Das Leben Jesu, kritikkritisch bearbeitet von Friedell. Teil 1

I.

Egon Friedell (1878–1938), der Schauspieler, Conférencier, Kabarettist, Theaterautor Kolumnist und Essayist ist von seiner Ausbildung her eigentlich promovierter Philosoph. In unserem Buchhandel stehen noch heute seine Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der Europäischen Seele von der Schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg (1927–1931) und seine unabgeschlossene Kulturgeschichte des Altertums. Leben und Legende der vorchristlichen Seele (1936–1938). Entsprechend der inhaltlich-methodischen Nähe, die das Fach Kulturgeschichte in der Neuzeit und Moderne zur Philosophie und Theologie hatte, schrieb Friedell seine Kulturgeschichten also nicht etwa als Dilettant, wie er selbst gerne ironisch vermerkte und wie die kritische Literatur über ihn oft unkritisch übernommen hat. In beiden Kulturgeschichten sowie in seinen Essays kommt Friedell, der zum Luthertum konvertierte, wiederholt auf Jesus zu sprechen. Als theologischer Denker interessiert Friedell die Veränderung der europäischen Kultur durch das Christentum, dessen Geschichte er christologisch auf die historisch-biblische Erscheinung seines Stifters bezieht. Auch dieser Bezug steht in der ideenhistorischen Tradition der neuzeitlich-modernen Kulturgeschichte, nämlich im philosophisch-theologischen Vergleich vergangener historischer Kulturen.

Friedell weist eine enorme Bildung, heißt einen enormen Quellenfundus auf, namentlich in der frankofonen und deutschsprachigen Aufklärungsliteratur, in der eine der zentralen Debatte die historisch-kritische Frage nach dem Leben Jesu war. Nun existieren von Friedell zwei weitgehend vergessene Publikationen zu dieser Debatte, die sich nicht nur durch tiefgehende Gedanken und damit als wertvolle ideenhistorische Quelle des Fin de Siècle auszeichnen, sondern auch eine unablässige Schlüsselstellung zur Interpretation von Friedells Kulturgeschichten, die immer wieder auf Jesus zu sprechen kommen, bilden: Die Judastragödie (uraufgeführt 1923 im Burgtheater) und Das Jesusproblem (1921). Durch das Studium von Friedells kulturhistorischem Gesamtwerk erkennen wir, wie eng die Genese des Faches Kulturgeschichte in der Aufklärung an die Frage nach dem historischen Jesus gebunden ist, wozu ich durch die Analyse jener beiden Schriften hier eine kleine Einleitung vorlege.

II.

Im Jesusproblem kritisiert Friedell die sogenannte Mythentheorie der protestantischen Leben-Jesu-Forschung, nach welcher, pauschal gesagt, die Wundererzählungen der Evangelien, vor allem die Auferstehung Jesu, erklärbar seien aus dem kulturell-religiösen Kontext des hellenistischen Judentums. Diese historisch-kritische Forschung arbeitete kulturhistorisch, also mit dem Vergleich verschiedener Kulturen, und wurde intensiv von HS. Reimarus im Privaten entwickelt. GE. Lessing publizierte die Manuskripte (abgeändert) als Fragmente und löste damit den Fragmentenstreit aus, der gute 50 Jahre später dann wieder von D. F. Strauß‘ Leben Jesu kritisch bearbeitet angekurbelt wurde. Strauß war nur die Spitze der hegelschen Bildung. Sowohl was die historisch-kritische Erforschung des Neuen Testamentes als auch die historische Spekulation zum Christentum bzw. zur Person Jesu angeht, zeichnete sich die Hegel-Schule aus.

GWF. Hegel selbst versuchte in seinen Berner und Frankfurter Schriften die Frage nach dem Leben Jesu kulturhistorisch zu beantworten. Wie er fragten dann Baur, Strauss, Bauer und Schaller: Ist das Christentum ein Rückschritt hinter die antik-griechische Kultur? Ist das weltfremde Christentum schuld, dass der römische Staat unterging? Ist unsere gegenwärtige Kirche kongruent mit dem Urchristentum? Wie konnte das Christentum zu einem Instrument der Macht und Angst werden, wo doch sein Gründer von Freiheit und allgemeiner Menschenliebe spricht? Wer war Jesus? Ist er wirklich auferstanden? Gibt es Wunder in der Geschichte? Wiewohl sie zu unterschiedlichen Resultaten kommen, ist ihre Methode dieselbe, nämlich aufgeklärt-kulturhistorisch an historischen Kulturen philosophische, theologische und soziopolitische Leitlinien für die eigene Kultur zu gewinnen. In diesem Sinne ist auch Friedell ein Kulturhistoriker hegelscher Bildung. Er scheint aber anderer Meinung zu sein:

„das ‚Leben Jesu, kritisch bearbeitet‘ von David Friedrich Strauß […] erregte ein beispielloses Aufsehen. […] Der Grundgedanke […], weniger historisch darstellend als dialektisch untersuchend, […] ist wiederum ein hegelischer: der Mythusbegriff […] will eine Synthese aus den beiden bisherigen Erklärungsversuchen sein: der supranaturalistischen, die an Wundern und direkten göttlichen Eingriffen festhielt, und der rationalistischen, die mit Hypothesen, deren Gequältheit und Sophistik ans Alberne grenzt, alle Ereignisse der evangelischen Geschichte durch natürliche Ursachen zu erklären suchte […]. Nach Strauß sind die Evangelien weder Offenbarung noch Geschichte, sondern Produkte der Volksseele, Erzeugnisse des Gemeinbewußtseins, Mythen, wie sie jede Religion besitzt […]. ‚Das ist der Schlüssel der ganzen Christologie, daß als Subjekt der Prädikate, welche die Kirche Christo beilegt, statt eines Individuums eine Idee, aber eine reale, nicht kantisch unwirkliche, gesetzt wird. In einem Individuum, einem Gottmenschen, gedacht, widersprechen sich die Eigenschaften und Funktionen, welche die Kirchenlehre Christo zuschreibt: in der Idee der Gattung stimmen sie zusammen. Die Menschheit ist die Vereinigung der beiden Naturen, der menschgewordene Gott, der zur Endlichkeit entäußerte unendliche, und der seiner Unendlichkeit sich erinnernde endliche Geist; sie ist das Kind der sichtbaren Mutter und des unsichtbaren Vaters: des Geistes und der Natur; sie ist der Wundertäter: sofern im Verlauf der Menschengeschichte der Geist sich immer vollständiger der Natur, im Menschen wie außer demselben, bemächtigt, diese ihm gegenüber zum machtlosen Material seiner Tätigkeit heruntergesetzt wird; sie ist der Unsündliche: sofern der Gang ihrer Entwicklung ein tadelloser ist, die Verunreinigung immer nur am Individuum klebt, in der Gattung aber und ihrer Geschichte aufgehoben ist.‘ Das Resultat all dieser einschläfernden Haarspaltereien, die zur Voraussetzung haben, daß die Urchristen sämtlich bei Professor Hegel belegt hatten, ist also der erhebende Gedanke, daß die Menschheit vermöge ihres ‚tadellosen‘ Entwicklungsgangs selber der unsündliche Gottmensch sei, was dem Straußischen Lesergeschlecht von Börsenjobbern, Zeitungslügnern und Arbeiterschindern zweifellos eine große Beruhigung bieten mußte.“

(Kulturgeschichte der Neuzeit, ed. München 32012, 1068–1070, fortan KgN)

Zumindest mit Strauß scheint Friedell seine Probleme zu haben. Wie ich nun aber zeigen möchte, resultieren diese Probleme ebengerade aus Friedells aufgeklärter Manier, die Probleme rational durchzudenken, wobei er der hegelschen Philosophie nähersteht, als man meinen könnte. Friedell fordert nämlich nicht weniger historische Kritik, sondern kritischere historische Kritik. Das Jesusproblem richtet sich namentlich gegen WB. Smiths Der vorchristliche Jesus (1906), A. Drews’ Die Christusmythe (1909) und JM. Robertsons Die Evangelien-Mythen (1910, orig. engl. 1902). Die drei wollen auf Grundlage der straußschen Mythentheorie (über diese aber hinausgehend) beweisen, dass Jesus als historische Person nicht existiert habe, sondern eine mythische Idee der hellenistisch-jüdischen Kultur sei. Eventuell könne eine realhistorische Person – so ein Mensch, der als einer von vielen Propheten auftrat – als Grundlage fungiert haben, aber die Evangelien seien keine historischen Dokumente.

III.

Friedells Apologie geht nun so vor, dass er die wissenschaftstheoretischen wie geschichtsphilosophischen Voraussetzungen und Konsequenzen der Mythentheorie an anderen historischen Beispielen ad absurdum führt. Er will zeigen, dass die Mythentheorie mehr Fragen aufwirft, als sie löst, und noch viel mehr: dass gerade durch ihre Unfähigkeit, das Phänomen Jesu erklären zu können, die Gegenthese, nämlich Jesu wunderbare Einzigartigkeit in der Geschichte prägnant hervorscheint (vgl. Das Jesusproblem. Mit einem Vorwort von Hermann Bahr, Wien 1921, hier ed. Bremen 2013, 19–27, fortan JP).

Aufgrund des akademischen Dichtestresses können wir nicht die an sich doch auch differenzierte mythentheoretische Forschung selbst zu Wort kommen lassen, sondern müssen sie durch Friedells Polemik lesen. Diese gibt aber das große Ganze wieder. Der auferstandene Gottmensch sei das ideelle Konstrukt der Urgemeinden bzw. der Evangelien, wozu in der aufgeklärten Moderne namentlich zwei Motivationen diskutiert worden sind: erstens der Tod Jesu wider die theokratische Erwartung der Urgemeinden, dass Jesus die religiöse Heimat von der römischen Besatzung befreie, worauf seine Biografie mit Wundern und der Auferstehung versehen wurde; zweitens das Ausbleiben der angekündigten Wiederkunft Jesu, was eine ekklesiologische Ausweitung auf das Heidentum bewirkte.

Nach Friedell widerlegen sich beide Hypothesen in sich selbst: „wird alle menschliche Psychologie auf den Kopf gestellt, wenn man auf diese Weise aus den Urchristen eine Gesellschaft von Betrügern, Falschmünzern und Scharlatanen macht. Wenn sie selbst das Ganze für eine interpolierte, erfundene Sache hielten: warum hätten sie denn dann so inbrünstig daran glauben sollen?“ (JP 35) Dasselbe gilt auch für die dezentere Hypothese, die den Glauben an den auferstandenen Christus auf eine kollektive Selbsttäuschung zurückführt und dafür Parallelbeispiele aus der antiken Mythologie vorlegt. Friedell erwidert, dass, nüchtern betrachtet, die Vergöttlichung eines Menschen tatsächlich die einzig rationale Erklärung seitens der Zeitgenossen sein kann und führt ebenfalls ein Beispiel aus der außerchristlichen Geschichte an:

„Wenn zum Beispiel ein Mensch von einer dämonischen hellseherischen Energie und einem staunenerregenden Impetus in die Welt tritt, alle Kräfte des […] zerbröckelten Hellas mit einem einzigen Griff zusammenfaßt und mit dieser Handvoll Menschen das ungeheure Weltreich Persien, das Urland menschlicher Weisheit Aegypten und das geheimnisvolle Indien […] unter sein Zepter drückt, und, was mehr ist, diese ganze Welt organisiert […] – ja, was bleibt denn dann der verblüfften Menschheit, wenn sie noch ihre fünf gesunden Sinne beisammen hat, andres übrig, als diesen Mann für einen Gott zu erklären?“

(JP 36f.)

Gegen eine solch bedenkliche profanhistorische Kraft aber führt Friedell die Überlegenheit der Geistesgeschichte an: „Und was war Alexander, der doch nur die physische Welt des Altertums eroberte und erneuerte, gegen Jesus, der die ganze geistige Welt der damaligen Zeit völlig verwandelte, der unermeßliche neue Länder und Reiche der Seele entdeckte und in Besitz nahm!“ (JP 37) Auch wenn Jesu Geschichte auf eine spekulative Zusammenfassung verschiedener Religionselemente durch die Urgemeinden zurückgeführt würde, bliebe noch die Frage nach dem Wesen dieser Synthese. Das ist nämlich die eigentliche Frage, die nach Friedell das historisch-kritische Forschen nach dem Leben Jesu ausmachen sollte:

„Alles war da, alles war schon ‚vorbereitet‘, aber Jesus war noch nicht da! Das Genie tut den letzten Spatenstich […]. Es sagt Dinge, die im Grunde Jeder sagen könnte, aber es sagt sie […] so tief und empfunden wie sie niemand sagen könnte. […] Und vor allem: es lebt seine Gedanken! Seneca argumentierte und deklanierte eifrig über Menschenliebe und stoische Bedürfnislosigkeit, aber das war der eine Seneca, der philosophische Seneca: der andere Seneca, der Seneca des Lebens war der skrupellose Geldmacher und Millionär, der liebedienerische Genosse neronischer Verbrechen.“

(JP 41f.)

Die Frage nach dem Leben Jesu verändert sich bei Friedell also weg von einem Fragen nach konkreten Daten hin zur historischen Erscheinung Jesu als Person. So ist auch die Möglichkeit, dass Jesus „äußere Formen, Zeremonien und Symbole aus den bisherigen orientalischen Religionen übernommen“ (30) habe, kein Beweis gegen seine Existenz. Weshalb denn sollte er, wenn er in den bisherigen Religionen etwas Gutes erkannt hat, dieses nicht übernehmen, nur um originell zu sein (vgl. JP 28–36, 40–43)?

IV.

Dass vergangene Kulturen historische Einschnitte als göttliches Walten deuten, einfach als Phantasterei abzutun, zeugt für Friedell von einer ignoranten Verabsolutierung der eigenen Kultur, lediglich „weil der platte und enge Hausmannsverstand […] so beschaffen ist, daß er aus einer Art Selbsterhaltungstrieb nur das ihm Begreifliche als existent anerkennt und lieber das Höchste und Tiefste, das Sinnvollste und Vollkommenste aufgibt als – sich selbst.“ (JP 39) In der zu Friedells Zeiten auf materielle Daten reduzierten historischen Kritik wird ein Perspektivenwechsel gar nicht erst erwogen. Diese Scheuklappen abzulegen wäre aber ein nötiger methodischer Schritt der Kulturgeschichte, die sich eben in die Erlebniswelt fremder Kulturen eindenken und einfühlen muss, um diese zu verstehen: „mit einer gewissen Berechtigung glaubt man heute nicht mehr an göttliche Erscheinungen, denn in unserer Zeit sind sie tatsächlich ganz und gar unmöglich geworden. Aber daß sie zu allen Zeiten unmöglich waren, ist ein ebenso falscher wie anmaßender Schluß.“ (JP 38)

Als erprobter Schauspieler, der eine fremde Rolle spielt, weiß Friedell sich in die Erlebniswelt vergangener Kulturen ‚einzuverstehen‘. Für die Kulturgeschichte als „seelische Kostümgeschichte“ (KgN 28) ist das Schauspiel ein essentieller methodischer Schritt. Denn die damit verbundene Relativierung des eigenen Evidenzapparates erlaubt, die durch die Mythentheorie problematisierten Wundergeschichten der Evangelien zu erahnen. Es gibt in der antiken Historiografie viele Wundergeschichten, sie waren quasi common sense. Wird also Jesu Existenz aufgrund der Wundererzählungen bestritten, müsste dies auch bei Cäsar geschehen, aber „aus der Mitteilung Virgils, daß sich beim Tode Julius Caesars die Sonne verfinsterte, hat noch niemand geschlossen, Julius Caesar sei eine mythische Figur.“ (44) Friedell treibt die Methode der Mythentheorie steil auf die Spitze, um schwungvoll das Argument zu entkräften.

„Und wenn die Evangelisten […] Menschen ohne Bildung und Einsicht, ohne persönliche Kenntnis Jesu, leichtgläubige, beschränkte Geschichtenträger waren, dann bleibt es ja erst recht unverständlich, wie sie ohne Jesus und eine Überlieferung über Jesus dazu kamen, das schönste Buch der Weltliteratur zu verfassen. Denn wenn sie alles das ‚zu dogmatischen Zwecken‘ erfunden haben sollten, so müßten wir ja in ihnen Romandichter und Theosophen von höchster Genialität erblicken.“

(JP 49f.)

Den historisch-kritischen Ansatz konsequent zu Ende zu denken, lässt eher das Wunderbare der Erscheinung Jesu hervortreten als dessen Nichtexistenz (vgl. JP 36–39, 43–52, 69).

Nach der Mythentheorie bezeichne Paulus Jesus weniger als einen „wirklichen Menschen“ denn „ein abstraktes Geistwesen“ (JP 53), womit die Hypothese aufkommt, dass Jesus für ihn nur eine Allegorie sei. Wiederum darin liegt für Friedell das verblüffende: „Woher kam denn dieser Magnetismus, der Paulus, den hartherzigen, gesetzesstrengen Schriftgelehrten, den hochgebildeten Schüler griechischer Zweifelsphilosophie, plötzlich zwang, sein Leben von nun an dem Kultus eines Toten zu weihen, den er niemals körperlich erblickt hatte?“ (JP 56) Ein realer Jesus macht als historische Kausalität für Paulus’ Schriften mehr Sinn, als dass er aus diversen Religionen synkretistisch auf eine Allegorie gekommen wäre. Die Ansätze der Mythentheorie „beweisen zu viel und daher nichts“ (JP 58), sie untergraben sich selbst, wie sich dann an der Gegenhypothese zeigt, dass eben auch Paulus eine literarische Erfindung sei. „Zuerst wird mit einem riesigen Apparat an der Psychologie, der Schreibweise, den Lebensumständen eines zweifellos als historisch gedachten Paulus aufgezeigt, daß er in Christus unmöglich eine geschichtliche Persönlichkeit erblickt haben kann, und dann wird mit einem ebenso großen Apparat gezeigt, daß Paulus selber keine geschichtliche Persönlichkeit war.“ (JP 57) Eine allzu faktenvernarrte Historiografie verkennt die Ontologie der Geschichte. Paulus hat Jesus sensualistisch nicht gekannt, doch hat er ihn dafür in der höchstmöglichen Form gekannt, nämlich der geistigen (vgl. JP 53–59).

Ein weiterer Einwand gegen Jesu Existenz wird darin gesehen, dass es in den ersten Jahrzehnten des Christentums an außerchristlichen Zeugnissen fehlt. Kulturhistorisch betrachtet, kann nach Friedell auch dieses Fehlen nicht überraschen:

 „Wenn es in dem ‚aufgeklärten‘, polizierten, […] von Literatur ganz infizierten Zeitalter der Elisabeth möglich war, daß von den größten Genius dieses Zeitalters jede öffentliche Urkunde spurlos verschwunden ist: weshalb sollte auf dem Lande, wo man der Schrift unkundig war, […] unter einer gleichgültigen, tief verständnislosen, nur für Steuern interessierten und zum Teil auch sehr lässigen römischen Verwaltung nicht dasselbe möglich gewesen sein? Freilich: Shakespeare ist ja doch auf uns gekommen, und kein Vollsinniger bezweifelt, daß er gelebt hat. Er ist auf uns gekommen in der sichersten und untrüglichsten Form, in der der Genius sein Leben bezeugen kann: durch seine Geisteswerke. […] Und Jesus […], der mit einem viel kompliziertern, wertvoller und gewaltigern Material gedichtet hat: mit dem Leben, ist durch dieses sein Leben auf uns gekommen. […] Auch über Sokrates haben wir nur die ‚Memorabilien‘ des Xenophon, die weit weniger konkretes biographisches Detail enthalten als die Berichte des Marcus oder Matthäus, und die Dialoge des Plato, die weit mehr den Charakter von ‚Dichtung und Wahrheit‘ tragen als selbst das Evangelium des Johannes. Und dabei war doch das perikleische Athen ein weitaus ‚literarischeres‘ Milieu als Judäa!“

(JP 60-64)

Das Bedürfnis nach einer exakten Biografie entsteht erst der Nachwelt, den unmittelbaren Nächsten geht es vielmehr um das lebendige Erlebnis, das sich literarisch nicht festhalten lässt. Die ‚faktischen Widersprüche‘ der Evangelien untereinander sind kein Unikum. Jede Biografie hat solche Widersprüche, weil die Menschen nicht derart leben, wie sie die Nachwelt erfasst haben will. Denn „das Leben der Geschichte, solange es lebendig, das heißt: Gegenwart ist, […] ist so rücksichtslos, für sich zu leben und nicht für die Archive“ (JP 62) So kann die Historiografie hier nicht stehen bleiben, sondern muss nach dem Wesen der Geschichte fragen. Und dies ist nach Friedell die Person, die Geist ist, womit Geschichte Geist ist. Eine im vollsten Sinne des Programms historisch-kritische Erforschung des Leben Jesu führt konsequent zu geschichtsphilosophischen Fragen, einerseits wissenschaftstheoretisch nach der Möglichkeit historischer Erkenntnis überhaupt, andererseits infolgedessen spekulativ nach dem historischen Ding an sich. Historisch-kritisch müsste erwägt werden, ob nicht die antike Geschichtsschreibung dieses Ding an sich mehr auf den Punkt bringt als wir Modernen.

„Die antike Historiographie erfand Reden und Situationen, die sie für charakteristisch ansah, mit der größten Unbefangenheit und ohne das Bewußtsein, damit eine Fälschung zu begehen, indem sie von dem gesunden Gefühl ausging, daß eine Tatsache um so wahrer sei, je prägnanter, sinnfälliger, porträtähnlicher sie in ihrer individuellen Einmaligkeit der Erinnerung eingebrannt werde: man suchte nach ihrer lebendigen, künstlerischen Gestalt, nicht nach ihrer toten szientifischen Beschreibung. Die Ilias galt den Griechen nicht als Literatur, sondern als Geschichtsquelle“.

(KgN 944)

Aber eben ist der springende Punkt hierbei, dass dies kein Argument gegen den historischen Rationalismus ist, ja diesem muss eben dafür gerade so weit als möglich gefolgt werden, bis er die eigentliche historische Bildung öffnet. Je historisch-kritischer der Hintergrund, desto deutlicher zeichnet sich vor ihm das historische Wunder ab. Friedell als Kritiker der hegelschen Schule steht damit selbst auf einem sehr hegelschen Standpunkt: Denken ist Geist, Geschichte ist Geist, Geist ist Person, Geist ist Leben, und durch rationale, möglichst umfassende kulturhistorische Bildung erscheint der Geist in der Geschichte. Wir können hier nur auf die „Allgemeine Einleitung“ von Hegels Philosophie der Geschichte (1822/23) verweisen, in der dieser wie Friedell eine historiographische Phänomenologie des Geistes gegen eine empiristisch-kritische Methode anführt. Für Friedell ist hierbei der Lebensbegriff der individuellen Person die Substanz, auf die es den Fokus zu setzen gilt. „Das unbedeutendste Ereignis der Geschichte hat immer eine Person zur Ursache“ (JP 70). Die Frage nach dem Leben Jesu muss die Frage nach dessen geistigem Leben sein (vgl. JP 59–65, 78–81).

Damit stehen weitreichende Thesen im Raum. Was genau Friedell damit meint, sehen wir nächste Woche.

Zum zweiten Teil des Beitrags geht es hier entlang.


Fotocredits: (C) Wikimedia Commons

  • Andreas Burri arbeitet am Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien als Universitätsassistent Prae Doc. Seine Forschung gilt der Kulturgeschichte der römischen Antike und der frankofonen Neuzeit sowie der Praxis und Theorie dieses Faches selbst in Neuzeit, Moderne und Gegenwart.