Lebenskunst nach Zygmunt Bauman

Christian Macha bringt uns wieder näher an Zygmunt Bauman – Lebenskunst für das Wochenende!

In diesem Beitrag wird versuchsweise aufgezeigt, wie der 2017 verstorbene polnisch-englische Soziologe und Philosoph Zygmunt Bauman insbesondere im Buch Wir Lebenskünstler (2007) die Möglichkeiten für ein geglücktes Leben darlegt. Das geglückte Leben ergibt sich aus dem Wechselspiel von Schicksal (Kurzbezeichung für das, was man nicht kontrollieren kann) und den realistischen Optionen, die man hat. Aus diesen Optionen wird ständig ausgewählt. Was ausgewählt wird, darüber entscheidet letztlich der Charakter (vgl. Das Vertraute unvertraut machen, 2017, S. 22).

Dabei geht Bauman von seiner Diagnose der Flüchtigen Moderne (2000) aus[1]: Ein geglücktes Leben kann für Bauman (spätestens jetzt) nicht (mehr) als ein endgültiger Zustand betrachtet werden, sondern muss als ständige Aufgabe aufgefasst werden. Wir müssen den Verlockungen des Konsumismus widerstehen und zurückfinden zu einem hingebungsvollen Miteinander in Gemeinschaften (Liebes- und Freundschaftsbeziehungen sowie solidarischen Gemeinschaften, die prinzipiell möglichst vielen Menschen offenstehen).

Zygmunt Bauman verwendet sehr gerne Metaphern zur Beschreibung der gesellschaftlichen Zustände. Eine wesentliche Metapher beschreibt die Metamorphose des Wildhüters zum Gärtner bis hin zum Jäger. Der vormoderne Wildhüter wollte das natürliche Gleichgewicht bewahren. Der Gärtner der Moderne wollte einen Garten kultivieren bzw. ein Projekt genau planen. Der spätmoderne Jäger liegt hingegen ständig auf der Lauer, um kurzfristige Abschussmöglichkeiten nutzen zu können, ohne sich um das langfristige Gleichgewicht zu kümmern. Denn wer nicht mehr mitmacht bei der Jagd wird selbst bald zum Freiwild, sagte Bauman in diesem Zusammenhang gerne.[2]

Der Bauman’sche Jäger stützt sich auch nicht mehr auf feste ethische Grundsätze oder andere feststehende Leitlinien für seine Lebensführung, sondern ist zum Improvisieren und zum permanenten Wandel förmlich gezwungen, wenn er nicht abgehängt werden will. Er jagt dem Glück, das nicht verweilen will, ständig hinterher und sucht es in neuen Produkten der Konsumgesellschaft oder in immer neuen Kicks durch neue Sexualpartner oder in der Erlebnisökonomie. Bauman betonte jedoch häufig, dass es der Konsumgesellschaft inhärent ist, dass Bedürfnisse niemals wirklich befriedigt werden, weil ansonsten die Nachfrage nach neuen Produkten zum Erliegen kommen würde (Leben als Konsum, 2007).

Gibt es noch einen Platz für gesellschaftliche Utopien?

In seinem Buch Die Krise der Politik (1999) zeichnet Bauman ein sehr düsteres Bild einer Gesellschaft, in der das Kapital zunehmend globalisiert ist, während die Politik immer noch einen nationalen oder lokalen Charakter hat und damit an Bedeutung verliert.

Bauman betont die Bedeutung von Gemeinschaften für die Identitätsbildung. Jede Identität braucht und sucht sich eine Referenzgemeinschaft, in der diese anerkannt werden möchte. Es bleibt die Frage offen: „Akzeptiert mich die von mir gewählte Gemeinschaft?“ Bauman betont in diesem Zusammenhang wiederholt, dass in der flüchtigen Moderne eher die Zugänge als die Ausgänge überwacht werden, und dass die integrativen Gemeinschaften, die jeden hineinlassen, in der gesellschaftlichen Hierarchie ganz unten angesiedelt sind (Gemeinschaften 2001).

In Flüchtige Zeiten (2007) betont Bauman, dass Utopien von jeher zur Moderne gehörten. Bauman geht jedoch davon aus, dass in der mit Thatcher und Reagan assoziierten Ära der Deregulierungen und erzwungenen Individualisierung das utopische Projekt der Moderne ad acta gelegt wurde.[3] Insbesondere Thatcher hat immer wieder die Alternativlosigkeit einer Wettbewerbsgesellschaft betont: „There is no alternative!“ (TINA-Prinzip)

In der flüchtigen Moderne wird tendenziell der Einzelne für alles, was ihm widerfährt, individuell verantwortlich gemacht, ohne in vielen Fällen über die Möglichkeiten zu verfügen, den Bedrohungen, die mit der zunehmenden Prekarisierung seiner Erwerbs- und Lebenswelt einhergehen, etwas ändern zu können.[4]

Die Einsparungsmaßnahmen im Sozialstaat haben zu einem Wachsen des Prekariats in der westlichen Wohlstandsgesellschaft geführt. Zunehmend ist auch die Mittelschicht von unsicheren Arbeitsplätzen und Einsparungsmaßnahmen betroffen. Die Verantwortung für Jobverlust wurde zunehmend individualisiert, und es kam zu einer Entsolidarisierung. Die „Sünde“ der Betroffenen bestand darin, nicht genügend anpassungsfähig bzw. clever gewesen zu sein. Es kommt eher zu individuellen Demütigungen als zu einem Gemeinschaftsgefühl unter den Betroffenen. Bauman traut jedenfalls der entstehenden Unterschicht von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern nicht zu, die Rolle, die das Proletariat als politischer Akteur in der marxistischen Theorie hatte, zu übernehmen (Verworfenes Leben, 2007).

In einem seiner letzten Bücher, nämlich Retrotopia (2017), hat Bauman dann diagnostiziert, dass es heute kaum mehr die Hoffnung auf eine bessere Zukunft gebe, sondern eher nostalgische Utopien nach einer (vermeintlich) besseren Vergangenheit.

Nach Gebrauch wegwerfen

In Liquid Love (2003) schreibt Bauman über die Dialektik von Freiheit und Sicherheit, die insbesondere in einer (Liebes-)beziehung ausgehalten werden muss. Er spricht hier auch gerne von einer Pendelbewegung. In der flüchtigen Moderne hat das Pendel stark in Richtung der Freiheit ausgeschlagen (Jedoch verursacht der Ausschlag in die eine Richtung eine Sehnsucht nach einer Rückwärtsbewegung in die andere Richtung, also aktuell eine aufkommende Sehnsucht nach mehr Sicherheit): Viele Menschen verlangen nach mehr persönlichem Freiraum, auch innerhalb von Intimbeziehungen bzw. Ehen und sind nicht (mehr) bereit, für eine langfristige Partnerschaft Opfer zu erbringen. Die Partner verhalten sich zueinander wie Konsumenten, ohne langfristige Loyalität zur Ware. Das Idealbild einer lebenslangen Ehe wird häufig ersetzt durch Arrangements, die Anthony Giddens „reine“ Beziehungen (pure relationships) genannt hat. Eine Liebesbeziehung wird demnach nur so lange aufrechterhalten, wie ein Gewinn daraus gezogen werden kann. Ähnliches gilt für Freundschaften; überhaupt hat heutzutage das Networking das Eingehen von Freundschaften abgelöst. Eine Beendigung von Intim- und Freundschaftsbeziehungen ist jederzeit einseitig möglich, so wie ein Facebook-„Freund“ ganz einfach „defriended“ werden kann.

Bauman diagnostiziert, dass in der flüchtigen Moderne generell soziale Beziehungen zunehmend nach dem Muster des Konsums mit anschließendem Wegwerfen der Abfälle konzipiert sind (Schuldgefühle dem anderen gegenüber – z.B. wenn man zu wenig Zeit dafür hat, die Beziehung zum Partner / zur Partnerin, zu Eltern oder zu den Kindern zu pflegen – werden oft über gekaufte Geschenke (also wiederum über Konsumgüter) ausgeglichen.

In diesem Zusammenhang sei jedoch angemerkt, dass Bauman meines Wissens nicht mehr auf den Anstieg der Eheschließungen und Rückgang der Scheidungen seit 2006 eingegangen ist.[5] Vielleicht schlägt das Pendel ja schon zurück.

Wir Lebenskünstler in spe sind mit einer ständigen Überforderung konfrontiert, dürfen aber nie zu kämpfen aufhören

In Wir Lebenskünstler versucht Bauman weniger die Lebensumstände der flüssigen Moderne zu beschreiben, sondern Möglichkeiten aufzuzeigen, in so einer Welt ein gelungenes Leben zu führen. Er verweist in diesem Buch einerseits wiederholt auf Friedrich Nietzsche, dessen Ideal des sich selbst schaffenden Übermenschen in Zeiten der flüchtigen Moderne an Popularität gewinnt, und andererseits auf Emanuel Levinas, der von einer unendlichen moralischen Verantwortung gegenüber den Mitmenschen sprach. 

Wir sind zur Do-it-yourself-Individualisierung gezwungen. Die eigene Identität muss immer wieder neu definiert werden. Es gehört also zur Identitätsbildung auch der Mut zur kreativen Zerstörung der eigenen Vergangenheit (wieder eine Art Abfallbeseitigung). Auch in diesem Zusammenhang betont Bauman, dass das verlockende Angebot, sich Identitäten über Konsumgüter oder die Erlebnisökonomie zu erkaufen, nicht den gewünschten Erfolg bringen kann, denn für Bauman steht fest, dass ein geglücktes Leben harte Arbeit und viel Mühe erfordert.

Bauman interpretiert Nietzsches Übermenschen als einen Großmeister der Selbstbehauptung (Wir Lebenskünstler, 2007, S. 34 ff). Der Übermensch soll so werden, wie es einst die wahren Aristokraten waren. Ohne an den Verletzungen seiner Niederlagen und Demütigungen zu leiden, erschafft er aus eigenem Willen und von eigener Hand sich selbst. Aber der gegenwärtige Augenblick in dem sich ein jeder Schritt zur Selbstbeherrschung unvermeidlich vollziehen muss, lässt sich nie restlos von den Momenten trennen, die ihm vorausgegangen sind. Der Neuanfang bleibt eine Fantasie, die sich nicht eins zu eins umsetzen lässt, da es keinen Moment gibt indem man „neugeboren“ werden könnte, ohne unausweichliche Spuren vorangegangener Momente zu tragen. So etwas wie eine vollkommen in sich abgeschlossene Episode gibt es nicht. Jede Handlung hat Folgen, die über sie hinaus wirksam bleiben.

Ich bin nicht sicher, ob Baumann Nietzsche richtig interpretiert, wenn man an Nietzsches Konzept der ewigen Wiederkehr denkt. Denn gerade Nietzsche hat erkannt, dass der Übermensch auch zu seiner Vergangenheit Ja sagen muss.

Während Nietzsche für die egoistische Variante der Lebenskunst steht, die von Bauman letztlich abgelehnt wird, steht Emmanuel Lévinas für die von Bauman bevorzugte altruistische Variante auf Basis von spontanen moralischen Regungen (im Gegensatz zu generalisierbaren ethischen Regeln, die zu den Gärtnern der planerischen Moderne gepasst haben).

Lévinas sprach vom Antlitz des Anderen, das uns eine unendliche moralische Verantwortung aufbürdet. Dass man dieser Verantwortung nicht entgehen kann, zeugen das schlechte Gewissen der Menschen, die in verbrecherischen Diktaturen einem Verfolgten nicht geholfen haben, weil sonst ihr eigenes Leben oder das ihrer Angehörigen bedroht gewesen wäre. So nachvollziehbar ihre Begründungen auch sein mögen, so haftet ihnen doch stets ein schlechtes Gewissen an und sie klingen irgendwie nach Ausreden.

Zusammengefasst kann man sagen, dass Wir Lebenskünstler es schwer haben. Einerseits wird uns zugemutet, uns selbst als unverwechselbares Individuum zu erschaffen; etwaige Ausreden, dass die Umstände unvorteilhaft sind, sind nicht zugelassen. Andererseits tragen wir eine unendliche Verantwortung unserer Mitmenschen (zunächst den eigenen Ehepartnern und Familienmitgliedern) gegenüber, und können nie mit gutem Gewissen sagen, dass wir genug für sie getan haben.

Wie aus meinen Ausführungen wohl hervorgegangen ist, wirkt Bauman wie ein großer Pessimist. Als der 90 jährige Zygmunt Bauman in einem Interview[6] einmal gefragt wurde, ob er denn ein glückliches Leben gehabt habe, antwortete er mit Goethe, der gesagt haben soll: „Ja, ich habe ein sehr glückliches Leben gehabt, kann mich aber an keine einzige glückliche Woche erinnern.“

Von Goethe ist ja auch folgendes sprichwörtlich gewordene Zitat bekannt: „Alles in der Welt lässt sich ertragen, nur nicht eine Reihe von schönen Tagen.“ – Denn so eine Reihe schöner Tage führe nicht zu Glück, sondern zu Langeweile. Wir irren uns, sagt Bauman, wenn wir uns das Glück als eine ununterbrochene Aneinanderreihung von immer schöneren Vergnügungen vorstellen. Das Glück bestehe vielmehr in der Überwindung von Schicksalschlägen und Nutzung der individuellen Optionen; dabei zeigt sich der Charakter.

Dies will Bauman als Warnung an junge Menschen verstanden haben:

„Stell dir dein Leben nicht als eine Ansammlung von Geschenken aus einem unerschöpflichen Vorrat von angenehmen Dingen vor, sondern stelle es dir als einen sehr langen Kampf vor; du löst ein Problem, und wartest auf das nächste.“[7]


[1] Siehe meine Blog-Beitrag vom 9.10.2020

[2] Siehe z.B. Flüchtige Zeiten 2007, S. 147.

[3] Man denke an den Buchtitel von Habermas: „Das unvollendete Projekt der Moderne“

[4] Er wird zum Individuum de jure erklärt ohne das Potenzial eines Individuums de facto zu haben

[5] Siehe für Deutschland https://www.bpb.de/nachschlagen/zahlen-und-fakten/soziale-situation-in-deutschland/61578/ehe abgerufen am 29.3.2021.

[6] www.youtube.com/watch?v=EG63MkQb1r4&t=29s, ungefähr Minute 22:30.

[7] www.youtube.com/watch?v=EG63MkQb1r4&t=29s, ungefähr Minute 25:00.


Bild von Christan Macha


Rat-Blog Nr. 17/2021

  • Christian Macha hat ursprünglich an der Wirtschaftsuniversität Wien studiert und mit einer Arbeit über Jürgen Habermas, Niklas Luhmann und Ulrich Beck promoviert. Seit 2017 studiert er an der Universität Wien Philosophie und Advanced Theological Studies und promoviert zu Bauman.