Eine infernalische Symphonie. Teil 2 von 2

Der erste Teil des Textes findet sich hier.

Mendel galt als gesellig und humorvoll, empfing gerne Gäste in seinem Gartenhaus, wo er auch seine Pflanzen zog. Politisch war er liberal, hätte einmal sogar ein Mandat für die liberale Partei annehmen sollen, lehnte jedoch ab. Weil viele andere Geistliche eher mit den Konservativen sympathisierten, machte er sich mit seiner fortschrittlichen Haltung auch Feinde. Über den Brünner Bischof Schaffgotsch, einen Verfechter der Klerikalen, soll er als junger Prälat gesagt haben: „Der hat auch mehr an seinem Fett als an seinem Verstand zu schleppen.“ Der Spruch machte die Runde und Mendel hatte einen mächtigen Widersacher. Es mangelte ihm aber auch nicht an Selbstironie. Ende der 1860er Jahre schrieb er dem Botaniker Nägeli, dass er nicht mehr für botanische Exkursionen tauge, weil „mich der Himmel mit einem Übergewichte gesegnet hat, welches sich bei weiteren Fußpartien, namentlich beim Bergsteigen, in Folge der allgemeinen Gravitation sehr fühlbar macht.“

Mit Schülern und Mitbrüdern trieb er gerne schelmische Scherze. Er liebte es, Besucher seines Versuchsgartens zu irritieren, indem er etwa sagte „Warten Sie, jetzt werde ich Ihnen meine Kinder zeigen!“ – und die Gäste daraufhin zu seinen Erbsen führte.

Mendel konnte auf eine gut sortierte Bibliothek zurückgreifen, für die er selbst sammelte. Schon in den Anfangsjahren, nach seinem Eintritt ins Kloster, hatte er dort ein interessantes Umfeld. In seiner Generation wirkten Persönlichkeiten wie der Literaturwissenschafter Francis Thomas Bratranek, der sich zu einem führenden Goethe-Experte entwickelte, oder der politische Aktivist, Zeitungsgründer und Autor František Matouš Klácel, der später in die USA auswanderte. Mendel muss sich mit Goethe beschäftigt haben. In seinen Unterlagen fand sich eine Abschrift des Textes „Beherzigung I (Feiger Gedanken)“ aus dem Singspiel „Lila“: „Allen Gewalten // Zum Trotz sich erhalten, // Nimmer sich beugen, // Kräftig sich zeigen, // Rufet die Arme // Der Götter herbei!“ Diese Worte Goethes müssen ihm aus der Seele gesprochen haben. Seinem Kollegen und Freund Gustav Niessl von Mayendorf gegenüber äußerte er einmal die später oft zitierten Worte „Meine Zeit wird kommen“.

Bemerkenswert an Mendels Bericht zur Windhose ist die präzise, zeitlose Sprache, die ihn gerade für zeitgenössische Leser:innen interessant macht. Mendel verschleiert nichts hinter blumigen Formulierungen, er kommt immer sofort zum Punkt und webt eine feine Ironie in seine Formulierungen ein.

Dazu ein Vergleich: Die Brünner Windhose fand in mehreren Zeitungen in der gesamten Habsburgermonarchie Niederschlag. Manche der Berichte trieften nur so vor Dramatik und Pathos, ein für die damalige Zeit üblicher Sprachduktus. Das „Wiener Tagblatt“ etwa berichtete so: „Der Moment, in welchem diese Windhose aufwirbelte, war ein ergreifender; wenigen Minuten vorher erschienen die Häuserfronten (…) wie von magischem Lichte übergossen…“ Mendel dagegen blieb nüchtern, versuchte nichts zu erhöhen, setzte Ironie statt Pathos ein. Metaphern benutzt er nur sehr gezielt, vergleicht die Windhose einmal mit einer Mitrailleuse. Das Wort kommt aus dem Militärgebrauch und meint ein um 1850 in Belgien entwickeltes Salvengeschütz. Auch von einer infernalischen Symphonie schreibt Mendel, um seine Eindrücke zu beschreiben.

In den Tagen nach der Windhose ließ er sich von zahlreichen Augenzeugen in Brünn ihre Windhosen-Erlebnisse schildern. Diese erzählten ihm, sie hätten zuerst einmal den Teufel vermutet: „…als man aber mit Schrecken wahrnahm, dass die vermeintliche Rauchsäule den Mühlgraben überschritten hatte und mit immer heftigerem Getöse auf die Weingärten losging, glaubte man darin den leibhaftigen Gottseibeiuns zu erkennen und verkroch sich schnell in eine nahe Wächterhütte.“ Mendel merkt an, dass ihm diese Berichte wegen „einer mehr als naiven Auffassung und Darstellung“ interessant erschienen. Es scheint ihm Spaß zu machen, den Aberglauben, den er verabscheute, ein wenig durch den Kakao zu ziehen, wenn er weiter berichtet, wie den Beobachtern von der Windhose das Dach der Wächterhütte über dem Kopf weggerissen worden ist und diese nun endgültig überzeugt gewesen seien, es sei der Teufel im Spiel, der im nächsten Moment womöglich noch brennende und glühende Sachen auf die Stadt werfen könnte.

Aus dem Text zur Windhose lässt sich eine Reihe von Kontexten herauslesen. Brünn entwickelte sich in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts zu einer der bedeutendsten Industriestädte Europas, besonders im Bereich der Textilindustrie. Bei der Beschreibung der Windhose nutzt Mendel eine Industrie-Metapher, die einen erahnen lässt, wie sich die Stadt damals entwickelt hat: „Der obere Kegel (Anm: der Windhose) sowie die seine Basis umgebende Wolke waren von tief dunkler, fast schwarzer Färbung und nicht unähnlich einer Rauchsäule, wie man sie bisweilen aus den Schornsteinen unserer Fabriken bei völlig ruhiger und feuchter Luft aufsteigen und sich nach aufwärts hin regelmäßig erweitern sieht.“ Auch von einer „Pferde-Bahn“ ist im Text die Rede. Dabei handelt es sich um die 1869 eröffnete von Pferden gezogene Brünner Straßenbahn.

Eine der – aus heutiger Sicht – erstaunlichsten Aussagen Mendels findet sich in seiner ersten meteorologischen Publikation in Band 1 der „Verhandlungen des Naturforschenden Vereines Brünn“, eine Bemerkung, die nicht einmal im Zentrum des Textes steht. Mendel thematisiert eingangs die Standortwahl der Messstationen in Brünn und merkt an, dass diese einen wesentlichen Einfluss auf das Datenmaterial habe.

Er stellt fest, „dass das Jahresmittel der Luftwärme gegen das Centrum der Stadt hin merklich zunehme. Es ist hier nicht der Ort, auf die Ursachen dieser Temperatur-Differenzen genauer einzugehen: Nur soviel sei bemerkt, dass an heiteren Sommertagen Strassenpflaster Mauern, Stein- und Ziegeldächer, von der Sonne erhitzt, eine ausgiebige Wärmesteigerung in den anliegenden Luftschichten veranlassen; im Winter aber die aus Thüren und Fenstern entweichende warme Luft, die aus Schornsteinen aufsteigenden heissen Rauchsäulen, nebst dem über die Stadt gespannten Rauchnebel viel zur Milderung der Temperatur beitragen.“

Damit streift Mendel – hier zumindest in lokaler Hinsicht – die Thematik, dass der Mensch unwiderruflichen Einfluss auf die Natur nimmt.  Die von ihm geschaffene Infrastruktur hat, wie er bemerkt, Auswirkungen auf die Messdaten und damit auch auf die Temperatur und andere Parameter. Denkt man dies konsequent weiter, wird offensichtlich, dass der Mensch, je stärker sein Einfluss ist, auch immer größeren Einfluss auf jegliche Messdaten und damit letztlich auf das Klima nimmt. Zwar hatte Mendel im Augustinerkloster ausreichend Flächen zum Experimentieren mit Pflanzen zur Verfügung, aber er lebte auch in einer Industriestadt. Ebenso wie er die Natur beobachtete, registrierte er auch die Umwelteinflüsse des Menschen.

Seinen Text über die Windhose beschließt Mendel launig, mit feinem Wortwitz und in eleganter literarischer Klarheit: „Wir haben uns in mancherlei Mutmaßungen über denselben erschöpft; müssen jedoch schließlich gestehen, dass wir es bei dem besten Willen nicht weiter bringen konnten als zu einer Lufthypothese, die aus luftigem Material und auf sehr luftigem Grunde aufgebaut ist.“


Ein längerer Essay zu diesem Thema findet sich im Buch „Gregor Mendel. Die Windhose vom 13. Oktober 1870. Mit einem Essay von Erwin Uhrmann und Illustrationen von Johanna Uhrmann“, erschienen im Limbus Verlag, Innsbruck, 2020.

Johanna Uhrmann hat den Verlauf der Windhose in Brünn, gemäß den präzisen Beschreibungen Mendels, kartiert und illustriert. Von ihr stammen auch die Illustrationen von Mendels Versuchsgarten im Augustinerkloster, von seinem Bienenhaus, seinen Messinstrumenten und seiner Brille und eine Stadtansicht der aufstrebenden Industriestadt Brünn. Einige der in den Illustrationen vorkommenden Objekte, wie die Brille und die Messgeräte, befinden sich im Mendel Museum in Brünn.


Johanna und Erwin Uhrmann haben gemeinsame eine Reihe von Reisebüchern publiziert. Darunter: „111 Orte im Waldviertel, die man gesehen haben muss“ (Emons Verlag, 2018), „111 Orte in der Wachau, die man gesehen haben muss“ (Emons Verlag, 2019), „Von der Moldau zur Thaya. Südböhmen und Südmähren erleben (Styria, 2020), „Wanderlust Welterbesteig. Auszeit in der Wachau“ (2022, Amalthea). 


Literaturverzeichnis (Teil 1 und 2):

Brünn, Teil II: Beiträge ehemaliger Schüler der Lehranstalt, Verlag der Schülerlade der deutschen Oberrealschule, Brünn, 1902, S. 225 bis 234.

Goethe, Johann Wolfgang von: „Feiger Gedanken“, in: Lila. Singspiel, 1777, 2. Aufzug, 2. Szene. Einzeln ist der Text abrufbar unter: https://www.aphorismen.de/gedicht/536.

Iltis, Hugo: Gregor Johann Mendel. Leben Werk und Wirkung. Mit 59 Abbildungen im Text und 12 Tafeln. Springer-Verlag, Berlin-Heidelberg Gmbh, 1924.

Litschmann, Tomáš; Rožnovský, Jaroslav: Meteorological measurements in the St.Thomas ́s Abbey in Brno. Online abrufbar unter: http://www.cbks.cz/SbornikBrno14/LitschmannRoznovsky.pdf.

Mendel, Gregor: Bemerkungen zu der graphisch-tabellarischen Uebersicht der meteorologischen Verhältnisse von Brünn. Vorgelegt in der Sitzung vom 14. Jänner 1863, in: Verhandlungen des Naturforschenden Vereines Brünn, Band 1, S. 246-249.
Online abrufbar unter: https://www.zobodat.at/pdf/Verh-naturf-Ver-Bruenn_01_0246-0249.pdf.

Mendel, Gregor: Versuche über Pflanzenhybriden, Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, S. 14, kommentiert von Franz Weiling, Springer Fachmedien, Wiesbaden GmbH, 1970.

Richter, Oswald: Johann Gregor Mendel wie er wirklich war. Neue Beiträge zur Biographie des berühmten Biologen aus Brünns Archiven, mit 31 Abbildungen im Texte. Verhandlungen des Naturforschenden Vereines in Brünn, Band 74, Brünn, 1942.
Online abrufbar unter: https://www.zobodat.at/pdf/Verh-naturf-Ver-Bruenn_74_0001-0262.pdf.

Setvák, Martin; Šálek, Milan; Munzar, Jan: Tornadoes within the Czech Republic: from early medieval chronicles to the “internet society”, in: Atmospheric Research 67–68, 2003, S. 589–605.

Brünn, in: Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen in Europa (Ome-Lexikon), Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Online abrufbar unter: https://ome-lexikon.uni-oldenburg.de/orte/bruenn-brno.


Bildquelle: © Johanna Uhrmann


RaT-Blog Nr. 23/2022

  • Erwin Uhrmann ist Autor und lebt in Wien. Von ihm erschienen mehrere Romane, zuletzt „Toko“ (Limbus Verlag, 2019), und Lyrikbände, zuletzt „K.O.P.F.“ (gemeinsam mit Karlheinz Essl, Limbus Verlag, 2021). Er ist Herausgeber der Reihe „Limbus Lyrik“ und Redakteur im „Spectrum“ der Tageszeitung „Die Presse“.

  • Johanna Uhrmann ist Grafikdesignerin, Autorin, Fotografin und Kunsthistorikerin und lebt in Wien. Sie gestaltet Kunstkataloge und Kunstbücher für Museen sowie Bücher und Zeitschriften.