Die Sprache der Spiritualität tauber Christ/innen

Die Hamburger Gebärdensprachlerin Siggi Kirch (im Bild) und der Wiener Liturgiewissenschaftler Pre­drag Bukovec stellen sich der Frage, wie taube Christ/innen im Gottesdienst nicht mehr als ka­ritative Betreuungsobjekte verstanden, sondern als mündige Glaubenssubjekte und aktiv Teilnehmende im Sinne der Li­turgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils einbezogen werden können.

Was die katholische und evangelische Gehörlosenseelsorge bereits seit ca. 100 Jahren berücksichtigen, wird in der theologischen und liturgischen Wissenschaft bislang kaum thematisiert: Der aktive Glaube an Gott steht nicht im direkten Zusammenhang mit dem medizinisch verstandenen Hörvermögen, auch wenn dem Gehör in vielen wichtigen Texten der Bibel eine prominente Funktion zugewiesen wird (z. B. das „Höre Israel“ als jüdisches Glaubensbekenntnis in Dtn 6,4 oder Jesu Rede „Wer auf Mein Wort hört und glaubt“ in Joh 5,24).

Auch die Liturgie misst dem auditiven Horizont der ästhetischen Erfahrung eine hohe Bedeutung bei: Das Wort Gottes wird verlesen, die Predigt gesprochen, das Eucharistische Hochgebet laut vorgetragen. Von gehörlosen Menschen wird jedoch die für sie exklusivistische Forderung, auf das Wort Gottes zu HÖREN, oftmals eher als eine diskriminierende, nicht erfüllbare Leistung denn als Einladung in die christliche Gemeinschaft wahrgenommen. Mangelnde Sensibilität kann zu tiefen Verletzungen und zur Distanzierung von der Kirche führen:

„Wenn Hören, genauer gesagt: das Hören des Wortes Gottes ein zentrales Motiv in der Bibel sein soll, dann hat Gott hörgeschädigten Menschen nur eine bruchstückhafte oder gar keine Botschaft zu verkünden. Mehr noch: Hörgeschädigte Menschen wären – wie sehgeschädigte auch – nicht Ebenbild Gottes“ (Bruhn, Lars und Homann, Jürgen: Wunder im Wandel – Theologie und Kirche zwischen Diskriminierung und Inklusion. In: Das Zeichen 98/2014, 388-397, 388).

Mit Beginn der sprachwissenschaftlichen Erforschung der Gebärdensprachen in den 1960er Jahren durch den US-amerikanischen Linguisten William Stokoe setzte in der Gesellschaft eine zunehmende Akzeptanz der natürlichen und einzig möglichen Sprachen tauber Menschen ein. Im deutschsprachigen Raum kam in den 80er Jahren die linguistische Gebärdensprachforschung auf. Während diese jedoch auf die Zustimmung des größten Teils der gehörlosen Community („Gebärdensprache ist Menschenrecht!“) und der hörenden akademischen Welt trifft, nimmt der Bereich religiöser Gebärdensprachen eine intersektionale Position ein: Taube Menschen benötigen mehr noch als Hörende viel Mut, um sich innerhalb ihrer Community als gläubig zu bekennen, da das Bekenntnis zu Gott und der Kirche leicht als Verrat am Schicksal gehörloser Menschen in der ambivalenten und oft auch beschämenden Geschichte der Gehörlosenseelsorge bis in die 1970er Jahre verstanden wird. Einen Eindruck erhält man durch die Autobiographie des taubblinden Diakons in der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Peter Hepp (Die Welt in meinen Händen. Berlin 2007). Jüngere Studien zeigen trotz dieser Konfliktsituation auf, dass viele taube Menschen auch jüngeren Alters einen starken Wunsch nach kirchlicher Einbindung verspüren, diesen jedoch nur dann wirklich erfüllt sehen, wenn der Gottesdienst gebärdensprachlich gehalten wird.

Eine von uns im gesamten deutschsprachigen Raum durchgeführte Umfrage bei den Gehörlosenseelsorgeeinheiten in den Diözesen ergab, dass die Gebärdensprachkompetenz der für die Gehörlosengemeinden Zuständigen als dringend ausbaufähig zu bezeichnen wäre: Von 22 Ansprechpersonen (8 Pfarrer, 2 Diakone, 4 Pastoralreferent/innen) gaben etwa 30 % der Befragten an, über eine gute DGS-Kompetenz zu verfügen, fast 40 % verfügen über eine geringe Kenntnis, 30 % beherrschen keine DGS.

Die Diskrepanz zwischen dem Bedarf an kirchlicher Teilhabe gehörloser Christ/innen und der geistlich-personalen und sprachkompetenten Fürsorge mündet in eine weitere Problematik, die sich an den Generationsunterschieden unter tauben Menschen aufzeigen lässt: Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene nutzen heute selbstverständlich ihre nationale Gebärdensprache. Der Gebrauch von LBG (Lautbegleitende Gebärden) ist ihnen fremd. Die Generation der Erwachsenen und älteren Menschen bis ca. 60 ist stark politisch sozialisiert durch den Kampf um das Recht auf angemessene Bildung und Nutzung der Gebärdensprache. Der Großteil dieser Altersgruppe ist aufgewachsen mit einer oralistisch forcierten Pädagogik und hat dagegen ein Identifikationsbild als sprachliche Minderheit entwickelt, das eine Ablehnung von LBG nach sich zieht. Die Ü-60-Generation ist noch stark lautsprachlich geprägt, viele haben gar die Beschlüsse des Mailänder Kongresses (1880) internalisiert und betrachten DGS als eine nicht angemessene Sprachform für den Gottesdienst. So erklären sich zum Teil auch die Umfragewerte, nach denen etwa 70 % der gehörlosen Gottesdienstteilnehmer/innen über 60 Jahre alt ist und nur 6,5 % unter 30.

Bislang gibt es keine einheitliche Liturgie mit und für taube Katholik/innen. Wohl ist 1970 aus einer Zusammenarbeit der IAG mit der Arbeitsstelle Behindertenseelsorge der Deutschen Bischofskonferenz zunächst das Hochgebet für Gehörlose (1972 in der Schweiz in leicht modifizierter Form) sowie 1980 eine Studienversion für verschiedene Sakramente und Kasualien entstanden. Ein solches Vorhaben war damals in der Katholischen Kirche weltweit eine enorme Pionierleistung und drückte die zunehmende Wahrnehmung der besonderen Bedürfnisse gehörloser Mitglieder aus. Jedoch fand der damaligen Zeit entsprechend die Gebärdensprache keine Berücksichtigung. Das Manuale von 1980 ist aufgrund der enormen Fortschritte in den letzten Jahrzehnten veraltet und erscheint auf die heutige Situation tauber Christ/innen kaum noch anwendbar. Es war ursprünglich auch primär für das schulische Umfeld verfasst und orientiert sich sprachlich an liturgischen Formularen für Kinder.

Um einige Beispiele zu nennen:

  • Mangels besseren Wissens wird darauf verwiesen, dass taube Menschen „keine Muttersprache“ hätten und dass „bei solchen Gehörlosen der Sprachbesitz nach Wort- und Formenbestand am Ende der Schulzeit in der Regel den Höchststand“ erreicht hätte. Die Texte sind für die Lautsprache verfasst, sollen „auf einem für ihre Verhältnisse mittleren Sprachniveau ansprechen mit Worten, die möglichst leicht vom Munde ablesbar, und mit Sätzen, die möglichst kurz und überschaubar und leicht verständlich sind.“ Nur am Rande wird ein Hinweis gegeben, wonach im Idealfall ein Gehörlosenseelsorger bei der Spendung der Sakramente anwesend sein sollte, um beim Ablesen zu assistieren und ggf. in Gebärden zu übersetzen.
  • Bei der Trauung wird von den gehörlosen Brautleuten gefordert, ihren Konsens lautsprachlich und für Hörende vernehmbar zu äußern.
  • Im Hochgebet fehlt eine Epiklese, obwohl seit der Liturgiereform die Anrufung des Heiligen Geistes über Gaben und Gemeinde vorgeschrieben ist. Bei der Erstellung der Textvorlage befürchteten die (hörenden) Verantwortlichen, dass die dritte göttliche Person von tauben Menschen als „Gespenst“ missverstanden werden könnte; die Gebärdensprache unterscheidet jedoch sehr wohl. Weiters kommt hinzu, dass die Opfertheologie des Hochgebets das theologisch Zumutbare überschreitet, wenn etwa in der Anamnese davon die Rede ist, dass „wir dir seinen Leib und sein Blut opfern“. Auch taube Gläubige haben ein Recht auf eine theologisch ausgereifte Liturgie, die sie nicht infantilisiert und Glaubensinhalte verkürzt. Dennoch wird dieses Hochgebet laut unserer Umfrage von etwa 50 % der Befragten eingesetzt. Die andere Hälfte der Gemeinden bevorzugt das Zweite Hochgebet mit jeweils eigenen gebärdensprachlichen Übersetzungen.

Im Laufe der letzten Jahrzehnte sind im deutschsprachigen Raum verschiedene produktive und vielversprechende Initiativen entstanden, Gottesdienst mit Gehörlosen zu feiern. Sie kommen aus den Erfahrungen in der Pastoral, nehmen die Bedeutung der Gebärdensprache ernst und gehen neue Wege in der Liturgiegestaltung (u. a. die prinzipielle Einbeziehung der Gläubigen bei Vorbereitung und Feier, Visualisierung der Liturgie, thematische Gottesdienste mit einem roten Faden, Anleihen aus der Symboldidaktik usw.). Diese Erfahrungen gilt es in der Liturgiewissenschaft zu reflektieren und in den Diskurs einzubringen, denn gerade dieses Thema bietet auch für die Liturgie insgesamt wichtige fundamentaltheologische Impulse, um grundlegende Aspekte des Gottesdienstes zu überdenken.

Zur oben gezeigten Fotoserie:

Momentaufnahmen der DGS-Gebärde für GLAUBE (im Kontext des christlichen Glaubens); (Quelle RELEX)
Signerin: Siggi Kirch (hd)

 Erläuterungen: Für das Wort „Glaube“ existieren mindestens vier verschiedene Gebärden, die sich teils dialektisch und teils semantisch unterscheiden. Die Schreibweise für die lautsprachlichen Begriffe, für die Gebärden stehen, hat sich in Kapitälchen konventionalisiert, um zu verdeutlichen, dass es kaum Eins-zu-Eins-Übersetzungen zwischen Deutsch und Deutscher Gebärden Sprache (DGS) gibt. Die angeführte Quelle der Gebärde, das RELEX,  ist ein mittlerweile veraltetes katholisches Gebärden“Lexikon“ (etwa 620 Gebärden), das aber angesichts der ansonsten spärlichen Existenz entsprechender Werke noch in Verwendung ist.


Rat-Blog Nr. 10/2018

3 thoughts on “Die Sprache der Spiritualität tauber Christ/innen

  1. Hallo, Fr. Kirch,

    ich freue mich, endlich ein wenig über Ihre Untersuchung zur Liturgie in Gehörlosengottesdiensten lesen zu können. Haben Sie das auch irgendwo veröffentlicht oder kann man die Ergebnisse noch irgendwo Schwarz auf Weiß lesen? Ich fand es schon sehr wichtig, sich des Themas anzunehmen. Ich möchte allerdings nicht verhehlen, dass sich alle Bebochachtungen mit meinen Erfahrungen decken. Dass generell so ein klarer Bruch zwischen Gehörlosen verschiedener Generationen (DGS – /bzw. LGB – geprägt) zu ziehen wäre – auch hinsichtlich der kirchlichen Bindung, kann ich so nicht bestätigen. Mir scheint, dass bei Distanzierung von Kirche häufig biographische Brüche, wie Trennungen oder Umzüge eine Rolle spielen. Ich möchte Ihr Argument aber nicht vollkommen negieren: sicherlich überlagern sich dabei auch verschiedene Momente. Andererseits blenden Sie gesamtgesellschaftliche Entkirchlichungsprozesse aus: die spielen natürlich in der Lebenswelt tauber Menschen in gleicher Weise eine Rolle.
    Sicher ist vieles, was in unserer Seelsorgearbeit praktiziert wird, verbesserungsbedürftig: auch und vor allem DGS-Kompetenz (auch meine eigene …). Aber schon die Fortbildung auf diesem Gebiet gestaltet sich (zumindest für mich persönlich) als schwierig. Klar – verwenden wir ein veraltetes Gebärdenlexikon und z. T. noch ältere Fachbücher. Wir schöpfen aber hier nicht „aus dem Vollen“: finanziell, personell, und müssen häufig mit Provisorien arbeiten.Vielleicht gelingt es ja doch einmal, Ihre Beobachtungen mit Mitgliedern der Gemeinschaften tauber Menschen in Österreich oder Deutschland, ihren Vereinen und/oder den seelsorglich Aktiven zu diskutieren?

  2. Liebe Frau Kirch!

    Vielen Dank für diesen Artikel.

    Als Gemeindereferentin erlebe ich in unseren Gemeinden kaum bis niemanden mit Hörbehinderung oder Gehörlosigkeit. Dabei gibt es zunehmend Menschen mit Hörgeräten. Aber es wird nicht angesprochen.

    Da die Gemeinden immer noch als erster Kontakt mit der Kirche und dem eigenen Glauben wahrgenommen werden, ist das ein fataler Fehler. Aber es macht mich ratlos. Was können wir ändern? Wie können wir weitermachen?

    Sie machen selber Vorschläge. Nach meiner Erfahrung hängt der „Erfolg“ davon ab, ob die Anliegen Hörbehinderter und Gehörloser überhaupt wahrgenommen werden. Ich kann gut nachvollziehen, dass man irgendwann die Geduld verliert und eigene Wege geht. Was können wir von Seiten der Kirche da tun?

    Mit freundlichem Gruß,
    Dorothee Janssen

  3. Hat dies auf Asnide rebloggt und kommentierte:
    „Eine von uns im gesamten deutschsprachigen Raum durchgeführte Umfrage bei den Gehörlosenseelsorgeeinheiten in den Diözesen ergab, dass die Gebärdensprachkompetenz der für die Gehörlosengemeinden Zuständigen als dringend ausbaufähig zu bezeichnen wäre: Von 22 Ansprechpersonen (8 Pfarrer, 2 Diakone, 4 Pastoralreferent/innen) gaben etwa 30 % der Befragten an, über eine gute DGS-Kompetenz zu verfügen, fast 40 % verfügen über eine geringe Kenntnis, 30 % beherrschen keine DGS.“

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