Das Leben Jesu, kritikkritisch bearbeitet von Friedell.Teil 2

Der erste Teil des Beitrags kann hier nachgelesen werden.

V.

Im ersten Teil haben wir gelesen, wie nach Friedells hegelscher Bildung die Substanz der Geschichte Geist ist, wobei Friedell betont, dass sich der Geist der Geschichte primär im Leben der Person zeigt. Das Leben einer historischen (und gegenwärtigen) Person in seiner Individualität kann nicht ergriffen und begriffen werden: „einfache, deutliche und zuverlässige Dokumente stehen aber dem Historiker nicht zu Gebote. Der Mensch ist zu allen Zeiten ein höchst komplexes, polychromes und widerspruchsvolles Geschöpf gewesen, das sein letztes Geheimnis nicht preisgibt.“ (Kulturgeschichte der Neuzeit, ed. München 32012, 8, fortan KgN). So bleibt uns auch der Blick in die historische Kausalität kategorisch verwehrt.

„Die historische Kausalität ist schlechterdings unentwirrbar, sie besteht aus so vielen Gliedern, dass sie dadurch für uns den Charakter der Kausalität verliert. Zudem lassen sich die physikalischen Bewegungen und ihre Gesetze durch direkte Beobachtung feststellen, während die historischen Bewegungen und ihre Gesetze sich nur in der Phantasie wiederholen lassen; jene kann man jederzeit nachprüfen, diese nur nachschaffen. Kurz: der einzige Weg, in die historische Kausalität einzudringen, ist der Weg des Künstlers, ist das schöpferische Erlebnis.“

(KgN 9)

Aus diesem Grund spricht Friedell immer wieder davon, dass sich der Geist der Geschichte in den großen Persönlichkeiten zeigt, die er mit „Dichter“, „Held“ oder „Genie“ bezeichnet, was in erster Linie nichts anderes bedeutet als die Souveränität der Individualität.

„Die Geschichte macht Geschichte: auf diese Absurdität von Tautologie würde es hinaus kommen, wenn man annehmen wollte, das […] Kollektivbewußtsein der Menschheit sei das Schöpferische in der historischen Entwicklung. […] Was den vielen Glaubensformen zur Zeit Christi fehlte, war das große Individuum. […] die Tatsache Jesus Christus war ein fester Kristallisationspunkt, um den sich alle menschliche Sehnsucht, Furcht und Hoffnung, das ganze Wissen und Wollen der Zeit ansetzen konnte. […] Dichtung, Philosophie und Skulptur der Hellenen hatten die herrlichsten Kunstwerke geschaffen und eine Religion der Schönheit hervorgezaubert […]. Aber was sind alle Kunstwerke gegen einen wirklichen Menschen, der ein Kunstwerk Gottes ist?“

(Das Jesusproblem. Mit einem Vorwort von Hermann Bahr, Wien 1921, hier ed. Bremen 2013, 71–73, fortan JP)

Weil sich diese Individualität, rational betrachtet, rational nicht ergreifen lässt, bleibt sie eine Sache das Glaubens, was sie aber mit dem Leben an sich gemeinsam hat. Friedell will damit sagen, dass der Glaube unabdingbar für das Studium der Geschichte ist; ohne ihn läuft das ganze Unterfangen auf die langweilig wie anstrengende Tautologie „Geschichte macht Geschichte“ hinaus (vgl. JP 64–73, 75–85).

„Gewiß, die Lehre Jesu, seine Gottessohnschaft, ja sogar seine Existenz: dies alles ist bis zu einem gewissen Grade eine Sache des Glaubens. Wer absolut will, kann an allem zweifeln. Die ganze Welt, ja mein eigenes Ich ist auch nur ein Glaube. […] Das war eben die ewige Tat, die Jesus vollbracht hat, daß er einer Menschheit, die bereits gelernt hatte, an allem zu zweifeln, zurief: ‚Zweifelt nicht! Diese Welt ist, und sie ist ein Werk Gottes. Alles ist, auch das Geringste und Niedrigste: die Ärmsten und Einfältigsten, die Kinder, die Sünder, die Lilien und Sperlinge – alles dies ist, wenn Ihr daran glaubt, wenn Ihr es liebt!‘“

(JP 75)

Die Mythentheorie muss, da sie die Ontologie der Individualität untergräbt, zu Trostlosigkeit führen. Man kann aber an allem eher zweifeln als an der Existenz der Person. Vollzieht man die historische Kritik nicht kritisch genug und bleibt auf halbem Weg stehen, kommt es zu Verkomplizierungen, und die

„verhalten sich […] wie törichte Eltern und Erzieher, die den Kindern […] antworten: das verstehst du nicht! Aber die Kinder würden es ganz gut verstehen, in ihrer Art, wenn die Lehrer nicht zu dumm und zu hochmütig wären, um es ihnen zu erklären. Was der wahre und eigentliche, der göttliche Sinn jedes Ereignisses ist, das ist freilich für Kinder ‚zu hoch‘, aber es ist auch für Erwachsene zu hoch“

(JP 83)

Damit sind nach Friedell aber auch die Evangelien als Quellen historisch-kritisch wieder aufzuwerten. Ihre Einfachheit bedeutet ihr Recht auf Individualität, die nicht ernst genommen wird, wenn sie durch komplizierte Kausalgeflechte wegerklärt werden, so wie es auch unseren Nächsten nicht genehm sein kann, wenn wir das Geheimnis ihrer Person durch Psychologisierungen wegerklären. Daher wird Friedell nicht müde zu betonen, dass vergangene Kulturen erst einmal in der Einfachheit ihres historischen Erscheinens gewürdigt werden müssen. Der mittelalterliche Mensch verließ die Bühne nicht, weil er eine neue Naturphilosophie entdeckte, sondern diese entstand, weil mysteriöserweise ein neuer menschlicher Geist auf die Bühne trat. Kulturgeschichte ist erst erkennbar, wenn sie sich konkret frei zu erkennen gegeben hat. Und sie tut dies ja, denn klar tritt eine barocke Eigenart auf; plötzlich ist sie da und plötzlich weg. Es verhält sich analog zur bildlichen Wahrnehmung, die definierte Formen a priori mit einem Augenblick erkennt: „Ist Geschichte alt genug geworden, um zur reinen Poesie zu kristallisieren, so spricht aus ihr unmittelbar das Wesen des Weltgeists, der niemals irren kann, das Wort Gottes; und in diesem Sinne ist die Bibel nicht nur das erhabenste, sondern auch das zuverlässigste Geschichtswerk der Weltliteratur.“ (KgN 941)

VI.

Die Einfachheit der Person prägt in der historischen Epistemologie sowohl das Erkenntnissubjekt wie das Erkenntnisobjekt. Wir denken Geschichte durch unser subjektives Interesse, und Geschichte denkt sich selbst anhand der Freiheit der Person. Das Erkenntnissubjekt erfasst das Ding an sich nur, insofern es dieses bezeugt und verkündet. „Sollte aber einmal ein Sterblicher die Kraft finden, etwas so Unparteiisches zu schreiben, so würde die Konstatierung dieser Tatsche immer noch große Schwierigkeiten machen: denn dazu gehörte ein zweiter Sterblicher, der die Kraft fände, etwas so Langweiliges zu lesen.“ (KgN 12) Friedell spricht mit I. Kants Ich‑Apperzeption von der „historischen Urteilskraft“ (Kulturgeschichte des Altertums,ed. Zürich 2009, 47). Dabei betrachtet Friedell sich selbst weder als Genie, Dichter noch Dilettanten in dem Sinne, dass er irgendwie Zusammenhänge überblicken und Begründungen allein in der Macht seiner Individualität finden kann. Er spricht sich für epistemologische Demut aus, und eben nicht etwa für das Gegenteil, das ja gerade darin liegen würde, ohne gedankliche Arbeit allein unter Berufung auf die geniale Autorität des Ichs Wissen zu behaupten.

So ist Friedell mehr vom Denken der Aufklärung als von jenem der Romantik geprägt. Denn entgegen der Romantik hat er wenig Interesse an Volksmythologien, wie wir im Gegenteil ja gesehen haben, wie es ein wesentlicher Aspekt seiner kulturhistorischen Christologie ist, gegen die mythische Interpretation des Leben Jesu zu argumentieren. Oft wurde Friedell ins Lager der Romantik kategorisiert, da seine Kulturgeschichte der Neuzeit eine Kritik gegen des Menschen rationalistische Selbstüberhebung artikuliert, wobei aber übersehen wird, dass Friedell von der Aufklärung derart fasziniert ist, das er mit einer humoristischen Zuneigung von tausendfünfhundert Seiten ihre Geschichte erzählt. Plakativ gesagt dichtet Friedell nicht, sondern schreibt enzyklopädische Prosa. Nach ihm erkennt nur die kritische und gebildete Historiographie die Wahrheit in der Geschichte, da nur sie in der Lage ist, die Freiheit der Geschichte zu erahnen.

Die ästhetische Geschichtsbetrachtung bindet sich bei Friedell wie bei Fr. Schiller an diesen Freiheitsgedanken der Aufklärung, von dem auch ein Gründungsdokument der idealistischen Geschichtsphilosophie zeugt: „selbst über Geschichte kann man nicht geistreich raisonieren – ohne ästhetischen Sinn. Hier soll offenbar werden, woran es eigentlich den Menschen fehlt, die keine Ideen verstehen – und treuherzig genug gestehen, daß ihnen alles dunkel ist, sobald es über Tabellen und Register hinausgeht.“ (Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus, ed. Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Werke, Bd. 1, Frankfurt a. M. 92019, 235. Einst Hegel zugeschrieben, heute umstritten) Kulturgeschichte ist nach Friedell damit nicht starke Politikgeschichte, sondern scheue Geistesgeschichte: „Die Erfolge der großen Eroberer und Könige sind nichts gegen die Wirkung, die ein einziger großer Gedanke ausübt.“ (KgN 24) Offensichtlich ist auch hier die Parallele zu GWF. Hegel: „Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jedes ein Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie, ihre Zeit in Gedanken gefasst.“ (Grundlinien der Philosophie des Rechts, ed. Hamburg 2009, 20) Aus dieser kritischen Kulturhistorik entwickelt Friedell nun seine Christologie.

„Die Wunder, die er tat, waren für die Auffassung jener Zeit nichts Außergewöhnliches und bei einer so machtvollen Persönlichkeit fast selbstverständlich. Daher kommt es, daß die Urchristen alle nicht von der Tatsache seines Lebens den Ausgang nehmen, sondern von der Tatsache seines Todes. Dieser war […] das unfaßbar Wundervolle und Grauenvolle, […] nicht erhöht über alle Menschen, als ihr Lenker, Lehrer und König, sondern grausam hingerichtet, […]: Da ergab sich nur die eine Antwort, in der sich alle christlichen Bekenntnisse, Lehren und Irrlehren, Kirchen und Sekten einig sind: Für uns hat diese grandiose Umkehrung in der Weltordnung stattgefunden, für uns Ungerechte hat der Gerechteste Unrecht gelitten […]! Bis zu jenem Punkte aber war das Leben Jesu ein friedliches Dorfidyll, selbst nicht ohne genremäßige Züge […]. Es enthielt keine dramatischen Momente, die einen Schilderer hätten reizen können, keine überraschenden, ‚Aufstiege‘, […] wie sie etwa das Leben eines Alexander oder Caesar aufweist; es vollzog sich überhaupt nicht im Glanzlicht der Weltgeschichte. Daß trotzdem in den Berichten über dieses einfache Landleben die Persönlichkeit mit so überwältigender, individuellster Besonderheit hervortritt, muß geradezu als ein Wunder bezeichnet werden.“

(JP 64f.)

VII.

Friedells Christologie geht also Hand in Hand mit seiner kulturhistorischen Methode, weshalb wir auf die inhaltlich-methodische Verflochtenheit des Faches Kulturgeschichte mit der Leben-Jesu-Forschung der neuzeitlich-modernen Aufklärung, die sich problemhistorisch besonders in der hegelschen Bildung niederschlug, aufmerksam gemacht haben. Dabei haben wir uns bisher auf Friedells propädeutischen Unterbau konzentriert, aber noch nicht auf seine Methode, das Leben Jesu nachzuerzählen. An den obigen Zitaten fällt auf, dass er das Leben Jesu aus verschiedenen kulturellen Kontexten beleuchtet. In der Tat ist dies auch das methodische Verfahren von DF. Strauß und der um sein Epochenwerk kreisenden Leben-Jesu Forschung. Nach Friedell ist der Geist aber nur in der „Kostümgeschichte“ (KgN 28) schauspielerisch, phänomenologisch zu erkennen. So ist Friedells Judastragödie seine kritisch-kulturhistorische Christologie, weil das Stückdas kulturhistorische Anliegen und Tun aufgreift, das wir nun im Jesusproblem als Aufklärung hegelscher Bildung erarbeitet haben, und dabei die methodisch- inhaltliche Weichenstellung bildet, die dann Friedells Kulturgeschichten prägen wird.

Das Stück erscheint 1920 und wird am 8. März 1923 im Burgtheater uraufgeführt. Es besteht aus 4 Bühnenbildern und einem Epilog. Die Handlung spielt zwischen Jesu Verhaftung und Auferstehung. Jesus selbst kommt nie vor. Auch Judas ist nicht so präsent im Stück, wie der Titel nahelegen würde. Die Hauptpersonen sind die Römer: Pilatus, der Legat Strobylus und die beiden Sekretäre Passienus und Lucilius. Erst nach ihnen kommen Judas, Kaiphas und Herodes, und erst nach diesen Andreas, Simon, Johannes und Maria. Das Stück lebt nicht von Handlungen, sondern von Dialogen, die die Ereignisse von Jesu Leben verklären und aufklären. Bedeutsam ist nun, dass diese Dialoge eine kulturhistorische Betrachtung über das Leben Jesu sind. Wie in der hegelschen Bildung geht es in Friedells Judastragödie und Kulturgeschichten um die Ideengeschichte. So deuten im Stück zwei sich in Judäa aufhaltende Peripatetiker die geheimnisvollen Ereignisse um sie herum:

„Zwei Peripatetiker: Der erste: Er [Jesus] hat Dämonen ausgetrieben? / Der zweite: In großer Anzahl. / Der erste: Es wird sich um gewöhnliche Epileptiker gehandelt haben. / Der zweite: Nein, es waren richtig Besessene. / Der erste: Ein übrigens auch bereits von Hippokrates vollständig aufgeklärter Prozeß. Was für Kuren hat er noch gemacht? / Der zweite: Lahmenheilung durch Handauflegung. / Der erste: Ein im wesentlichen auf Kontraktion der Säfte basierendes Vorgehen. Nach der Methode der kleinsten Teile. / Der zweite: Er ist aber doch ein höchst eigenartiger Kopf. Er hat doch tiefe und neue Gedanken. / Der erste: Ja, aber er spricht so einfach darüber, daß man fast glauben möchte, er versteht sie nicht. / Der zweite: Manches in seinen Reden erinnert an die Apopthegmaten des Timotheus von Agrigent. Was hältst du von diesem? / Der erste: Timotheus von Agrigrent? Ja, das – / (Sie gehen ab.)

(Die Judastragödie. In vier Bühnenbildern und einem Epilog, ed. Wien 1963, 51, fortan JT)

Und später schlendern die beiden wieder vorbei:

„Der erste: Du ersiehst aus alledem, daß das System des Timotheus von Agrigent durchaus nicht frei von Widersprüchen ist. / Der zweite: Das kann man aber von jeder Philosophie behaupten. / Der erste: Nicht von der meinigen. Sie enthält nichts, was sich kontradiziert. / Der zweite: Aber die Widersprüche des Lebens vermag sie doch nicht aufzulösen. / Der erste (gereizt): Das Leben! Das Leben ist ein Schwindel! / Der zweite (triumphierend): Also billigst du meine Lehre von der organischen Askese! / Der erste: Die Askese ist ein anderer Schwindel. / Der zweite (empört): Meine organische Askese! Dann will ich dir nicht länger verheimlichen, daß deine Auffassung vom Weltäther lückenhaft und kindisch ist! / Der erste: (außer sich): Was? Mein Weltäther? – / (sie gehen streitend ab.)

(JT 71)

Der nächste Textausschnitt greift auf Friedells Kulturgeschichte des Altertums vor, in der er anhand der ägyptischen, babylonischen, hebräischen und griechischen Kulturgeschichte nach dem Wesen Jesu fragt. Die Szene handelt nach Jesu Tod, als drei Wachen, ein Ägypter, ein Grieche und ein Römer an dessen Grab Wache halten, weil befürchtet wird, dass sich um seinen Tod respektive Grab herum ein Aufstand bilden könnte:

Wetterleuchten. / Römer: Jetzt nähert sich’s wieder. / Ägypter: Das ist ein anderes Gewitter. Es kommt von der anderen Seite. / Grieche: Der Himmel ist zusammengerollt wie ein Buch. (Ein ungeheures Knarren wird vernehmbar.) / Römer: Die erste Morgenstunde. Da öffnen sie das große Tempeltor. Die erste Morgenstunde! Und es ist Nacht. / Grieche: Es ist schon der zweite Morgen, daß die Sonne nicht aufgeht. / Ägypter: Derlei zählt bei uns in Pelusium zu den Gewöhnlichkeiten. Aber wir habe Beschwörer, die es bannen. Ihr Römer versteht das nicht. / Römer: Es ist eine der außerordentlichsten Erscheinungen. Niemand vermag sich an Ähnliches zu erinnern. / Ägypter: Ja, hier – und in Rom! Aber am Nil, wie gesagt, da ist es fast etwas Alltägliches. Asklepiades vermochte Nacht in Tag zu verwandeln. / Römer: Wie denn? Nacht in Tag? / Ägypter: Oder auch Tag in Nacht. Wenn er die Rechte ausstreckte, wurde die Sonnenkugel schwarz, wenn er die Linke ausstreckte, zerbrachen die Hörner des Mondes. Fast allen unseren Priestern ist dergleichen geläufig. Ihr könnt es nicht. Es ist darum, weil ihr keine Lichtgötter habt; zum Anrufen. / Römer: In der Schlacht am trasimenischen See wurde es auch plötzlich Nacht. Wir verloren deshalb die Schlacht. Es war aber Mars, unser Kriegsgott. / Ägypter: Ja, ihr Römer habt nur Kriegsgötter. / Römer: Wir brauchen keine anderen. / Ägypter: Überhaupt: – was versteht ihr von Religion? Wir haben die meisten Gottheiten. Wir haben zum Beispiel allein vielerlei Anubis. / Römer: Euer Anubis hat einen bellenden Hundskopf und kann nicht einmal lateinisch. / Ägypter: Aber dafür hat Osiris zehntausend Namen und ist der Vater aller heiligen Aale. / Römer (leckt sich die Lippen): Wir essen die Aale. / Grieche (empordeutend): O seht doch nach Westen! Steht dort nicht ein blutrotes Kreuz? / Römer: Wo? Am Himmel? Niemand sieht ein Kreuz. (Die drei starren angestrengt zum Himmel […]).“

(JT 81f.)

Wir sehen hier jene kulturhistorische Demut, die Friedell oben im Jesusproblem eingefordert hat. Jede Kultur hat ihren eigenen Erlebnis- und Deutungshorizont. Auch eine historisch-kritische Erforschung des Leben Jesu muss also kritisch mit ihrer eigenen epistemologischen Beschränkung umzugehen wissen. Friedell parodiert diese übliche Ignoranz an den drei Wachen, die ihre Kultur als geeichten Maßstab setzen. Eine kompetente Kulturhistorik muss sich also möglichst umfassend in die Erlebniswelt anderer Kulturen hineinbilden. Aus diesem Grund schätzt Friedell E. Renans Vie de Jésus (1863) mehr als die Resultate, welche die hegelsche Schule vorgelegt hat, sowie er generell eine von der Friedell-Forschung unbemerkte Sympathie für die französische Ideengeschichte zu Tage legt:

„Dabei ist das Werk keineswegs ‚belletristisch‘, wie hämische Nichtskönner bis zum heutigen Tage behaupten, vielmehr hochwissenschaftlich, ja viel wissenschaftlicher als das Straußische, weil es auf viel universellerer Bildung ruht. Renan war kein bloßer Vergleicher von Textbrocken und disputierender Hegelianer wie der Verfasser jenes Stuben- und Lampenbuchs, sondern ein Orientalist im umfassendsten Sinne des Wortes: Kenner aller kleinasiatischen Sprachen, Glaubensdialekte und Lebensformen, Archäolog, Geograph, Ethnograph, Folklorist, vor allem Psycholog. Und dazu kam noch seine ungeheure künstlerische Überlegenheit. Die Straußische Arbeit ist ein philologisch-dialektischer Sandhaufen, die seinige eine Porzellankostbarkeit“

(KgN 1186)

VIII.

Was können wir für dieses literarisch so bunte Phänomen Egon Friedell schießen? Dass bei aller Kritik am Rationalismus, die sich durch seine Kulturgeschichten zieht, bei allen literarischen Ausflüchten ins Reich der Ästhetik, hier dennoch ein ganz aufgeklärter Kulturhistoriker hegelscher Bildung am Werk ist. Denn Friedells kulturhistorische Christologie besteht im oben beschriebenen Rahmen der Aufklärung darin, dass er das Leben Jesu durch die verschiedenen Sichtweisen der seiner Bildung bekannten antiken Kulturen ansieht und dadurch diese Kulturen anhand seiner Christologie miteinander vergleicht. Es ist also die gleiche Frage und Methode wie bei der hegelschen Bildung. Friedell polemisiert gegen Strauß, weil dieser mit seiner eigenen Methode nicht kritisch genug umgeht. Zumindest Straußens kulturhistorische Bildung, Fleiß und Ernsthaftigkeit hätte er fairer beurteilen können. Friedells Polemik könnte aber auch einfach den Frust ausdrücken, dass die protestantisch-aufgeklärte Leben-Jesu-Forschung sich zu wenig auf das wesentliche Wunder Jesu fokussierte. Nach einer umfassenden Bildung in die antike Kulturgeschichte nämlich würde das Leid, das die Menschen damals auszutragen hatten, ins historische Bewusstsein treten. In der Judastragödie berichten drei von Jesus Geheilte von ihrer Erfahrung.

„Der erste: Mich hat er gehen gemacht. / Der zweite: Mich hat er sehen gemacht. / Der erste: Uns allen hat er geholfen, mir und dir und dir, und sich selbst hat er nicht helfen können. Wie ist das nur möglich? / Der dritte: Mich hat er hören gemacht. Das hätte er nicht tun sollen. Denn seit ich höre, weiß ich, daß mein Schwager mich auf dem Markte bestiehlt. / Der zweite: Seit ich mein Gesicht wieder habe, bemerke ich auch viel Übles, das mir früher unbekannt war. Aber ist das nicht doch das Bessere? Solange ich blind war, war ich glücklicher, das ist wohl wahr. Aber nun, da ich sehen kann, habe ich die Möglichkeit, weise zu werden, und das ist mehr als Glück. / Der erste: Als ich lahm war, haben mich alle beschenkt. Jetzt sagt mir ein jeder, ich soll arbeiten. / Der dritte: Ich weiß jetzt, daß mein Weib mich nicht liebt. Solange ich taub war, las ich nur in ihren Blicken, und mit den Blicken können Frauen leicht betrügen. Aber jetzt höre ich den Ton ihrer Stimme, und nun vermag sie mich nicht mehr zu täuschen. / Der zweite: Seit ich sehe, weiß ich von meinem Weib, daß sie es mit dem Palastwächter hält. Es war ein großer Schmerz für mich. Wenn ich blind geblieben wäre, hätte ich weiter an sie glauben dürfen. Aber wenn ich nicht sehend geworden wäre, hätte ich ihr dann verzeihen können? Und ist wissendes Verzeihen nicht mehr als blindes Vertrauen?“

(JT 86f.)

Die Historiografie wird sich immer wieder von Neuem die Frage stellen müssen, wie Geschichte überhaupt erkannt werden kann. Friedells kritische Kulturgeschichte hegelscher Bildung lehrt angesichts der protestantisch-aufgeklärten Leben-Jesu-Forschung, dass es die einfache, alltägliche, unscheinbare, individuelle Person ist, von der die Geschichte lebt. Diese findet aber weniger Eingang in die Archive. Die Armen schreiben ihre Geschichte wie Jesus in den Sand (Joh 8,6). Für die empiristische Geschichtsschreibung verwischt die Schrift, die kritische Kulturgeschichte zeichnet sie nach. Friedells Fazit zur Kulturgeschichte des Altertums lautet daher: „In diesen Tagen des Lasters und der Leere, da der Welt nur die Wahl gegeben schien zwischen dem Grab und dem Grauen, wurde in einer fernen, verachteten Provinz ein sonderbarer Mensch geboren. Der verstand von der Philosophie mehr als Plato und vom Erobern mehr als Alexander und erlöste diese Menschheit.“ (Der Schatten der Antike, ed. Gräfelfing 2020)


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  • Andreas Burri arbeitet am Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien als Universitätsassistent Prae Doc. Seine Forschung gilt der Kulturgeschichte der römischen Antike und der frankofonen Neuzeit sowie der Praxis und Theorie dieses Faches selbst in Neuzeit, Moderne und Gegenwart.