Ethikunterricht und/oder Religionsunterricht? Einige Überlegungen aus religionswissenschaftlicher Perspektive

 

© Silke Lapina (Nigeria, Haus von Susanne Wenger)

Wolfram Reiss und Robert Wurzrainer unterziehen den aktuellen Vorschlag zu einem verpflichtenden Ethikunterricht einer kritischen Prüfung aus religionswissenschaftlicher Perspektive und zeigen Möglichkeiten auf, wie dieses neue Unterrichtsfach in einer religiös und weltanschaulich pluralen Gesellschaft und Schule sinnvoll gestaltet werden kann.

Im Schuljahr 2020/21 soll der verpflichtende Ethikunterricht für alle Schülerinnen und Schüler eingeführt werden, die keinen Religionsunterricht besuchen können oder wollen. Damit wird dem § 2 des Schulorganisationsgesetzes endlich umfassender entsprochen, in dem der Schule zur Aufgabe gestellt wird, zur Entwicklung von „sittlichen, religiösen und sozialen Werten“ beizutragen. Die Gruppe der Schülerinnen und Schüler ohne religiöses Bekenntnis – an Schulen in Wien oftmals über dreißig Prozent – sowie auch Angehörige von Religionsgruppen, die keinen eigenen Religionsunterricht anbieten, waren von diesem Bildungsziel bislang faktisch ausgeschlossen.

Es ist darum sehr zu begrüßen, dass nach dem jahrzehntelangen Streit um den Ethikunterricht dieser nun eingeführt wird, denn die Entwicklung und die Kenntnis sittlicher, religiöser und sozialer Werte sollte für alle Schülerinnen und Schüler – gleich welcher weltanschaulicher und religiöser Prägung – ein hohes Bildungsziel sein. Die Überführung des Ethikunterrichts ins Regelschulwesen war zudem längst überfällig hinsichtlich der Pluralisierung der religiösen und weltanschaulichen Landschaft, der Säkularisierung der Gesellschaft sowie angesichts der vielfältigen Herausforderungen im Blick auf den Zusammenhalt in der Gesellschaft und der oftmals oberflächlichen Thematisierung von religiösen Konflikten in Medien und Politik.

Die Einführung dieses Unterrichtsfaches in der geplanten Form stößt jedoch auch auf Kritik und schwerwiegende Bedenken vor allem von juristischer Seite, wie Stefan Hammer im Rahmen eines RaT-Blog Beitrages ausgeführt hat.1 Diese Einwände sind grundlegend – nicht nur im Hinblick auf die positive und negative Religionsfreiheit – und bedürfen einer genauen Prüfung durch Expertinnen und Experten.

Im Blick auf die inhaltliche Ausgestaltung dieses „neuen“ Unterrichtsfaches deuten die Aussagen des Bildungsministers im Rahmen der Pressekonferenz zum Ethikunterricht vom 5. März 2019 darauf hin, dass sich der zukünftige Lehrplan stark am Lehrplan für den Ethikunterricht, der von der Bundes- ARGE Ethik vorgelegt wurde, orientieren wird. Die drei Orientierungsfelder des Unterrichts lauten hier „Personale Perspektive, Ich & Du“, „Gesellschaftliche Perspektive, Wir & die Welt“ sowie „Ideengeschichtliche Perspektive, Säkulares & Religiöses“.2 Diese Felder verweisen darauf, dass im Unterricht Religionen und Kulturen aus einer nicht-konfessionellen Perspektive thematisiert werden sollen, und insoweit liegt es nahe, dass die religiös nicht gebundene Religionswissenschaft eine der Bezugswissenschaften für dieses Unterrichtsfach sein wird.

Innerhalb der Religionswissenschaft als universitärer Disziplin selbst ist die Entwicklung einer religionswissenschaftlichen bzw. religionskundlichen Fachdidaktik jedoch nach wie vor ein Desiderat. Nur wenige Forscherinnen und Forscher beschäftigen sich mit der Frage nach der Vermittlung von religionswissenschaftlichem Wissen im schulischen Kontext, und dementsprechend überschaubar ist auch die Zahl der Veröffentlichungen, die sich mit diesem Thema aus einer dezidiert religionswissenschaftlichen Perspektive auseinandersetzen.

Dabei bietet gerade die österreichische Situation hinsichtlich religiöser und ethischer Bildung in der Schule ein breites Beschäftigungsfeld für religionswissenschaftliche Forschung. Neben der Vielzahl an Religionsunterrichten entsteht mit der Einführung des verpflichtenden Ethikunterrichts nun ein weiteres Unterrichtsfach, in welchem auch die religiöse und weltanschauliche Pluralität ein grundlegendes Thema des Unterrichtsfaches ist. Und dies muss im Ethikunterricht, im Gegensatz zum konfessionellen Religionsunterricht, nicht aus einer „religiösen“, sondern aus einer „neutralen“ sozial- und kulturwissenschaftlichen Perspektive geschehen. Hier bietet die Religionswissenschaft mit ihrem Zugang des „methodischen Agnostizismus“ eine fruchtbare Möglichkeit, um sich religiösen Phänomenen und Traditionen aus einer nicht-wertenden Außenperspektive zu nähern. Es geht hier im Detail um eine Perspektive, die ohne Verzerrung und Vorurteile, ohne Polemik oder Apologetik Religionen und religiöse Phänomene deskriptiv beschreibt und die sich der Beurteilung und Bewertung enthält. Das Selbstverständnis der Religionen muss dabei eine starke Berücksichtigung finden, zugleich muss allerdings immer auch eine kritische Distanz zu den Religionen gewahrt bleiben und deutlich gemacht werden, dass eine gänzlich neutrale oder objektive Darstellung nicht möglich ist.

Zudem sollten die verschiedenen Dimensionen von Religion und Religionen sowie grundlegende Regeln des Vergleichs von religiösen Phänomenen vermittelt werden, da diese leider sowohl in den Medien als auch in der öffentlichen Debatte um Religionen oftmals missachtet werden. Hier hat sich in der Religionswissenschaft ein breites Spektrum an vergleichend-systematischen Methoden etabliert, die in einer religiös und weltanschaulich pluralen Gesellschaft helfen können, sowohl die Ähnlichkeiten als auch die Unterschiede innerhalb und zwischen religiösen Traditionen und Gruppierungen zu verdeutlichen. Sie können Schülerinnen und Schüler dazu befähigen, religiöse Vielfalt wertzuschätzen und diese Vielfalt reflektiert und differenziert wahrzunehmen, ohne in Verurteilungen oder negative Bewertungen zu verfallen. Auch müsste thematisiert werden, was überhaupt unter Religion verstanden wird und welche Funktion Religionen und religiöse Traditionen in Gesellschaften haben. Dabei sollten keineswegs nur die etablierten und anerkannten Religionsgemeinschaften thematisiert werden, sondern auch kleinere Religionsgemeinschaften sowie Formen von Praktiken, Ritualen, ideologischen Vorstellungen und Gemeinschaften, bei denen oft nicht ganz klar ist, ob man sie als Religionen einstufen kann. Dies betrifft z.B. den Bereich der Esoterik und der Lebensberatung, der Kunst, der Musik oder des Sports.

Die Debatten in Bezug auf die Einführung des Ethikunterrichts waren in den letzten Jahren oft durch eine starre Gegenüberstellung bzw. Trennung von religiöser und ethischer Bildung beschränkt – überspitzt in die Formel „Entweder Religion oder Ethik“ gegossen. Tatsache ist aber, dass im konfessionell gebundenen Religionsunterricht längst auch andere Religionen und grundlegende ethische Fragen behandelt werden, und umgekehrt wird auch ein Ethikunterricht nicht umhin können, das Selbstverständnis von Religionen und religiösen Phänomene zu thematisieren. Dies zeigt auch der Blick auf die Lehrpläne des Ethikunterrichts und der verschiedenen Religionsunterrichte sehr deutlich.

Um dieser Trennung entgegenzuwirken wäre für dieses Unterrichtsfach neben einer grundlegenden religionswissenschaftlichen Expertise der Lehrpersonen auch die Möglichkeit des Austausches mit den an der Schule angebotenen Formen des Religionsunterrichts eine große Chance. Die im Positionspapier der Theologischen Fakultät der Universität Wien vorgeschlagenen Begegnungsphasen zwischen den jeweiligen (konfessionellen) Religionsunterrichten und dem Ethikunterricht sowie einer jährlichen Wahlmöglichkeit zwischen einem Religions- oder Ethikunterricht sind diesbezüglich wichtige Überlegungen, denen ein großes Potential innewohnt, um sowohl den Religions- als auch den Ethikunterricht zeitgemäß zu gestalten.

Zudem bieten diese Formen des Austausches die Möglichkeit, vom Nebeneinander und dem Reden „über“ die Anderen zu einem Miteinander und einem Reden „mit“ den Anderen zu kommen. Und dies kann die Grundlage dafür schaffen, mit den Herausforderungen einer religiös und weltanschaulich pluralen Schule und Gesellschaft positiv und produktiv umzugehen.

 

 

 


1 vgl. Stefan Hammer: Ethikunterricht als verpflichtende Alternative zum Religionsunterricht, 12. März 2019, https://rat-blog.at/2019/03 [17.04.2019].

2 Lehrplan für den Schulversuch ETHIK an der Sekundarstufe 2 – AHS und BHS, vorgelegt von der Bundes-ARGE

Ethik, 2017, https://arge-ethik.tsn.at/sites/arge-ethik.tsn.at/files/upload/Lehrplan%20f%C3%BCr%20den%20Schulversuch%20Ethik%201.3.2017.pdf [17.04.2019].


Rat-Blog Nr. 3/2019

  • Wolfram Reiss ist seit 2007 Professor für Religionswissenschaft an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien und setzt sich für die Etablierung einer „Anwendungsorientierten Religionswissenschaft“ ein, die aktuelle Fragestellungen der Gesellschaft aufgreift.

  • Robert Wurzrainer ist Referent am Lehrstuhl für Religionswissenschaft an der Evangelisch- Theologischen Fakultät und im Fachbereich „Kirche im Dialog“ der Erzdiözese Wien. Er promoviert über Religionskunde im Religions- und Ethikunterricht.

2 thoughts on “Ethikunterricht und/oder Religionsunterricht? Einige Überlegungen aus religionswissenschaftlicher Perspektive

  1. Ich bin Kultur- und Sozialanthropologin mit speziellem Interesse für Religionsethnologie und habe mich mit dem Thema „Religionsmatura“ beschäftigt.
    Zuerst einmal verweise ich auf die hochambitionierten Kompetenzansprüche, die in der Broschüre des BM für Unterricht und Kultur unter dem Titel „Die kompetenzorientierte Reifeprüfung aus Religion“ für den konfessionellen Religionsunterricht herausgegeben wurden. Diese auf Gymnasien anzuwenden, hält aus meiner Sicht der Praxis nicht stand. Demnach müssten ReligionspädagogInnen zudem über ein umfangreiches, fundiertes Hintergrundwissen verfügen und bereit sein, dieses wertungsfrei weiterzugeben.
    Im Internet werden von bestimmten Gymnasien informative Materialien zur Religionsmatura veröffentlicht, die auch Kapitel zu dem wissenschaftlich umstrittenen Begriff der „Weltreligionen“ beinhalten. Dabei wird teilweise ohne Quellenangaben vorgegangen. Wissensdefizite und fehlendes Verständnis der AutorInnen werden durch polemische Formulierungen erkennbar.
    Manche Darstellungen sind unvollständig, es fehlt bei bestimmten komplexeren kulturspezifischen Themen ein genereller Überblick. Unwesentliche Aspekte sind ausführlich beschrieben, während wesentliche zum Teil flüchtig erwähnt werden und in ihrer Bedeutung untergehen. Zudem werden pejorative Ausdrücke verwendet und es finden sich Anklänge wissenschaftlich überholter Theorien. Hauptakteure und bestimmte Aspekte religiöser Inhalte werden gegenübergestellt und gegeneinander aufgerechnet. Man versucht, subtil und auch unverhohlen, eine Beweisführung der Überlegenheit des Christentums mittels Abwertung und Geringschätzung anderer Religionen (und Kulturen). Bestimmte Informationen sind schlichtweg unrichtig.
    Die Übermittlung von Kritik wird von den betreffenden ReligionspädagogInnen ignoriert. Die entsprechenden Materialien bleiben im Netz und werden weiterhin rezipiert.
    In diesem Zusammenhang plädiere ich für eine wertfreie, sachliche und religionswissenschaftlich basierte Religionsmatura.
    Vielen Dank für Ihre Stellungnahme zu diesem speziellen Thema.
    Mit freundlichen Grüßen
    Dr. Gabriela Magyar

Comments are closed.