„Vor diesem Bild kann manchem der Glaube verloren gehen.“

Der Leichnam Christi als Glaubensprüfung: Jan-Heiner Tück nimmt den 200 Geburtstag von Fjodor Dostojewski zum Anlass, um über Hans Holbeins Gemälde „Der Leichnam Christi im Grabe“ zu reflektieren, das auch im Werk des berühmten russischen Schriftstellers tiefe Spuren hinterlassen hat. Dieser Artikel ist bereits am 11. November auf feinschwarz.net erschienen, wir veröffentlichen ihn hier mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.

I.

Es gibt Bilder, die einen den Atem anhalten lassen. Das Gemälde von Hans Holbein Der Leichnam Christi im Grabe (1521/22) gehört dazu. Es zeigt mit anatomischer Präzision und unverhüllter Drastik den toten Christus. Das Bild, das im Basler Kunstmuseum hängt und soeben 500 Jahre alt geworden ist, ist schon vom Format her außergewöhnlich. Es ist 200 cm lang und 30,5 cm hoch und gleicht einer Grabnische. Man hat vermutet, dass Holbein zunächst nach Vorlage einer Wasserleiche gemalt habe, die er dann später durch Hinzufügung der Wundmale in den Leichnam Christi verwandelt habe.

„‚Kein anderes Bild hat in seiner Zeit den Toten so kompromisslos, so veristisch und ausschließlich als Kadaver dargestellt […]‘, so die Kunsthistorikerin Kristin Marek.“

Das Bild ist auch vom Sujet her außergewöhnlich. Es weicht von der gängigen Ikonographie der Passion ab. Weder handelt es sich um eine Kreuzesabnahme noch um eine Beweinung oder Grablegung Christi. Das macht schon die Abwesenheit der biblischen Figuren deutlich, die in anderen Gemälden dem Betrachter als mögliche Identifikationsfiguren angeboten werden. Maria, die Mutter Jesu, und Johannes, der Lieblingsjünger, fehlen ebenso wie Maria Magdalena oder die beiden Wohltäter Josef von Arimathäa und Nikodemus. So wird der Betrachter selbst direkt in die compassio mit dem toten Christus hineingezogen.

Holbeins Bild ist schließlich von der Malweise außergewöhnlich: „Kein anderes Bild hat in seiner Zeit den Toten so kompromisslos, so veristisch und ausschließlich als Kadaver dargestellt, weder eine Grablegung Grünewalds noch die vielen anderen Darstellungen des Themas am Oberrhein und in anderen Gegenden“[i], so die Kunsthistorikerin Kristin Marek. Allerdings ist der Körper des Toten in Holbeins Bild nicht von Blutkrusten und Gewaltspuren der Geißelung überzogen. Darin unterscheidet er sich von Grünewalds Christus in der Predella des Isenheimer Altars, dessen corpus von unzähligen Wunden übersät ist.

II.

Holbeins toter Christus hat beim russischen Schriftsteller Fjodor Dostojewski, dessen 200. Geburtstag am 11. November 2021 begangen wurde, doppelt Resonanz gefunden, biographisch und literarisch. Während seines Aufenthaltes in der Schweiz hat er im August 1867 eigens das Baseler Museum aufgesucht, um das Bild zu sehen. Die persönliche Erschütterung und tiefe Verstörung, die der tote Erlöser in ihm provoziert hat, ist in den Lebenserinnerungen seiner Frau eindrücklich festgehalten. Dabei mag der Kontrast zu den Ikonen der Ostkirche eine Rolle gespielt haben. Der Sieger über Leben und Tod bestimmt die Christusfrömmigkeit der Orthodoxie.

„Erschüttert, erstarrt und versteinert, so reagiert Dostojewski auf das Bild […]“

Umso schärfer fällt der Kontrast zu Holbeins Gemälde aus, das nicht nur das Menschsein, sondern das Gestorbensein Christi ungeschönt ins Bild setzt. „Die Vermenschlichung erreicht damit ihren Höhepunkt: den Punkt, an dem die Glorie im Bild erlischt.“[ii] Der fahle Leichnam, gezeichnet von der blutenden Seitenwunde und dem Stigma in der erstarrten, rechten Hand, liegt auf weißem Linnen: kalt, stumm, tot. Anna Grigorjewna Dostojewski (1846-1918), hat die Wirkung des Bildes auf ihren Mann in ihren Memoiren dokumentiert:

Auf der Reise nach Genf machten wir für einen Tag in Basel halt, um im dortigen Museum ein Gemälde anzusehen, von dem mein Mann schon gehört hatte. Dieses Bild von Hans Holbein stellt Christus dar, der unmenschliche Qualen ertragen hat, bereits vom Kreuze heruntergenommen ist und der Verwesung anheimfällt. Sein aufgedunsenes Gesicht ist mit blutigen Wunden bedeckt und sein Aussehen ist schrecklich. Das Bild von Hans Holbein machte auf ihn einen erschütternden Eindruck, und er blieb davor wie erstarrt stehen. Meine Kräfte reichten nicht aus, um das Bild länger anzusehen: es fiel mir allzu schwer, zumal bei meinem kranken Zustande, einen solchen Anblick zu ertragen, und ich begab mich in die anderen Säle. Als ich nach 15 bis 20 Minuten zurückkam, fand ich Fjodor Michailowitsch noch immer wie versteinert vor dem Bild auf demselben Platz stehen. Es war, als zeigte sein erregtes Gesicht Spuren jenes Entsetzens, das ich meist in den ersten Augenblicken eines epileptischen Anfalles bei ihm wahrnahm. Ich fasste meinen Mann ruhig bei der Hand, führte ihn in den anderen Saal und setzte ihn auf die Bank, jeden Augenblick eines Anfalles gewärtig. Zum Glück blieb er aus; Fjodor Michailowitsch beruhigte sich allmählich, nur bestand er darauf, beim Verlassen des Museums das Bild noch einmal zu betrachten.“ [iii]

Erschüttert, erstarrt und versteinert, so reagiert Dostojewski auf das Bild, von dem er zuvor schon gehört hatte. Die persönliche Konfrontation mit dem Gemälde und die verstörende Wirkung, die es hervorgerufen hat, haben in dem Roman Der Idiot (1868) ein literarisches Echo gefunden. Dort schiebt Dostojewski an zwei entscheidenden Stellen der Handlung das Bild ein. In der ersten Stelle spiegelt es die metaphysische Grundhaltung der Figuren. Fürst Myschkin, der Protagonist des Romans, besucht den Kaufmann Rogoschin in seinem Haus. Nach einem dramatischen Gespräch – beide lieben auf unterschiedliche Weise die schöne, aber exzentrische Nastassja Filippowna – verlassen sie eilig das Haus. Dabei durchqueren sie einen Saal, in dem neben Porträts und Landschaften auch ein Bild hängt, das den Erlöser unmittelbar nach der Kreuzesabnahme zeigt.

Der Fürst identifiziert das Gemälde sogleich als Kopie des toten Christus von Holbein und bemerkt: „Ich habe dieses Bild im Ausland gesehen und kann es nicht vergessen.“ Rogoschin geht weiter, als wolle er nichts darüber hören, fragt dann aber ganz unwillkürlich zurück, ob Myschkin an Gott glaube oder nicht… Ohne die Antwort des Fürsten abzuwarten, setzt Rogoschin hinzu, das Bild zu lieben – und provoziert so den Ausruf Myschkins: „‘Dieses Bild! Vor diesem Bild kann manchem der Glaube verlorengehen!‘ – ‚Tut er auch‘, bestätigte Rogoschin plötzlich und unvermittelt.“[iv]

„Ippolit stellt die ketzerische Frage: Wäre Christus der Passion ausgewichen, wenn er den Leichnam des Gekreuzigten, sein eigenes Bild, vor der Kreuzigung gesehen hätte?“

Der Verlust des Glaubens vor dem Bild des toten Erlösers wird hier offen eingestanden, und zwar von einem potentiellen Mörder, der, wie der Roman schon bald zeigen wird, seine rasende Eifersucht nicht unter Kontrolle bringen kann und am Ende des Romans sogar Nastassja Filippowna umbringt. Weiter deutet Rogoschin dunkel an, dass es Atheisten in vielem leichter hätten als Gläubige. Während Rogoschin in dem Gemälde eine Bestätigung dafür zu erblicken scheint, dass Gott tot und daher moralisch alles erlaubt ist, betrachtet Myschkin Holbeins toten Christus als „Prüfstein des Glaubens“, weil in dem Bild jede Spur der österlichen Glorie getilgt ist.

Später im Roman kommt Dostojewski ein zweites Mal auf das Bild zurück. Auch diesmal geht es um Glauben oder Unglauben, aber auch um ästhetische Fragen. Myschkin hatte geäußert, die Schönheit werde die Welt erlösen. Man möge nur ein Kind, die Morgenröte oder einen wachsenden Grashalm betrachten, schon müsse man ein Loblied auf den Schöpfer anstimmen. Sein Gegenspieler ist diesmal der schwerkranke Ippolit Terentjew, der weiß, dass er nur noch wenige Wochen zu leben hat. In einem Traktat, den er in einer einzigen Nacht verfasst hat, bringt er gegen eine christliche Deutung der Wirklichkeit eine nihilistische Position ins Spiel. Der Demut des Fürsten setzt er die Auflehnung entgegen, dem dankbaren Staunen über die Schönheit der Welt den Protest gegen die Grausamkeit der Natur. Zugleich gibt Ippolit in dem Traktat, den er im Salon des Fürsten spätnachts in erregtem Zustand vorliest, seinen „letzten Willen“ kund, sein Leben selbst beenden und seine Leiche der Wissenschaft überlassen zu wollen. „Hätte es in meiner Macht gestanden, nicht geboren zu werden, so hätte ich den Spott und Hohn einer solchen Existenz gewiss abgelehnt.“ (601)

Genau hier kommt er auf die verstörende Wirkung zu sprechen, die Holbeins Bild im „Totenhaus“ Rogoschins bei ihm ausgelöst hat: „Mir kommt es so vor, als ob die Maler es sich zur Gewohnheit gemacht hätten, Christus sowohl am Kreuz als auch nach der Kreuzabnahme immer noch mit dem Schein außerordentlicher Schönheit auf Seinem Antlitz darzustellen; diese Schönheit wollen sie Ihm sogar bei den furchtbarsten Qualen erhalten. Auf Rogoschins Bild jedoch kann von Schönheit nicht die Rede sein; es ist die genaue Abbildung des Leichnams eines Menschen, der schon vor der Kreuzigung unendliche Qualen ausgestanden hat.“ (593)

„In dieser Lesart zeigt Holbeins Bild die Solidarität des toten Christus mit den Toten, der die Abgründe der Verlorenheit aufsucht.“

Holbeins Bild wird offensichtlich aufgerufen, um das Wort des Fürsten Myschkin zurückzuweisen, dass die Schönheit die Welt erlösen könne. Die christliche Ästhetik der Verklärung wird durch eine materialistische Ästhetik des Todes unterlaufen. Ippolit stellt die ketzerische Frage: Wäre Christus der Passion ausgewichen, wenn er den Leichnam des Gekreuzigten, sein eigenes Bild, vor der Kreuzigung gesehen hätte? Wäre er am Auftrag des Vaters irregeworden und hätte im Garten Gethsemane gegen den göttlichen Willen revoltiert, so wie der Betrachter beim Betrachten des Bildes den Glauben verlieren kann?

III.

Holbeins Bild aber ist vielschichtig. Für die einen nimmt es eine schockierende Profanierung vor, wenn es Christus, den Erlöser, mit veristischer Präzision als Toten zeichnet und gerade „das Tote am Toten“ demonstrativ herausstellt. Sie erblicken in dem Bild eine Anti-Ikone, die mit wacher Witterung den neuzeitlichen Atheismus vorwegnimmt. Andere hingegen erblicken in dem Gemälde den äußersten Tiefpunkt der Entäußerung Christi und deuten es als Karsamstagsbild. Holbeins Bild erscheint so als Gegenbesetzung zu dem, was Dostojewski zu sehen gewohnt war. Statt die Anti-Ikone als schockierende Visualisierung des Glaubensverlustes zu deuten, können orthodoxe Christen in ihr eine komplementäre Ergänzung zu ihrer Christologie erblicken. Denn die österliche Erhöhung kann erst gefeiert werden, wenn zuvor der totalen Erniedrigung am Kreuz gedacht wird. In dieser Lesart zeigt Holbeins Bild die Solidarität des toten Christus mit den Toten, der die Abgründe der Verlorenheit aufsucht. Es macht das Geheimnis des Karsamstags sichtbar an der Schwelle zum österlichen Umschlag.

Diese Lesart wird durch die erste Enzyklika von Papst Franziskus, Lumen fidei (2013), bestätigt. Dort heißt es über Holbeins toten Christus im Grabe:

„Das Gemälde stellt auf sehr drastische Weise die zerstörende Wirkung des Todes auf den Leichnam Christi dar. Und doch wird gerade in der Betrachtung des Todes Jesu der Glaube gestärkt und empfängt ein strahlendes Licht, wenn er sich als ein Glaube an Jesu unerschütterliche Liebe zu uns erweist, die fähig ist, in den Tod zu gehen, um uns zu retten. An diese Liebe, die sich dem Tod nicht entzogen hat, um zu zeigen, wie sehr sie mich liebt, kann man glauben; ihre Totalität ist über jeden Verdacht erhaben und erlaubt uns, uns Christus voll anzuvertrauen.“[vi]


[i] Kristin Marek, Der Leichnam als Bild – der Leichnam im Bild, in: Thomas Macho / Dies. (Hg.), Die neue Sichtbarkeit des Todes, München – Paderborn 2007, 275–314, hier 300.

[ii] Julia Kristeva, Schwarze Sonne. Depression und Melancholie, Frankfurt/M. 2007, 126.

[iii] Lebenserinnerungen der Gattin Dostojewskis, hg. von René Fülöp-Miller und Friedrich Eckstein, München 1925, 171–172.

[iv] Fjodor M. Dostojewski, Der Idiot. Roman. In der Übersetzung von Swetlana Geier, Frankfurt/M. 2010, 316 (weitere Zitate im Haupttext in Klammern).

[v] Romano Guardini, Religiöse Gestalten in Dostojewskijs Werk, Mainz – Paderborn 1989, 300.

[vi] Papst Franziskus, Lumen fidei – das Licht des Glaubens. Enzyklika, Bonn 2013, Art. 6.


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RaT-Blog Nr. 34/2021

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