Die Fotografin Ines Mahmoud stellt ihr Bild „Between broken light“ als Titelbild für den neu erscheinenden Band zur Verfügung.
Anlässlich der Neuerscheinung von Band 15 der RaT-Buchreihe fragt Astrid Mattes, wie und wozu wir Wissen über den Glauben junger Menschen schaffen.
Wissen über den Glauben junger Menschen schaffen
Warum wollen wir wissen, was junge Menschen glauben? Säkularisierungsprozesse in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben gezeigt wie schnell religiöse Landschaften sich wandeln können. Die angebliche „Rückkehr der Religionen“, die auf deren postulierten Untergang folgte, zeigt wie wenig Verständnis die Wissenschaft für diese Veränderungsprozesse hat. Für ReligionsforscherInnen ist ganz klar, dass die Zukunft religiöser Entwicklungen an jungen Menschen liegt und hier rasante Veränderungen stattfinden.
Wenn nun von Entwicklungen unter jungen Menschen die Rede ist, schwingt nicht selten ein gewisser Kulturpessimismus mit. Die überlieferten Beispiele dafür reichen zurück bis in die Antike, etwa zu dem Sokrates zugeschriebenen Befund, das die Jugend von damals verlottert sei, und finden sich mit erstaunlicher Ähnlichkeit bis in die Gegenwart. Pessimistisch oder zumindest sehr skeptisch wird darum auch immer darauf geschaut, was junge Menschen glauben und wie sie ihren Glauben leben.
Wenn in den 1990er Jahren „Jugendsekten“ das religiöse Sorgenkind von Politik, Schule und Gesellschaft waren, ist es 20 Jahre später die „Generation Haram“ oder im Extremfall „Foreign Fighters“. Da wie dort, werden junge Menschen oft allzu pauschal, als für radikale Ideen empfänglich, von religiösen Extremisten überführbar verstanden. Ihr Schutz ruft auch heute Politik und Pädagogik auf den Plan und stellt nicht selten Minderheitenschutz hintan um den drohenden moralischen Verfall aufzuhalten.
Politisierte Religion und Super-Diversität
Wie aber sollen junge Menschen zu Religion stehen, oder vielleicht besser zu Religion finden? Ist nicht die Suche durch Anecken Teil des Erwachsenwerdens? Ist es überhaupt sinnvoll, Generationenbefunde auszusprechen? Und: wie verändert sich die Aushandlung religiöser Identität in einer Gesellschaft, die nicht nur immer säkularer, sondern gleichzeitig auch religiös pluralistischer wird? Während Generationen vor ihnen noch in weitreichender Selbstverständlichkeit eine kirchennahe oder kirchenferne Position im „katholischen Österreich“ beziehen konnten, wird die Situation für junge Menschen heute zunehmend komplexer. Für jene Jugendlichen, bei denen sich eigene oder elterliche Migrationserfahrung mit einer religiösen Minderheitssituation vermischen, eröffnet die Frage nach der eigenen Religiosität zudem eine ganze Reihe von Prozessen der Identifikation.
Zugehörigkeit zu verhandeln, ist dabei ein zentrales Element der Auseinandersetzung mit Religion und Politik. Insbesondere dann, wenn Grenzen der Zugehörigkeit auch im politischen und medialen Diskurs über Religion gezogen werden. Jene, die sich die Rettung des „christlichen Abendlandes“ auf die Fahnen heften machen deutlich, wer ihrer Ansicht nach Teil eines Wir ist und wer nicht. Und während viel danach gefragt wird, wie mit jenen, denen Zugehörigkeit nicht zugesprochen, oder gar abgesprochen wird umgegangen werden soll, ist viel seltener die Rede davon, was die Politisierung von Religion und ein solcher Ausschluss mit jungen Menschen und ihrem Glauben macht.
Befragt, nicht gefragt
Insbesondere junge MuslimInnen sind stets im Fokus. Radikalisierungsprävention ist dabei häufig der Denkhorizont von FördergeberInnen und ForscherInnen. Wie auch bei der Forschung zu erwachsenen MuslimInnen ist sicherheitspolitische Verwertbarkeit eine dominierende Logik (Schirin Amir-Moazamis Buch „Der inspizierte Muslim“ zeigt hier wichtige kritische Perspektiven auf). ReligionsforscherInnen haben zumeist ein anderes Erkenntnisinteresse, tappen aber trotzdem in die gleichen Fallen, wenn sie MuslimInnen als isolierten Sonderfall sehen. So verabsäumen sie es, das umfassende Verständnis von Religionen, dass sich insbesondere die Religionswissenschaft erarbeitet hat, zum Einsatz zu bringen. Reflektierte Religionsforschung muss religiöse Menschen immer als ExpertInnen für ihre religiöse Lebenswelt ernst nehmen. Dass das auch für junge Menschen gilt, ist eine unbedingt notwendige Einsicht, will man die Reproduktion von unreflektierten Befunden vermeiden.
Daher gilt es, Forschung voran zu treiben, in der Jugendliche nicht nur befragt werden, sondern auch gefragt sind. Zunehmend wird gerade in der Forschung zu marginalisierten Gruppen eine partizipative empirische Forschung gefordert, die jenen, über die gesprochen wird, eine eigene Stimme gibt. Durch einen solchen Forschungsansatz können Jugendliche an dem Endprodukt einer Forschungsarbeit mitwirken, die wissenschaftliche Einschätzung ihrer religiösen Lebenswelt zumindest kommentieren, und wo notwendig redigieren. Nicht zuletzt daraus ergibt sich die Agency junger Menschen auch als Forschungsagenda des Bandes 15 der RaT-Reihe „Prayer, Pop and Politics: Researching Religious Youth in Migration Society“.
Alter als Intersektionalitätskategorie
Ein zentraler Zugangspunkt ist die aus der feministischen Theorie stammende Intersektionalitätsperspektive. Hier wird davon ausgegangen, dass gesellschaftliche Situiertheit und insbesondere die Überlagerung verschiedener Ungleichheit erzeugender Strukturkategorien die Lebenssituation einzelner Menschen zentral bestimmt. Entstanden aus der Erfahrung von Frauenrechtlerinnen, die nicht zur weißen Mittelschicht gehören und ihre Lebensrealitäten in feministischen Debatten nicht widergespiegelt sahen – hier ist insbesondere Sojourner Truths „Ain‘t I a woman“ zu nennen – ist Intersektionalität eine Weiterentwicklung der Geschlechterforschung, die Klasse, Race, Ethnizität, Nationalität und andere Differenzkategorien miteinbezieht.
Alter wird in dieser Aufzählung von Differenzkategorien zumeist nicht explizit angeführt, und wenn, dann in Bezug auf die Diskriminierung älterer Menschen. JugendforscherInnen, wie etwa Mimi Ito aber betonen, dass Alter jene Ungleichheitskategorie ist, die als selbstverständlich empfunden wird. Darum wird sie kaum hinterfragt und über Kulturen und Weltregionen hinweg stetig reproduziert (wie etwa im Buch „Participatory Culture in a Networked Era: A Conversation on Youth, Learning, Commerce, and Politics.” diskutiert). Alter ist wohl auch eine besonders komplexe Differenzkategorie, da junge Menschen erst zur Mündigkeit heranwachsen, vielerorts Schutz brauchen und gleichzeitig Ernst genommen werden müssen. Das stellt eine gesellschaftliche Aufgabe dar, die auch die Wissenschaft fordert.
In Band 15 der RaT-Reihe schreiben ForscherInnen über junge religiöse Menschen in Österreich, Deutschland, Frankreich, Finnland und der Schweiz und stellen dabei nicht nur ähnliche Fragen an Jugendliche, sondern treffen auch auf die gleichen Herausforderungen in deren Beforschung: Wie umgehen mit dem Machtungleichgewicht, der so mannigfaltig privilegierten Position in der wir als ForscherInnen gegenüber jungen Menschen, die einer religiösen Minderheit angehören, sind. Der Band ist vom Versuch geprägt, diesen Herausforderungen Rechnung zu tragen und junge Menschen und ihre religiösen Lebenswelten weniger als Gegenstand unserer Forschung, denn als AkteurInnen in religiösen Transformationsprozessen zu betrachten. Die Intersektionalitätsperspektive, die Alter als Ungleichheitskategorie mitdenkt und partizipatorische Forschungsansätze sind vielversprechende Wege um alte Fehler zu vermeiden.
Rat-Blog Nr. 2/2019