Von 24. bis 26. September 2025 fand an der Universität Wien ein transdisziplinärer Workshop zu den Entwürfen des Homburger Foliohefts unter dem Titel „Ein seidnes Maas, des Entwurfes nemlich“. Hölderlin lesen: Entwürfe aus dem Homburger Folioheft statt. Der Workshop wurde im Rahmen des FWF-Projekts Gott in Anmuth[1] in Kooperation mit der Hölderlin-Gesellschaft und dem Forschungszentrum „Religion and Transformation“ organisiert und von Hölderlin Expert*innen von verschiedenen Universitäten und aus verschiedenen Disziplinen begleitet: Uta Degner (Germanistik – Universität Innsbruck), Richard Heinrich (Philosophie – Universität Wien), Elena Polledri (Germanistik – Università di Udine), Martin Vöhler (Germanistik, Alte Philologie – Freie Universität Berlin / University of Thessaloniki). Im Mittelpunkt stand die gemeinsame Lektüre der sogenannten Entwürfe des Dichters und Philosophen Friedrich Hölderlin. Die gemeinsame Lektüre wurde durch eine thematische Einführung in der Kunsthalle Wien im Rahmen der Ausstellung Burn The Diaries, Read Them Out Loud von Andrea Hubin eingeleitet.
Der Workshop sollte den Schlusspunkt des Projekts „Gott in Anmut“ bilden, dessen Ziel es war, das Hölderlin-Manuskript Homburger Folioheft aus einer ästhetischen Perspektive zu interpretieren im Sinne von Umberto Ecos Begriff des „offenen Werks“. Dafür wurde ein Lesekreis ins Leben gerufen, der zum Kern des Projekts wurde. Innerhalb dieses Kreises wurden die ersten sechs Gedichte des Manuskripts gemeinsam mit den Teilnehmer*innen diskutiert.
Diese ersten sechs Gedichte, die sich durch ihre Komplexität sowie durch zahlreiche Änderungen, Anmerkungen und Überarbeitungen auszeichnen, konnten zwar ausführlich analysiert werden, doch sie stellen nur einen kleinen Teil des gesamten Manuskripts dar – genauer gesagt, lediglich das erste Drittel (32 von 92 Seiten). Daher entstand die Idee, den verbleibenden Gedichten im Rahmen eines Workshops Raum zu geben, um neue Perspektiven für die Forschung zum Homburger Folioheft zu eröffnen.
Zum ersten Mal wurden diese Gedichte von Friedrich Beißner unter dem Titel „Hymnische Entwürfe“ in der Stuttgarter Hölderlin-Ausgabe veröffentlicht.[2] Diese Texte, die in der Hölderlin-Forschung bisher wenig Beachtung gefunden haben, könnten eine neue Herangehensweise an das gesamte Folioheft ermöglichen. Da bereits die Analyse der ersten sechs Gedichte des Manuskripts es ermöglichte, zentrale und komplexe Themen in Hölderlins Werk zu untersuchen – etwa das Verhältnis zwischen ästhetischer Sprache und der Gottesfrage –, so erweitern die Entwürfe diese Perspektive und eröffnen neue Themenfelder, darunter Natur („Wenn aber die Himmlischen…“), Helden („Kolomb“), Politik („dem Fürsten“), Institutionen und Kirchen (Luther / „der Vatikan…“) sowie Erinnerung („Mnemosyne“), um nur einige Beispiele zu nennen.[3]
Was bedeutet es, einen Entwurf zu lesen? Die Polyphonie des Unvollendeten
Im Alltag entstehen fortwährend Entwürfe: Skizzen, Notizen, unfertige Mails, angefangene Ideen. Ein Entwurf ist ein nicht realisiertes Projekt, ein tastender Versuch, der noch nicht durch den Gestaltungswillen des Autors bestätigt wurde. Im Deutschen schwingt im Wort „Entwurf“ das „Werfen“ mit: ein Wurf in die Möglichkeit, etwas Vorläufiges, das Reifung erwartet. In einem Entwurf zeigt sich oft das Fehlen einer festen Intention. Die Autorschaft ist instabil, noch nicht festgelegt. Einen Entwurf zu lesen, bedeutet daher, die Vorstellung eines klaren, intentionalen Autors zumindest zeitweise zu suspendieren. Und doch sucht man – fast zwangsläufig – nach einem Gemeinten. Wie lässt sich ein Dichter lesen, dessen poetisches Ich so zentral ist, wenn gerade seine Entwürfe dieses Ich unterlaufen oder auflösen?
Das Homburger Folioheft wirkt wie eine Schreibwerkstatt. Doch die dort versammelten Entwürfe sind nicht die einzigen Spuren eines poetischen Denkens im Werden. Hölderlins gesamte Hinterlassenschaft ist durchzogen von Varianten, Korrekturen, Ergänzungen. Man könnte seine Werke insgesamt als eine große Notation verstehen – als ein Schreiben, das im Übergang verharrt und im Prozess des Schreibens selbst seinen Wert gewinnt.
Natürlich sind die im Workshop analysierten Entwürfe nicht die einzigen Spuren eines solchen Verfahrens. Es gibt immer wieder Anmerkungen und Überarbeitungen in Hölderlins Texten. Der Entwurf selbst erlaubt es, die Auseinandersetzung mit Hölderlins Werk nicht als Suche nach einer abschließenden These zu begreifen, die das Gemeinte des Dichters zusammenfasst, sondern als eine genealogische und in gewisser Weise dekonstruktivistische Arbeit, die sich aus der Beschäftigung mit den Texten ergibt.
Daraus resultiert die methodologische Frage: Wie spricht man über einen unfertigen Text? Ist es sinnvoll, aus Fragmenten klare Entscheidungen des Autors herauszuarbeiten? Im Workshop zeigte sich, dass das gemeinsame Lesen selbst zu einer Art Entwurf wird: Jede Stimme eröffnet neue Sinnlinien, jede Interpretation verschiebt die vorherige. Ein „offenes Kunstwerk“ ist ein Sprachraum mit mehreren Ausgängen, in dem jede Leserin und jeder Leser eine mögliche Richtung einschlagen kann.
Das Lesen eines Entwurfs verlangt zugleich die Dekonstruktion des eigenen Lesens. Die Unfertigkeit des Textes erzeugt eine Begegnung mit dem Anderen: mit Möglichkeiten, die man nicht vorhergesehen hat, mit Unsicherheiten, mit der Vielstimmigkeit des Interpretierens.
Die Natur, das Maß und das Aorgische des Entwurfes
Der Titel des Workshops ist ein Zitat aus dem Entwurf „Viel hab’ ich dein…“, auch bekannt als An die Madonna: »Ein seidnes Maas, des Entwurfes nemlich« (HF 65, 18). Das Zitat fasst eine der zentralen Fragen des Workshops und des Projekts zusammen: Wie ist dieses Maß, eine prekäre und fragile „Maßgebung“, zu verstehen? Handelt es sich bei dem, was Hölderlin in An die Madonna schreibt, um eine Kritik an einem zu schwachen Maß, das Gefahr läuft, zu zerbrechen? Oder wird das seidene Maß vielmehr zu einem Ansatz, den traditionellen Begriff von Maß neu zu denken?[4]
Diese neue Interpretation des Maßes war auch Gegenstand der Einführung von Elena Polledri sowie der von ihr geleiteten Diskussion über den Entwurf „Wenn aber die Himmlischen…“. In diesem Text thematisiert Hölderlin Natur, Ordnung und das Aorgische – ein Thema, das auch im hymnischen Fragment die Titanen behandelt wird. Dort stellt sich die Frage, ob das Aorgische tatsächlich maßlos ist oder ob es eine eigene, andersartige Ordnung in sich trägt. „Wenn aber die Himmlischen…“ kann als eine Art Antwort oder Kontrapunkt zur Unordnung der Titanen aus der Ordnungsperspektive der Himmlischen gelesen werden. Ist die aorgische Kraft der Natur in sich maßlos? Oder liegt in ihrer Kraft, die leicht korrumpierbar ist, weil sie ohne Ordnung zu sein scheint, bereits ein Maß? In „Wenn aber die Himmlischen…“ zeigt sich genau diese Möglichkeit: die Präsenz eines verborgenen Maßes innerhalb des scheinbaren Chaos.
Ein neues Maß entsteht – ein zartes Maß, das nicht aus fertigen Formen hervorgeht, sondern aus dem Unvollständigen der Natur selbst. Die Natur erscheint hier nicht als abgeschlossenes Projekt, sondern als Entwurf: nicht durch fixierte Idealstrukturen bestimmt, sondern durch ein freies Spiel des Einen mit dem Vielen. Dieses neue Verständnis von Maß entspringt der Ordnung, die der Entwurf selbst in seiner Sprachform hervorbringt.
Wie bereits zu Beginn erwähnt, ist der Entwurf eng mit dem Bild des Wurfs verbunden – des „Werfens“. Wenn Hölderlin in Patmos mit »was ist diß?« (HF 25, 20) nach der Bedeutung des Eintritts Christi in die Geschichte und des Verschwindens der Götter fragt, antwortet er: »Es ist Wurf des Säemanns« (HF 25, 21). Die Prekarität des Samens – das Nichtwissen, welche Früchte er tragen wird – erinnert an eine andere Metapher in „Wenn aber die Himmlischen…“: »den Garten« (HF 48, 24). Dieser Garten ist ein Ort der »Irre« (HF 48, 24), der Verwirrung, aus der der Mensch jedoch herausfinden kann, indem er der Stimme des Dichters folgt. Es gibt einen Entwurf, einen instabilen Wurf, und zugleich das Bewusstsein von Scheitern, Irrtum und dem Bösen – im Sinne der Theodizee. Doch in diesem Garten, in dem das Böse existiert, ist es dennoch möglich, das Gute, das Eine, zu finden, indem man den Zeichen der Himmlischen folgt. Der Garten, über den im Workshop ausführlich gesprochen wurde, ist ein Bild für dieses Denken: eine Ordnung, die nicht fixiert ist, sondern wächst, vergeht und sich wandelt. So zeigt sich die Präsenz eines neuen Maßes – des Maßes des Entwurfs – in seiner Prekarität.
Die Natur wird dadurch selbst zum Entwurf und nicht zum Projekt. Sie steht in Beziehung zu einem Schöpfer, der «scherzet» (HF 48, 11). Die Natur ist nicht durch starre, ideale Strukturen bestimmt, sondern durch ein freies Spiel des Eins-Alles mit den einzelnen individuellen Teilen.
Schluss: Autor und Leser*innen als Editoren
Im Umgang mit Entwürfen verschieben sich die Rollen von Autorenschaft und Leser*innen. Der Autor erscheint weniger als Schöpfer eines abgeschlossenen, sondern vielmehr als Editor seines eigenen Werks: auswählend, probierend, korrigierend. Das Gleiche gilt auch für die Leser*innen, die – ob bewusst oder unbewusst – selbst zu Herausgeber*innen werden: Jede Lektüreentscheidung ist eine Setzung, die vorläufig bleibt. Hölderlins Entwürfe fordern ein Denken, das Entwurf bleibt. Nicht das fertige, geschlossene Werk spricht am stärksten, sondern die Bewegung auf ein mögliches Werk zu – die Offenheit, das Werden, die Form, die noch im Entstehen ist.
Daher bleibt die Frage: ist das seidene Maß die Natur des Entwurfes?

Fußnoten:
[1] Das Projekt trägt den Titel „Gott in Anmuth. A Reading of Hölderlin’s Homburger Folioheft from an Aesthetic Point of View“ und wurde vom FWF – Austrian Science Fund (P 36887-G) finanziert.
[2] Vgl. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke, Bd. 2, hrg. von Friedrich Beißner, Kohlhammer Verlag, Stuttgart 1951.
[3] Vgl. Emery E. George, Homburger Folioheft. In: Johann Kreuzer (hgr.): Hölderlin-Handbuch, Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2011, S. 379–394.
[4] Vgl. Elena Polledri, “… immer bestehet ein Maas”: der Begriff des Maßes in Hölderlins Werk, Königshausen & Neumann Verlag, Würzburg 2002.
RaT-Blog Nr. 21/2025
Photocredits: Titelbild bearbeitet von Noemi Call, Abbildung 2: (C) Andreas Telser