Religion, Kunst, Protest – Versuch einer Kontextualisierung der Ereignisse rund um die Zerstörung der Linzer Marienskulptur

Die Ereignisse rund um die Zerstörung der Skulptur „Crowning“ der Künstlerin Esther Strauß haben österreichweit und darüber hinaus hohe Wellen geschlagen. Der erschreckend frauenfeindliche Vandalismus – die Skulptur wurde drei Tage nach Ausstellungseröffnung von einem bislang unbekannten Täter geköpft, der Kopf gestohlen – wirft viele Fragen auf. Katharina Limacher und Jakob Deibl gehen einigen dieser Fragen nach.

Die Skulptur, um die es geht, trägt den Titel „Crowning“ (Krönung) und enthält damit einerseits eine Anspielung auf die Krönung der heiligen Maria, andererseits auf einen spezifischen Moment des menschlichen Geburtsvorgangs. Sie zeigt eine gebärende Maria, mit gespreizten Beinen auf einem Felsen sitzend, im Moment des Geburtsvorgangs, in dem das Köpfchen des Kindes bereits sichtbar, aber noch fest vom Körper der Gebärenden umschlossen ist. Ausgestellt wurde die Figur im Rahmen des Projektes „DonnaStage“, einem Format, das sich anlässlich des 100-jährigen Weihejubiläums des Mariendoms in Linz in Form von Installationen, Workshops und Diskussionsveranstaltungen explizit mit Frauenrollen, Familienbildern und Geschlechtergerechtigkeit befasst.

Das interdisziplinäre Team aus Theologinnen, Architektinnen und Kunsthistorikerinnen, welches das Programm in Kooperation mit der Diözese Linz kuratiert hat, formuliert sein Anliegen auf der Website[1] u.a. entlang folgender Fragen: Wie lassen sich heute Vorstellungen von Weiblichkeit, Männlichkeit, Geschlechtlichkeit formulieren? Was braucht es für eine Öffnung hin zu einer globalen Perspektive relationaler Verbundenheit und Verantwortlichkeit? Dass diesem Diskursangebot mit einer grausamen Form von Vandalismus eine Absage erteilt wurde, entfaltet seine symbolische Wirkmacht nicht zuletzt aufgrund spezifischer kontextueller Faktoren.

Der gesellschaftspolitische Kontext

Die Enthauptung der Skulptur im Ausstellungsraum wurde von ultrakonservativen Stimmen in einschlägigen Internetforen und via Telegram begleitet. So finden sich auf CitizenGo aktuell zwei Petitionen, die beide die Entfernung der Skulptur fordern – eine davon wurde von einer Privatperson initiiert, die andere von CitizenGo Österreich. CitizenGO ist eine transnational organisierte Stiftung, die 2013 gegründet worden ist und weltweit Onlinepetitionen initiiert. Hervorgegangen aus der spanischen Stiftung HazteOir, die sich, wie sie schreibt, für die „Verteidigung des Lebens, der Familien und der Freiheit in der ganzen Welt einsetzt“, hat auch CitizenGo eine klare politische Linie: Sie fällt auf nationaler und internationaler Ebene immer wieder mit Petitionen und ultrakonservativen Positionen im Themenbereich des Anti-Genderismus, also etwa der Ablehnung der gleichgeschlechtlichen Ehe oder dem Kampf gegen Selbstbestimmung bei Schwangerschaftsabbrüchen, auf. Die Stiftung beschreibt sich als Organisation der Zivilgesellschaft bzw. als Zusammenschluss zivilgesellschaftlicher Akteure. WikiLeaks-Dokumente aus dem Jahr 2021[2] enthüllten jedoch ein Beziehungsnetz zu rechtspopulistischen Parteien in Europa sowie die teilweise Finanzierung durch russische Oligarchen. Diese Strategie, sich den Anstrich der breiten Unterstützung einer Graswurzelbewegung zu geben, während tatsächlich große Geldgeber involviert sind, die versuchen, die öffentliche Meinung zu beeinflussen und elektorale und legislative Erfolge zu feiern, wird gemeinhin als Astroturfing bezeichnet.[3]

Der oder die Täter, die für den Vandalismus in Linz verantwortlich sind, konnten bisher nicht ermittelt werden. Allerdings wurde ein angebliches Bekennerschreiben auf dem Telegramkanal eines bekannten österreichischen Traditionalisten und Verschwörungstheoretikers veröffentlicht, der wiederum seinerseits durch eine ähnliche Protestaktion am Rande der Amazonassynode 2019 einem größeren Kreis von Katholikinnen und Katholiken bekannt wurde.

Somit stehen die Ereignisse in Linz erstmal nicht nur für sich. Sie sind Teil einer transnationalen Entwicklung, in der eine international gut vernetzte christliche Rechte vor dem Hintergrund einer sehr konservativen Auslegung christlicher Werte nach der Deutungshoheit über Geschlechterrollen und Familienbilder strebt. Zu diesem Schluss kommt auch ein von Neil Datta 2021 verfasster Bericht zuhanden des European Parliamentary Forum for Sexual & Reproductive Rights, der die normativen, wirtschaftlichen und politischen Motivationen ausgesuchter Akteure des Anti-Genderismus in Europa untersucht und dabei auch CitizenGo ins Visier nimmt.[4]

Ein anonymes Bekennerschreiben

Das elektronisch veröffentlichte anonyme Bekennerschreiben, an dessen Authentizität bislang nicht gezweifelt wurde, weist den Linzer Vandalismus als vorsätzliche Handlung aus religiöser Motivation aus. Es ermöglicht, das Geschehen besser einzuordnen. Offensichtlich handelt es sich um eine bewusste Intervention und nicht um einen Akt unkontrollierten Vandalismus unter Alkohol- oder Drogeneinfluss oder um eine verwirrte Tat. Die Motivation wird klar als religiös ausgewiesen; es sind keinerlei Anzeichen vorhanden, dass es sich um eine radikale künstlerische Geste handele, die ein Kunstwerk (in einem zugegebenermaßen brutalen Akt) überschreibt und damit selbst ein künstlerisches Statement setzt.

Der Akteur wird vom Betreiber des Telegramkanals als „Held von Linz“, „tapferer Katholik“, „aufrechter Kämpfer“ und „tapferer Mann“ geframed. Zwar verzichten die Medien, in denen das Bekennerschreiben verbreitet wird, weitgehend auf eine geschlechtergerechte Sprache und verwenden stattdessen generisch maskuline Formen, dennoch deutet die klare Bezeichnung als „tapferer Mann“ darauf hin, dass wir tatsächlich von einem männlichen Täter sprechen können, der auch als solcher gelesen werden will.

Abb. 1: Die Künstlerin Esther Strauß gemeinsam mit ihrer Skulptur vor der Beschädigung. © Ulrich Kehrer

In seinem Bekennerschreiben berichtet der „Held von Linz“, dass das Abschneiden des Kopfes der Statue lediglich eine Notlösung war, weil sich das Zersägen des Rumpfes als zu lärmintensiv erwiesen habe und zu lange gedauert hätte. Das weist nicht nur auf eine mangelhafte Vorbereitung im Vorfeld hin, sondern auch darauf, dass er bei seiner Aktion nicht auf Zuseher*innen und Zuhörer*innen gesetzt hat. Er wollte anonym bleiben. Unabhängig davon, wie man die Handlung beurteilt, verliert sie damit den Geschmack des Heldenhaften. In einem funktionierenden Rechtsstaat im öffentlichen Raum anonym einen Akt des Vandalismus zu setzen, hat nichts mit Heldentum zu tun, sondern fällt zumindest unter den Tatbestand der Sachbeschädigung. Demokratie und Rechtstaatlichkeit sind dadurch ausgezeichnet, dass sie andere Diskursformen kennen als Akte der Sachbeschädigung. Die Künstlerin Esther Strauß ist wie auch das Team, welches die Reihe „DonnaStage“ kuratiert, mit realem Namen in die künstlerische Aktion gegangen; der „Held von Linz“ verbirgt sich hingegen hinter dem Schleier der Anonymität. Demokratie und Rechtsstaatlichkeit leben jedoch davon, dass Menschen mit ihren Namen in die Öffentlichkeit treten.

Das Bekennerschreiben beginnt mit der Aussage, dass es dem Schreiber als einfachem Katholiken und Sünder nicht zustehe, „Aktionen unserer Bischöfe zu verhindern“. Daran hat er sich nicht gehalten. Wer katholische Strukturen ein wenig kennt, weiß, dass im Dom, der Bischofskirche, niemand eine Kunstaktion wie „DonnaStage“ veranstalten kann, ohne dass dies durch sämtliche Gremien der Diözese bis hinauf zum Bischof selbst gegangen ist. Dies gilt noch mehr, als es sich um ein Projekt im Rahmen des Hundertjahrjubiläums des Domes handelt, das auch wissenschaftlich breit begleitet wird. Davon zeugt etwa die von der Zeitschrift des Bundesdenkmalamtes herausgegebene ausführliche Publikation „Der Linzer Mariendom“ (ÖZKD LXXVII, 2/2023). Es handelt sich mithin um einen bewussten Schritt gegen die Hierarchie der Linzer Diözese.

Es ist im Übrigen ein bekanntes Muster, dass konservative Kreise Gehorsam gegenüber den Autoritäten nur dann einfordern, wenn sich deren Vorgaben mit ihrer eigenen Meinung decken. Wo dies nicht der Fall ist, wechselt man aus der Rolle des Gehorsamen in die des Propheten oder eben des Helden, der Zeichenhandlungen verübt. Diese Flexibilität in der Beanspruchung von Rollen ist ein typisch zeitgeistiger Gestus. Es gibt keine festen Werte und Rollen, alle sind verhandelbar und können beliebig gewechselt werden: Gibt es einen konservativen Papst, propagiert man die Romtreue als zentralen Wert; ist einmal die Autorität liberaler, als man das selbst wünscht, wechselt man in die Rolle des Widerstandskämpfers.

Innerkatholische Spannung

Die Frontstellung, die am Vandalismusakt im Linzer Dom sichtbar wird, ist nicht primär eine zwischen konservativem Katholizismus und liberaler säkularer Welt, sondern muss zunächst als eine innerkatholische gesehen werden. Sie spielt sich in einem Feld ab, das trotz schwindender Mitgliederzahlen nach wie vor durch eine große interne Diversität geprägt ist. Die neun Diözesen, über 3000 Pfarren und circa 200 Ordensgemeinschaften, die kirchlichen Wohlfahrtsorganisationen wie bspw. die Caritas und einige andere Institutionen mehr, bilden zusammen ein sehr diverses Feld katholischer Religion in Österreich. Nebst den Stimmen katholischer Traditionalist*innen und Extremist*innen zeichnet sich der Katholizismus in Österreich auch durch eine Vielzahl progressiver Stimmen aus.

Anders als beispielsweise das Punk-Gebet von Pussy Riot in der Christ-Erlöser-Kirche von Moskau 2012, war die Aufstellung der Statue „Crowning“ im Linzer Dom ein von der Hierarchie der Diözese Linz mitgetragener Akt der Selbstreflexion. Solche Formen einer gewandelten Gedenkkultur verlangen religiösen Organisationen viel ab, gibt es aber seit einiger Zeit auch an anderen Orten. Doch zurück: Beides, die Kunstinstallation wie ihre teilweise Zerstörung, sind Teil des Katholischen. Sie machen zunächst eine innerkatholische Spannung bewusst und zeigen das breite Spektrum, das religiöse Praxis umfassen kann. Das ist nicht neu; freilich stellt sich für eine religiöse Gemeinschaft dabei die Frage, zu welcher Seite sie tendiert.

Kunst, Religion, Protest

Abb. 2: Detail der Skulptur: Maria, die den Blick mit schmerzverzerrtem Gesicht zum Himmel richtet. © Ulrich Kehrer

Die christliche Tradition hat sich in den ersten Jahrhunderten ihrer Formierung dazu durchgerungen, dass eine bildhafte Darstellung des Heiligen nicht per se dem Bilderverbot (dem Verbot der Repräsentation Gottes in einem Kultbild) widersprechen muss. Auch wenn Gott nicht darstellbar ist, kann es Darstellungen Jesu, des Geistes, der Trinität, der Gottesmutter geben. Damit betritt man freilich ein gefährliches Terrain: Die Darstellung des Heiligen wird affirmiert, gleichzeitig begibt sie sich immer an die Schwelle des Prekären, des Problematischen, des Verbotenen. Welche Darstellungen sind unter welchen Umständen erlaubt? Diese Frage kommt in der christlichen Tradition nicht zur Ruhe und wird in unterschiedlichen Konfessionen anders gehandhabt (z. B. steht die reformierte protestantische Tradition bildhaften Darstellungen wesentlich kritischer gegenüber als die katholische). Immer wieder hat man bestimmte Formen der Darstellung problematisiert, z. B. die Darstellung der Trinität in der Gestalt von drei Männern. Immer wieder stellte sich die Frage, ob man durch Regelungen in den künstlerischen Schaffensprozess eingreifen kann: Sollen bestimmte Formen der Darstellung verboten werden oder soll gar ein Kanon an erlaubten Formen aufgestellt werden? Nie wurden solche Regelungen gänzlich eingehalten. Kann man Künste, die, wie Christoph Menke ausführt, eine auflösende Kraft jeder Form von Normativität haben, überhaupt dauerhaft einschränken? Immer wieder hat es überdies Formen des Bildersturmes gegeben, die mitunter viel Zerstörung bewirkt haben.

Zeitgenössische Kunst steht heute – ähnlich wie Religion – weithin im Zeichen des Verlustes allgemeiner gesellschaftlicher Bedeutung. Zumeist interessiert zeitgenössische Kunst nur ein Fachpublikum, dem gelegentlich ein elitärer Zugang vorgeworfen wird. Breitenwirksam ist sie nicht, ohne staatliche Förderungen kommt sie nur schwer aus. Auch das Maß der öffentlichen Provokation scheint weithin ausgeschöpft. Was vor wenigen Jahrzehnten noch als anstößig galt und Proteste auslöste, regt heute kaum mehr jemanden auf. Mit dem Vandalismus im Linzer Dom rückt nun, ohne dass es dafür staatlicher Förderungen oder einer ausgefeilten medialen Strategie bedürfte, ein zeitgenössisches, analoges Kunstwerk, das in einem Nebenraum eines Sakralbaus für nur etwa drei Wochen ausgestellt werden sollte, weit über die Grenzen Österreichs hinaus ins öffentliche Bewusstsein ein. Niemand hat so sehr dazu beigetragen, dass das Bild der gebärenden Maria in allen Medien gezeigt wird, wie der anonyme Vandale. Eine derartige Bekanntheit hätten weder das Kunstwerk „Crowning“ noch das Projekt „DonnaStage“ aus eigenen Mitteln erreichen können. Das Projekt lässt nun eine breite Resonanz erwarten. Für die in vielen Bereichen innovative Diözese Linz ist das, neben allen Problemen, auch eine Chance.

Der drastische Vandalismus und die Reaktionen darauf sind nicht zuletzt auch ein Beispiel für die Bedeutung von Emotionen im Kontext von Protesten und Mobilisierungsformen in der Gegenwartsgesellschaft. Das Gefühl der Verbundenheit spielt sowohl in der Ablehnung der Tat als auch bei den Befürwortern eine zentrale Rolle. Zusammen mit den beinahe endlosen Feedbackmöglichkeiten vernetzter Technologien entsteht hier für einen kurzen Moment eine Öffentlichkeit, in der dominante Narrative gestört und unterbrochen werden. Bereits ein kurzer Blick in die jüngere Vergangenheit zeigt, dass dies durchaus regelmäßig geschieht. Im März 2024 wurde eine Installation des Künstlers Gottfried Helnwein im Stephansdom aufgrund einer Petition von CitizenGO und zusätzlicher negativer Medienöffentlichkeit nicht wie geplant gezeigt. Und auch eine Inszenierung der Wiener Festwochen im Juni 2024 provozierte Kritik religiöser Exponent*innen.

Noch weitere Ereignisse lassen sich für die Betrachtung des Linzer Falls heranziehen: Als in den 1980er Jahren der österreichische Künstler Rudi Wach ein Kruzifix für die Innbrücke in Innsbruck schuf, kam es zu zahlreichen Protesten von Seiten christlicher Gläubiger, weil das Kunstwerk Christus ohne Lendenschurz, nackt mit angedeuteten Genitalien darstellte. Es gab Drohungen, man wolle das Kreuz, sofern es aufgestellt werde, in den Inn werfen. Der Künstler soll geantwortet haben, dass es dann sichtbar bleibe, weil es so schwer sei, dass es vom Fluss nicht fortgerissen würde. Das Kreuz wanderte schließlich ins Volkskundemuseum, wurde aber im Jahr 2007 – ohne größere Proteste – auf Betreiben von Bürgermeisterin Hilde Zach am vorgesehenen Platz aufgestellt. Wie bei „Crowning“ entzündete sich der Protest an einer Darstellung des Intimbereiches, beim Kreuz auf der Innbrücke allerdings bei einer männlichen Figur. Kreuzigung und Geburt hängen beide mit den Rändern des Lebens (Ende und Anfang) zusammen und sind Momente großer Verletzlichkeit. Können Darstellungen an diesen Rändern in besonderer Weise Protest auslösen?

In der im Jahr 2000 eingeweihten Donaucitykirche in Wien befinden sich abstrakte Kreuzwegbilder, die vom Architekten Heinz Tesar selbst entworfen wurden. In roter Farbe wurde – in einem anonymen Gestus – verteilt auf die Bilder in Worten eine Note des Protestes appliziert: „Out with this shit, this is absolutely nothing“. Ein danach angebrachtes Hinweisschild erklärt, dass es sich hierbei um eine nachträgliche Intervention handle; man habe entschieden, diese Verletzung des Kunstwerkes zu belassen, sie in gewisser Weise in das Werk aufzunehmen. Dies ist wohl im Fall der geköpften Maria nicht unmittelbar möglich. Die Beschriftung der Kreuzwegbilder erinnert an Street-Art-Graffiti-Kunst, die auch nicht selten die Grenze des Erlaubten überschreitet, aber dabei niemanden zu Schaden kommen lässt; der Akt des Köpfens – zumal einer weiblichen Figur – hat demgegenüber einen viel brutaleren Charakter und muss ganz andere Assoziationen auslösen.

Anspruch auf Deutungshoheit

Abb. 3: Die Skulptur auf ihrem Sockel in einem Nebenraum des Linzer Doms. © Ulrich Kehrer

Nicht unbedingt muss man die Installation im Linzer Dom gut oder schön finden. Danach verlangt sie nicht. Sie drängt sich aber auch nicht auf: Man muss in den Nebenraum, in dem sie platziert ist, schon bewusst eintreten, um sie zu sehen. Man muss um sie herumgehen, um die Figur als gebärende Maria zu identifizieren. Zu jeder Zeit konnte man im Linzer Dom beten, ohne die Figur anblicken zu müssen. Niemals war sie als dauerhafter Bestandteil des Domes angekündigt. Nur für wenige Wochen suchte sie dort gastlich aufgenommen zu werden, aber schon die bloß temporäre Anwesenheit als Gast schien manchen unzumutbar. Erstaunlich sind die Humorlosigkeit und der gänzlich fehlende Sinn für Ironie bei denen, die das gewaltsame Vorgehen gegen die Figur gutheißen. Hätte es nicht tausende Möglichkeiten gegeben, die Darstellung, die man ablehnt, zu ironisieren? Spannend wird sein, ob es den Anhänger*innen des „Helden von Linz“ gelingen wird, Menschen auf ihre Seite zu ziehen, die von zeitgenössischen Kunstinstallationen nicht viel halten und „Crowning“ nicht befürworten, aber selbst niemals einen Akt der Zerstörung verübt hätten. Wird es ihnen gelingen, diese Menschen in den Kulturkampf hineinzuziehen, den sie entfachen wollen, wie das Bekennerschreiben mit viel Pathos zum Ausdruck bringt: „So wie die Gottesmutter in Liebe alles für uns tut, so müssen wir ohne zu zögern alles für sie tun. Das beginnt bei Gebeten und endet, wenn nötig, mit unserem Leben“? Oder werden davon viele Leute abgeschreckt, für die mit martialischen Gesten wie der im Linzer Dom eine Grenze überschritten ist, auch wenn sie für künstlerische Interventionen wie „Crowning“ nichts übrighaben? Kann eine Maria dadurch von Blasphemie befreit werden, dass man sie köpft? Werden Leute, die jetzt den „Helden von Linz“ feiern, in den offenen Diskursraum einsteigen, welchen das Projekt „DonnaStage“ anbieten will?

Die Figur der Maria ist faszinierend und ambivalent: Während sie in vielen Teilen der Welt – gerade auch im Umfeld indigener Religionen, zu deren Pantheon starke Fruchtbarkeitsgöttinnen gehör(t)en – als wichtige weibliche Komponente des Christentums und Symbol feministischer Identifikation eine zentrale Stellung einnimmt, wird sie in unseren Breitengraden nicht selten als Symbol ultrakonservativer Werte vereinnahmt. Insbesondere die beiden Mariendogmen der Jungfräulichkeit und der unbefleckten Empfängnis prägen das konservativ-christliche Ideal von Weiblichkeit. Damit wird ein Frauenbild, welches mit Stärke und Schaffenskraft verbunden ist (nicht umsonst werden Wehen im Englischen als „Labour“ übersetzt!), dezidiert abgelehnt.

Vor dem Hintergrund patriarchaler Strukturen und der nach wie vor weit verbreiteten Gewalt gegen Frauen in Österreich, ist der an der Linzer Skulptur verübte Vandalismus ein drastischer Versuch, Deutungshoheit über Weiblichkeit im religiösen Kontext zu erlangen. Hieran wird klar: Es gibt gewisse Gesten – etwa die Enthauptung –, die nicht noch einmal Mittel für ein anderes, höheres Ziel sein können, das sie rechtfertigen würde.


Fußnoten:

[1] https://www.dioezese-linz.at/institution/418409/100jahremariendom/highlights/article/257002.html

[2] https://wikileaks.org/intolerancenetwork/tree/part-1, https://www.derstandard.at/story/2000128817724/neue-wikileaks-dokumente-ueber-netzwerk-fundamentaler-christen-mit-rechten-parteien

[3] Lo Mascolo, Gionathan/Stoeckl, Kristina (2023). The European Christian Right: An Overview. In: Gionathan Lo Mascolo (Eds.), The Christian Right in Europe (11-42). Bielefeld: transcript Verlag. https://doi.org/10.14361/9783839460382-002 , p.30

[4] European Parliamentary Forum for Sexual and Reproductive Rights (2021). Tip of the Iceberg. Religious Extremist Funders against Human Rights for Sexuality and Reproductive Health in Europe 2009 – 2018. Written by Neil Datta. Brussels. https://www.epfweb.org/sites/default/files/2021-06/Tip%20of%20the%20Iceberg%20June%202021%20Final.pdf


Photocredits: Titelbild und Abb. 1-3: © Ulrich Kehrer. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Diözese Linz


RaT-Blog Nr. 11/2024

  • Assoz-Prof. DDr. Jakob Helmut Deibl lehrt Theologie mit Schwerpunkt "Religion und Ästhetik" an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und ist wissenschaftlicher Manager des Forschungszentrums RaT.

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  • Dr. Katharina Limacher ist VDTR Programmmanagerin und Religionswissenschaftlerin an der Universität Wien.

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