Tantra im Kontext einer globalen Religionsgeschichte

Aus gutem Grunde steht Tantra oft im Mittelpunkt von Debatten über kulturelle Aneignung und die Kommerzialisierung religiöser Praktiken. Durch orientalistische und missionarische Wahrnehmungen, vor allem seit dem 19. Jahrhundert, wurde Tantra mit sexueller Zügellosigkeit und abscheulichen Ritualen in Verbindung gebracht, bevor es im Lauf des 20. Jahrhunderts im Zuge seiner weltweiten Verbreitung immer mehr als Weg zu sexueller Befreiung und individueller Freiheit wahrgenommen wurde. Es ist zwar schwierig zu definieren, was „Tantra“ genau bedeutet, aber die Forschung ist sich weitgehend einig, dass es sich dabei um einen integralen und herausragenden Teil des Hinduismus handelt, um eine schwer zu fassenden Kategorie, die eine große Vielfalt von Lehren und Praktiken umfasst. Es liegt auf der Hand, dass die Aufsehen erregenden und kommodifizierten Auffassungen von „Tantra“ im Widerspruch zu der historischen und inhaltlichen Tiefe des Themas stehen. Kritische Stimmen aus dem Spektrum der postkolonialen Studien und der klassischen Indologie haben daher zu Recht auf die vielen Zerrbilder in den gängigen Vorstellungen über Tantra hingewiesen.

Doch während insbesondere die postkoloniale Kritik dazu beigetragen hat, zu verstehen, wie die Bedeutung des Tantra unter den Bedingungen des Kolonialismus geformt wurde, neigte sie manchmal dazu, „nicht-westliche“ Akteurinnen und Akteure auf ähnliche Weise in den Hintergrund zu drängen wie die eurozentrische Geschichtsschreibung, die von Europa als Mittelpunkt ausgeht, von dem aus sich die „Moderne“ auf einen meist passiven „Rest“ ausbreitete. Dieses Problem spiegelt sich im religionswissenschaftlich lebhaft diskutierten Thema der Bedeutung von „Religion“ wider: Handelt es sich bei „Religion“ um ein christlich-westliches Konzept, dessen Anwendung auf andere kulturelle Kontexte eigentlich eine Projektion ist? Handelt es sich bei Religion und „Hinduismus“ – eine Kategorie, die wie so viele -ismen erst seit dem 19. Jahrhundert Verwendung findet – um eine orientalistische Spiegelung westlicher Ideen, die angesichts des kolonialen Kontextes einem Akt epistemischer Gewalt gleichkommt? Sind die heutigen Auffassungen von Tantra also das Ergebnis des europäischen Kolonialismus? Ist der „traditionelle“, vorkoloniale Tantra von seiner modernen Variante abgekoppelt?

Die Situation ist komplizierter. Natürlich wurde das Verständnis von Tantra in einem kolonialen Kontext maßgeblich geprägt, und es ist wichtig, dass unsere Geschichtsschreibung diesem Umstand Rechnung trägt. Dennoch waren die indischen (und anderen asiatischen) Menschen, die sich an den Debatten über die Bedeutung des Tantra beteiligten, keine passiven Empfänger westlichen Wissens. Auch wenn die meisten Wissenschaftler heute dieser Aussage zustimmen würden, ist das moderne Tantra ein lehrreiches Beispiel dafür, wie „nicht-westliche“ Akteurinnen und Akteure noch immer oft nicht eigenständig berücksichtigt werden.

Ohne die Schriften eines pseudonymen „Arthur Avalon“, der Tantra von den 1910er bis in die 1930er Jahre als ernstzunehmenden Forschungsgegenstand etablierte, wäre Tantra heute kaum so bekannt – sowohl unter Praktizierenden als auch in der Wissenschaft. Lange Zeit wurde angenommen, dass der britische Richter John Woodroffe (1865-1936) für dieses Projekt verantwortlich war. Tatsächlich aber war es ein Team von gelehrten Leuten aus Südasien, zumeist Bengalis, die die Arbeit leisteten und Woodroffe bewusst als ihre Galionsfigur präsentierten. Obwohl diese Tatsache vielen bekannt ist, wurde dieser lokale Hintergrund der Avalon-Kollaboration noch nie im eigenen Recht untersucht.

Dabei ergibt sich ein Bild des komplexen und oft ambivalenten kulturellen Austauschs. Die Region Bengalen mit ihren berühmten Zentren der Gelehrtheit, wie Navadvip und Krishnagar, war an sich schon ein reiches kulturelles Umfeld, in dem sich verschiedene hinduistische, muslimische und später auch europäische Strömungen vermischten: Hier verkündete Chaitanya den hingebungsvollen Vishnuismus (den man heute z.B. von den „Hare Krishnas“ kennt); hier erhoben die Shaiva-Shakta-Traditionen, die sich auf Shiva als Gott bzw. auf Shakti als Manifestation der Göttin konzentrieren, Kali und Durga zu den wichtigsten Gottheiten Bengalens; hier blühte die Mogulkultur, und hier wurden Orientalisten wie William Jones ausgebildet. Die Tantras bildeten einen integralen Bestandteil der bengalischen Bildung. Im 19. Jahrhundert gehörte der Pandit, also der brahmanische Gelehrte, Shivachandra Vidyarnava (1860-1913) zu den prominentesten Verfechtern des Tantra, der diesen als Kern des sanātana dharma, der unveränderlichen und ewigen Wahrheit der Veden, pries. Shivachandra war nicht nur der Guru von Woodroffe, sondern auch von mehreren Mitarbeitern des Avalon-Projekts – eine der ersten Veröffentlichungen war Principles of Tantra (1914/16), eine Übersetzung von Shivachandras Hauptwerk Tantratattva.

Gleichzeitig waren die Mitarbeiter von Avalon nicht nur von diesem Kulturkreis, sondern auch von britisch-europäischer Bildung geprägt. Sie beschäftigten sich mit prominenten zeitgenössischen Bewegungen, wie der Theosophischen Gesellschaft. Auch hier hat sich die bisherige Erforschung der Aktivitäten dieser esoterischen Gesellschaft, die 1875 in New York gegründet und kurz darauf nach Indien verlegt worden war, auf westliche Mitglieder konzentriert. Das ist einerseits verständlich, da die Theosophische Gesellschaft maßgeblich daran beteiligt war, dass Themen wie Yoga und Tantra in Europa und Nordamerika populär wurden. Andererseits ist es irreführend, diesen Prozess als eine Diffusion „westlicher Esoterik“ zu betrachten: Die Theosophie betrat eine komplexe intellektuelle Landschaft und wurde zum Gegenstand indischer Debatten. Ihre Suche nach dem Ursprung der „arischen Zivilisation“ in Indien – eine damals in Europa weit verbreitete Vorstellung – führte zu einem besonderen Interesse an Tantra, das Shivachandra und seine Schüler ja wie gesagt als die „esoterische“ Essenz der Veden darstellten. Daher wundert es nicht, dass sich rasch ein reger Austausch entwickelte, dessen bengalische Teilnehmenden eine ebenso bedeutende Rolle spielten wie diejenigen aus anderen Teilen der Welt.

Dies war weder das Ergebnis einer „Begegnung zwischen Ost und West“ noch eines Konflikts zwischen Modernität und Tradition. Es war auch nicht das Ergebnis eines romantisierten, friedlichen Prozesses, da dieser Austausch im Kontext des Kolonialismus stattfand und Hand in Hand mit Nationalismus, etlichen Streitigkeiten und der Ambivalenz von Rassentheorien einherging. Die Aktivitäten der bengalischen Tantriker hinter Avalon veranschaulichen, wie wir sowohl lokale, diachrone Entwicklungen, die bis in die vorkoloniale Zeit zurückreichen, als auch die globalen Verbindungen, die sie kontinuierlich prägten, berücksichtigen müssen. Wenn wir verstehen, dass die gegenwärtigen (Neu-)Verhandlungen über „Tantra“ oder „Religion“ global sind, dann müssen wir anerkennen, dass auch ihre Geschichte global ist. Der Ansatz der globalen Religionsgeschichte ist ein Versuch, dieser Komplexität gerecht zu werden. Er kann uns auch dabei helfen, kulturelle Austauschprozesse nicht als binäre Dynamik der Aneignung zu begreifen, sondern als Verflechtungsgeschichte.


Bildquelle: Oxford University Press, Bildbearbeitung: Marian Weingartshofer


RaT-Blog Nr. 25/2022

  • Julian Strube ist Universitätsassistent (postdoc) am Institut für Religionswissenschaft der Universität Wien. Er arbeitet aus globalhistorischer Perspektive zum Verhältnis zwischen Religion und Politik seit dem 18. Jahrhundert und konzentriert sich dabei auf Verflechtungen zwischen Indien, Europa und Nordamerika. Seine dritte Monographie ist 2022 bei Oxford University Press erschienen. Er hat breit zu globaler Religionsgeschichte, Religionskomparatistik, Kolonialismus, Esoterik, Sozialismus und Rechtsextremismus publiziert.