Gregor Mendel hat gemeinsam mit Charles Darwin unser Verständnis des Lebens grundlegend verändert. Anlässlich des 200. Geburtstags des österreichischen Augustinerpriesters erklärt der Anthropologe Martin Fieder im ersten Teil seines Beitrags, wie die Erkenntnisse der beiden Forscher neue Einblicke in das Wesen des Menschen erlauben und warum Biologie trotz allem kein Schicksal ist.
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Dieses Jahr feiern wir den 200. Jahrestag der Geburt Gregor Mendels, der zusammen mit Charles Darwin die moderne Biologie begründet hat. Obwohl beide zur gleichen Zeit lebten und so Grundlegendes geleistet haben, haben sich Mendel und Darwin nie persönlich getroffen (Jensen 1988, Galton 2009). Mendel war zumindest im Besitz des Hauptwerkes von Charles Darwin über „die Entstehung der Arten“ (reprint Darwin 1909). Was die prinzipielle Entstehung der Arten betrifft, stimmte Mendel, soweit wir heute wissen, mit Darwin überein – für einen Priester und Mönch seiner Zeit durchaus erstaunlich. Er lehnte allerdings auf Basis seiner empirischen Arbeiten, seiner Zuchtexperimente, einige Hypothesen Darwins zur Vererbung ab und lag damit durchaus richtig (Keynes 2004). Mendel war ein unermüdlicher Empiriker, jemand, der durch zahllose Versuche Erkenntnisse erlangte. Sein Werk ist ein eindrucksvoller Beweis für den Wert der praktischen Überprüfung theoretischer Konzepte durch „Experimente“ und die Aufnahme von Daten.
Soweit wir heute wissen, kannte Darwin das Werk Mendels dagegen nicht, obwohl er Literatur besaß, in der die Mendel‘schen Kreuzungsexperimente zitiert wurden. Das ist wissenschaftshistorisch in gewissem Sinne tragisch, da die Mendel‘schen Erkenntnisse Darwin durchaus bei der Untermauerung der Evolutionstheorie geholfen hätten.
Ein interessantes Detail in den Biographien sowohl Mendels als auch Darwins ist der starke Bezug zur Religion. Mendel war ein Priester des Augustinerordens. Darwin sollte ein Theologiestudium beginnen und Geistlicher der Kirche von England werden, was allerdings wahrscheinlich durch die Reise seines Lebens, die Umsegelung der Welt auf der „Beagle“ und das systematische Sammeln, Dokumentieren und Analysieren der Organsimen, die er im Laufe der Reise fand, verhindert wurde. In dieser Zeit ist in ihm die Idee zur Entstehung der Arten gereift. Auch bei ihm war eine empirische Vorgehensweise kennzeichnend, wenn auch nicht wie bei Mendel durch das Experiment, sondern durch das konsequente Sammeln und Systematisieren. Darwins Erkenntnisse haben ebenso wie Mendels Kreuzungsexperimente unser Verständnis der Welt grundlegend verändert: durch die Begründung der Evolutionstheorie und die Begründung der modernen Genetik.
Warum ist es so wichtig, beide Konzepte zusammen zu nennen und auch zusammen zu sehen? Beides ist entscheidend für das Verständnis von uns selbst: Darwin konnte zeigen, dass wir auch ein Teil der Natur sind, dass wir das Erbe einer Milliarden Jahre dauernden Evolution in uns tragen. Mendel wiederum konnte die Mechanismen des „Vererbens“ dokumentieren, wie genetische Informationen gebildet und weitergegeben werden. Natürlich ist in den Jahrzehnten seit Mendel und Darwin unendlich viel Wissen sowohl zur Evolution als auch zur Genetik hinzugekommen, doch beide Konzepte sind nach wie vor die eng verwobenen Grundlagen und Eckpfeiler der modernen Biologie – Evolution lässt sich über die Genetik verstehen und Genetik über die Evolution.
Dazu passt auch, dass dieses Jahr der Nobelpreis für Medizin und Physiologie an Svante Pääbo, den Leiter des Instituts für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig vergeben wurde, an jemanden, der wie kein anderer beide Felder, die Evolutionsbiologie – im Speziellen die Evolution des Menschen – und die Genetik zusammengebracht hat. Pääbo hat unsere Evolution auf der Ebene der DNA nachgezeichnet, insbesondere unsere Verwandtschaft mit dem Neandertaler (Green et al. 2010), aber auch unsere Wanderungsbewegungen „woher wir kommen und wer wir sind (reviewed in Reich 2018) “ – ganz im Geist des berühmten Essays des Evolutionsbiologen Theodosius Dobzhansky „Nothing in Biology Makes Sense Except in the Light of Evolution” (Dobzhansky 1973).
Wir sehen mittlerweile, dass die Bedeutung dieser Feststellung von Dobzhansky weit über die Biologie hinausgeht und dass Evolutionsbiologie zusammen mit der modernen Genetik beginnt, das Verständnis sowohl woher wir kommen als auch wie wir individuell sind, bereits in viele Fächer ausstrahlt und vermutlich noch viel mehr ausstrahlen wird. Wir sind, wie Steven Pinker einmal so trefflich gesagt hat, „kein unbeschriebenes Blatt“ (Pinker 2002), sondern jeder von uns trägt auch die Geschichte der Evolution in sich, sowie ein individuelles genetisches Erbe, das nicht nur physische Charakteristika mit-bedingt (etwa wie groß wir sind oder wie wir aussehen). Dieses genetische Erbe spielt auch eine Rolle, wenn es darum geht, wie wir uns verhalten; bis hin zu unseren Einstellungen zu Politik, Moral und vielem weiterem mehr.
Warum ist dies so wichtig? Wir als evolutionäre Anthropologen sind davon überzeugt, dass wir zuerst wissen müssen, woher wir kommen, „warum wir so ticken wie wir ticken“, um zu verstehen, wie die Welt, die wir mit-geschaffen haben, funktioniert. Beide, Darwin und Mendel, haben eine neue Kopernikanische Wende eingeleitet, man könnte sogar meinen eine kopernikanische Beschämung, indem sie uns in eine Reihe mit den anderen Lebewesen gestellt haben. Diese kopernikanische Wende ist nur noch keineswegs abgeschlossen. Eine der vielen grundlegenden Fragen, die sich aus unserer Evolution ergeben, ist, warum wir uns so verhalten wie wir uns verhalten: warum kooperieren wir, warum hassen wir, woher kommt unsere Moral usw.? Diese Fragen und vieles mehr lassen sich auch aus unserer Evolution und unserer genetischen Ausstattung verstehen. Unsere Biologie beeinflusst uns als Spezies aber auch als Individuen viel mehr, als wir ahnen.
Und doch ist Biologie nicht Schicksal, dem wir uns ergeben müssen. Im Gegenteil – um genau dies zu verhindern, ist es unumgänglich, unser evolutionäres und auch unser individuelles genetisches Erbe besser zu verstehen. Beim Versuch, eine Gesellschaft entlang von Idealen aufzubauen ohne unser „Erbe“ zu verstehen, werden wir immer wieder in die kognitiven „evolutionären Fallen“ genau dieses Erbes stolpern.
Ein eindrucksvolles Beispiel dafür, dass Biologie nicht Schicksal sein muss, ist die Frage nach der Gewalttätigkeit. Obwohl der Mensch per se eine recht gewalttätige Spezies ist (wie auch teilweise unsere Primatencousins, Pinker 2011, Wrangham 2019), muss Gewalttätigkeit nicht unsere Gesellschaft beherrschen. Auch wenn wir leider derzeit erkennen müssen, dass wir immer wieder in gewalttätige Auseinandersetzungen zurückfallen können (siehe Ukraine-Krieg), hat es unsere Zivilisation mit unseren Rechtstaaten geschafft, vor allem in Westeuropa die friedlichste Gesellschaft aufzubauen, die jemals existiert hat. Niemals in der Geschichte der Menschheit hat es weniger Opfer durch Gewaltätigkeit bezogen auf die Anzahl von Menschen gegeben, als im Hier und Jetzt in Westeuropa, wie Steven Pinker in seinem Buch „Gewalt“ (Pinker 2011) eindrucksvoll zeigen konnte. Gewaltätigkeit zahlt sich nicht mehr aus. Das steht im Gegensatz zu z. B. manchen Naturvölkern, wo gerade männliche Gewalttätigkeit mit höherem sexuellem und reproduktivem Erfolg belohnt wurde (Chagnon 2013).
Haben alle Verhaltensweisen und Einstellungen auch einen evolutionären und genetischen Hintergrund? Möglicherweise. Es gibt jedenfalls bislang kein untersuchtes Merkmal (Phänotyp), für das man nicht auch einen zumindest teilweisen genetischen Anteil gefunden hätte (als erstes Gesetz der Verhaltensgenetik nach Turkheimer 2000), der jedoch, je nach Merkmal sehr unterschiedlich sein kann, von nur wenigen bis hin zu über 80% (Knopik et al. 2017). Mindestens ebenso wichtig ist jedoch die Erkenntnis, dass (vielleicht mit Ausnahme einzelner genetisch bedingter Erkrankungen) kein Merkmal allein durch Genetik bedingt ist, sondern immer von beidem, Genetik und Umwelt. Die Umwelt wird dabei in eine sogenannte gemeinsame Umwelt, die Geschwister miteinander teilen (im Wesentlichen das Elternhaus) und eine nicht-gemeinsame Umwelt (alles andere) unterteilt. Genetische Prädisposition und Umwelt sind dabei eng verzahnt: beides bedingt sich und beeinflusst sich wechselseitig. Die emotional geführte Diskussion „Nature“ vs. „Nuture“ ist somit sinnlos, stets spielt beides eine Rolle. Man kann zwar den Anteil beider Komponenten an einem Merkmal statistisch für ganze Populationen berechnen, für das einzelne Individuum aber niemals „aufdröseln“ (Knopik et al. 2017).
Woher wissen wir das? Zum einem aus der klassischen Verhaltensgenetik auf Basis der sogenannten Adoptions- und Zwillingsstudien. Die Ergebnisse dieser Zwillings- und Adoptionsstudien wurden lange Zeit sehr emotional diskutiert. Sie konnten aber mittlerweile durch einen gänzlich anderen Ansatz, die molekularen und statistischen Methoden der „Genome Wide Association Studies“, eindrucksvoll bestätigt werden. Tatsächlich kommen beide vollkommen unterschiedlichen Methoden, was die genetische Prädisposition von Merkmalen betrifft, tendenziell zu ganz ähnlichen Ergebnissen (Knopik et al. 2017).
Literaturverzeichnis (Teil 1 und 2):
Jensen, J. V. (1988). Return to the Wilberforce–Huxley debate. The British Journal for the History of Science, 21(2), 161-179.
Galton, D. (2009). Did Darwin read Mendel? QJM: An International Journal of Medicine, 102(8), 587-589.
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Bildquelle: Wikimedia Commons. Foto Gregor Mendel, Foto Charles Darwin. Montage: Marian Weingartshofer.
RaT-Blog Nr. 20/2022