forschungsprojekt „Young Believers Online“ leitet, stellte dabei u.a. dar, wie sehr Religion als gesellschaftlich konstituierte Differenzkategorie zur Be-, Auf- und Abwertung von Menschen verwendet wird.
Der in den unterschiedlichen Forschungsprojekten jeweils zugrunde gelegte Religionsbegriff sei dabei stark von der gerade untersuchten Fragestellung geleitet. Dies bringe aber eine gewisse Spannung zwischen den in der Forschung verwendeten diversen Zugängen einerseits und dem Versuch allgemeinerer Bestimmungen von Religion andererseits mit sich.
Einen thematischen Sprung vollzog anschließend Hans Schelkshorn, der über das von Karl Jaspers geprägte Konzept der Achsenzeit referierte. Die Achsenzeit beschreibt dabei einen von Schelkshorn so genannten „Reflexionsschub“, der in verschiedenen, voneinander unabhängigen Kulturen ungefähr zur gleichen Zeit einsetzte und sich über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten vollzog. Gemeinsam sei all den in der Achsenzeit ihren Anfang nehmenden geistigen Strömungen (was die sog. Weltreligionen ebenso einschließt wie die Philosophie), dass sie eine Vorstellung von der Gesamtheit der Wirklichkeit entwickeln.
In Bezug auf die Debatte um den Religionsbegriff schloss Schelkshorn seinen Vortrag mit dem Plädoyer dafür, die in der Achsenzeit grundgelegten Weltauslegungen ernst zu nehmen, da sie selbst die unhintergehbare Grundlage für das Weltverständnis der Religionswissenschaften bilden würden und daher nie nur deren Untersuchungsobjekt seien.
Der dritte Beitrag von Christian Danz präsentierte einen von ihm entwickelten Religionsbegriff. Dabei zeigte er sich insbesondere kritisch gegenüber Ansätzen, die von der Existenz eines religiösen Allgemeinen ausgehen, das jenseits der konkreten Religionen zu verorten sei und sie alle in sich umfassen würde. Denn so riskiere der Religionsbegriff, ein bloß theoretisches Konstrukt zu bleiben, das sich nur im Kopf der Theoretikerin, nicht aber in der Wirklichkeit wiederfinde. Stattdessen müsse die Selbstzuschreibung der Angehörigen einer Religion ernstgenommen werden.
Ein Einblick in die rechtliche Debatte und die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Staat heute
Anschließend wurde der Studientag mit einem Panel zur Rolle der Religion im Recht fortgesetzt. Dabei präsentierte Stefan Hammer einen Abriss der historischen Entwicklung des Verhältnisses von Religion und Staat und schloss mit einem Einblick in die aktuelle Debattenlage zur Frage, ob der Begriff der Religion im Recht überhaupt noch zeitgemäß sei.
Der nächste, von Andreas Kowatsch gehaltene Vortrag spürte den Schwierigkeiten des staatlichen Verhältnisses zur Religion anhand einiger Beispiele aus der österreichischen und europäischen Rechtsprechung nach, wobei er etwa aufzeigte, dass es gar keinen eindeutig definierten rechtlichen Religionsbegriff gäbe, sondern dass von Religion in den unterschiedlichsten Kontexten die Rede sei (z.B. als Religionsgemeinschaft, Religionsbekenntnis, Religionsunterricht etc.).
Der Religionsbegriff aus jüdischer Perspektive, ein Ausflug auf die Meta-Ebene und ein Ausflug in die Religionswissenschaft
Anschließend präsentierte Gerhard Langer einen kritischen Blick auf den Religionsbegriff aus innerjüdischer Sicht. Seinen Beitrag begann er mit der doch in einiger Hinsicht überraschenden Feststellung, dass dieser Begriff zwar eine hebräische Übersetzung aufweist (דת dat), es aber passieren könne, dass ein Jude oder eine Jüdin sich zwar als gläubig, nicht aber als religiös bezeichnet. Dies liege daran, dass dat im Judentum für das Einhalten der Dekrete und Rechtssatzungen stehe. Jemand könne also durchaus an den Gott des Judentums glauben, sich dabei aber z.B. nicht an die Gebote eines koscheren Kochbuches halten und wäre dann in diesem Sinne zwar gläubig, aber nicht religiös.
Ein Sprung auf die Meta-Ebene wurde anschließend von Karsten Lehmann vollzogen, der ein allgemeines heuristisches Modell zur Beschreibung von Religionen vorstellte. Dieses Modell soll es erlauben, die verschiedenen Aspekte von Religion auf einer Mikro-, Meso- und Makroebene zu erfassen. Dies bedeute, dass die verschiedenen Zugangsweisen zur Religion, von den einzelnen Gläubigen bis hin zu religiösen Gemeinschaften und zur Ebene der allgemeinen gesellschaftlichen Diskurse dabei berücksichtigt werden können.
Die Frage nach dem Verhältnis von Politik und Religion stand im Mittelpunkt des Vortrags von Ingeborg Gabriel, die kritisch auf die Verwendungsweisen des Religionsbegriffs in Reflexionen über Politik und Gewalt Bezug nahm. Als Paradebeispiel dafür diente ihr der Begriff der „politischen Religion“, der vom Politikwissenschaftler und Juristen Eric Voegelin angesichts der Schrecken des Nationalsozialismus und Stalinismus geprägt wurde. Der Begriff ist bei Voegelin mit der These verbunden, dass der Totalitarismus mit seinen Heilsversprechen und seinem Führerkult versucht, den Platz der Religion im gesellschaftlichen Leben einzunehmen.
An diesen und ähnliche Ansätze stellte Gabriel die kritische Rückfrage, ob diese Verwendung des Religionsbegriffs nicht auf einer falschen Zuschreibung von außen beruhe. Denn dadurch würden Phänomene als religiös benannt, die sich selbst nicht als religiös oder sogar antireligiös verstehen würden.
Zu guter Letzt kam der Vortrag von Gerald Hödl, der einen interessanten Einblick in die reiche Diskussion innerhalb der Religionswissenschaften gab. Dabei stellte er die beiden hauptsächlich diskutierten Paradigmen zur Bestimmung des Religionsbegriffs vor: Religion sei demnach immer wieder entweder essentialistisch oder funktionalistisch definiert worden. Beide Zugänge hätten dabei mit dem Problem zu kämpfen, den Religionsbegriff entweder zu eng (Essenzialismus: es gibt ein bestimmtes Wesen der Religion) oder zu weit (Religion ist das, was eine bestimmte Funktion in der menschlichen Gesellschaft erfüllt) zu fassen.
Die Aufgabe der Religionswissenschaftlerin bestehe darin, verschiedene Phänomene daraufhin zu untersuchen, ob sie ihrem Begriff gemäß unter die Definition von Religion fallen würden. Insofern sei auch die Frage angemessen, ob etwa die unbedingte Liebe zu einem Fußballclub (das Wiener Paradebeispiel hierfür ist natürlich der SK Rapid) als religiös zu verstehen sei.
… und viele offene Fragen
Im zweiten Teil dieses Textes möchte ich ein wenig über einige grundsätzliche Problematiken nachdenken, die sich im Verlauf des Workshops herauskristallisiert haben: Die Vielzahl der im Forschungszentrum RaT vertretenen Disziplinen zeigt, dass Religion ein vielschichtiges Phänomen darstellt das – Stichwort: Religion and Transformation – noch dazu einem ständigen Wandel unterliegt. Einem solchen Phänomen, so viel scheint klar zu sein, kann man sich am besten aus verschiedenen Blickwinkeln annähern.
Die Frage, die sich dann stellt ist, wie die verschiedenen Zugänge zur Religion sich zueinander verhalten: Eine der auch in den Diskussionen angesprochenen Möglichkeiten ist es, sie schlicht als eine Bereicherung zu sehen. Die verschiedenen Zugänge würden demnach nach dem Prinzip der Arbeitsteilung vorgehen und einander nicht in die Quere kommen. Ein Beispiel dafür wäre etwa die nach der Präsentation von Gerald Hödl diskutierte Frage nach Konflikten um Zugehörigkeit zu einer Religion: Die Aufgabe der Religionswissenschaft besteht dabei darin, diese Konflikte zu beschreiben, während ihre Entscheidung den geistlichen Autoritäten der jeweiligen Religion überlassen bleibt.
Mir scheint aber, dass diese Sicht der Dinge, sollte sie zu einseitig betont werden, übersieht, dass dieser Austausch auch immer wieder Konfliktlinien und Brüche zutage fördern wird, die sich nicht einfach durch eine Arbeitsteilung aus der Welt schaffen lassen. Im Folgenden soll daher der Versuch einer Analyse dieser Konfliktlinien unternommen werden, die sich, so stellt es sich mir nach dem Workshop dar, anhand von zwei Hauptlinien differenzieren lassen:
Sozial- und kulturwissenschaftliche Debatten…
Einerseits gibt es innerhalb der Sozial- und Kulturwissenschaften selbstverständlich unterschiedliche Standpunkte und Paradigmen. So wurde beispielsweise die Frage nach der Existenz einer „unsichtbaren“ bzw. „impliziten“ Religion in mehreren Beiträgen angesprochen und auch unterschiedlich beantwortet: Dabei geht es, grob gesagt, um die Frage, ob man einen Religionsbegriff entwickeln kann, der Religion als einen bestimmten Weltbezug bestimmt, den man auch dort konstatieren kann, wo sich Menschen nicht explizit als religiös bezeichnen.
Während etwa Christian Danz in seinem Vortrag diese Konzeption als eine zurückwies, die nicht in der Welt, sondern nur im Kopf der Theoretikerin existieren würde, und Ingeborg Gabriel infrage stellte, ob die Benennung von Phänomenen als religiös, die sich selbst nicht so verstehen, zulässig sei, ging Gerald Hödl ganz im Gegenteil davon aus, dass in der Religionswissenschaft einzig und allein ein theoretisch konstruierter Religionsbegriff (Stichwort: Religion als metasprachlicher Begriff) zu verwenden sei. Es sei demnach also unzulässig, wie Astrid Mattes ausführte, in der Forschung den Religionsbegriff aus dem zu untersuchenden Kontext zu übernehmen, da sonst die Gefahr bestünde, die eigenen Untersuchungskategorien mit denen des untersuchten Feldes verschwimmen zu lassen.
Ich glaube, diese Diskussionen weisen auf eine allgemeinere Auseinandersetzung innerhalb der Sozialwissenschaften hin, die man mit Pierre Bourdieu als Konflikt zwischen „Subjektivismus“ und „Objektivismus“[1] bezeichnen kann. Spätestens seit Émile Durkheim davon sprach, dass „die soziologischen Tatbestände wie Dinge behandelt werden sollen“[2], ist diese Auseinandersetzung für die Sozialwissenschaften prägend geworden. In diesem Streit stehen auch fundamentale Fragen über Methode, Epistemologie und Zielsetzung der Wissenschaft auf dem Spiel. Klar ist außerdem auch, dass all diese Fragen nicht von einer Reflexion über Machtverhältnisse und darüber, welche institutionellen Strukturen und Interessen dem Blick der Theoretikerin jeweils zugrunde liegen, getrennt werden können.
In diesem Sinne schiene es mir wichtig zu sein, dass die unterschiedlichen im Forschungszentrum vertretenen sozial- und kulturwissenschaftlichen Zugänge ihre diesbezüglichen Grundannahmen explizit darlegen. Dass dies das gemeinsame Verständnis bereichern könnte, wurde auch daran ersichtlich, dass in den Vorträgen und Diskussionen immer wieder Schlüsselbegriffe wie „Erklären“, „Verstehen“ „Sinn“ oder „Beobachtung“ auftauchten, ohne dass explizit auf sie reflektiert worden wäre.
… und das Aufeinandertreffen unvereinbarer (?) Perspektiven
Die zweite Grundunterscheidung, die in den Vorträgen und Diskussionen des Workshops sichtbar geworden ist, ist die zwischen einem Sprechen über Religion einerseits und dem innerreligiösen Sprechen andererseits, also zwischen Religionswissenschaft und den diversen Theologien bzw. innerreligiösen Diskursen. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass diese Grenzen nur oder hauptsächlich zwischen verschiedenen Individuen verlaufen, da ja Religionswissenschaftlerinnen einerseits selbst gläubig sein, andererseits auch gläubige Menschen religionswissenschaftliche Texte rezipieren können.
Warum sollte hier also ein grundsätzlich konflikthaftes Moment bestehen? Betrachtet man etwa die Wissenschaftsgeschichte, so verdanken die Sozial- und Kulturwissenschaften im heutigen Sinn ihre Entstehung ganz simpel gesagt dem Bruch mit religiösen oder philosophischen Welterklärungen. Dies wurde im Verlauf des Workshops immer wieder unter dem Stichwort „methodischer Atheismus“ diskutiert, was bedeutet, dass in wissenschaftlichen Weltdeutungen irgendwie geartete übernatürliche Ursachen nicht vorkommen dürfen.
Geht es etwa um die Frage, wie Judentum, Christentum oder Islam entstanden sind, dann kann ein sozial- bzw. kulturwissenschaftlicher Erklärungsversuch unmöglich von der Annahme ausgehen, dass dies aufgrund einer Offenbarung Gottes am Sinai, durch die Geburt eines Sohns Gottes oder durch die von Gott inspirierten Reden Mohameds geschehen ist, während all diese Erklärungen für die jeweiligen Religionen unverzichtbar sind. Ebenso scheint es mir bei der Frage nach der Funktion von Religionen zu sein: Eine Erklärung wie die Durkheims, wonach sich im Heiligen das Gesellschaftliche als solches zum Ausdruck bringt, kann innerreligiös unmöglich vorbehaltlos akzeptiert werden.[3]
Dabei geht es auch hier wieder um grundsätzliche Machtfragen und darum, welcher Diskurs jeweils die Subjekt- und welcher die Objektposition einnimmt: Für die Religionswissenschaft sind religiöse Weltdeutungen Untersuchungsgegenstände, Religionen nehmen aber ihrerseits in Anspruch, die Welt erklären zu können. Zugespitzt lautet die Frage also: Was wird wodurch erklärt?
Zum Abschluss: Ein zweifach kritischer Blick auf den Workshop
Meine Ausführungen sollen keineswegs den Schluss nahelegen, als sei ein wechselseitiges Verstehen zwischen diesen Ansätzen unmöglich. Es scheint mir aber, dass es für die Arbeit des Forschungszentrums RaT eine Bereicherung sein könnte, die Auffassungsunterschiede zwischen verschiedenen sozialwissenschaftlichen Ansätzen einerseits und zwischen Sozialwissenschaften und innerreligiösem Diskurs andererseits explizit zum Thema zu machen, was auch eine Verständigung über wissenschaftstheoretische Grundbegriffe mit einschließen sollte.
Um, im Sinne Bourdieus, zur Selbstreflexion der Wissenschaft beizutragen, möchte ich abschließend noch zwei Anmerkungen machen: Einerseits war das Geschlechterverhältnis zwischen den Vortragenden mit sieben Männern zu zwei Frauen äußerst unausgeglichen und es wäre daher wichtig, in Zukunft mehr Frauen (bzw.nicht-cis-männliche Personen) in Sprecher*innenpositionen einzuladen.
Zum zweiten scheint mir auch eine Reflexion auf die institutionellen Bedingungen des akademischen Arbeitens angebracht, die die Frage der Zeit mit berücksichtigen: Wollen Vertreter*innen aus den verschiedenen, sich mit Religion beschäftigenden Diskursfeldern in einen produktiven, verständnisfördernden Austausch eintreten, so braucht es dafür vor allem eines: Viel Zeit, denn ein eintägiger Workshop reicht dafür bei weitem nicht aus. Die mit Vehemenz zu stellende Frage lautet also, inwiefern der akademische Betrieb durch sein Zeitregime die Annäherung und den Dialog zwischen verschiedenen Forschungsfeldern zusätzlich erschwert.
Marian Weingartshofer ist seit Oktober 2020 Studienassistent am Institut für theologische Grundlagenforschung der Universität Wien und schreibt gerade an seiner Philosophie-Masterarbeit zu Deleuze und Hegel.
[1] Vgl. Pierre Bourdieu: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, übers. a. d. Französischen von Günter Seib, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1993 [1980].
[2] Émile Durkheim: Die Regeln der soziologischen Methode, herausg. u. eingeleitet von René König, Neuwied und Berlin: Luchterhand (4., revidierte Auflage) 1976, S. 89.
[3] Der immer wieder im Verlauf des Workshops angesprochene, aus der evangelischen Religionsdiskussion stammende Versuch, Religion als anthropologische Konstante oder als notwendig in der Struktur des Bewusstseins verankert zu begreifen lässt sich, glaube ich, so wie die jahrhundertealte Debatte um den Unterschied zwischen „natürlicher“ und „offenbarter Religion“, ebenfalls auf diesen Grundkonflikt hin lesen.
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RaT-Blog Nr. 9/2021