Der offene Tag …

 

Anlässlich des 250. Geburtstages des Dichters Friedrich Hölderlin zeichnet Jakob Deibl nach, wie das Motiv des Offenen auch noch für Hölderlins späteste Gedichte prägend ist.

Das Offene, das Bleibende

Vor 250 Jahren, am 20. März 1770, wurde Friedrich Hölderlin geboren, jener Dichter, Philosoph und Theologe, dessen Werk als Dichtung des Offenen gelten kann. Dieses Grundwort seines Denkens findet sich immer wieder an wichtigen Stellen seiner Texte:

Komm! ins Offene, Freund! zwar glänzt ein Weniges heute
Nur herunter und eng schließet der Himmel uns ein.

[…]

Darum hoff ich sogar, es werde, wenn das Gewünschte
Wir beginnen und erst unsere Zunge gelöst,
Und gefunden das Wort, und aufgegangen das Herz ist,
Und von trunkener Stirn höher Besinnen entspringt,
Mit der unsern zugleich des Himmels Blüte beginnen,
Und dem offenen Blick offen der Leuchtende sein.

(Der Gang aufs Land …, VV 1f; 13-18)

Was aber bedeutet der offene Blick, was bedeutet das Offene? Zweifelsohne geht es um einen Aufbruch ins Freie, wie Freiheit überhaupt ein Leitwort nicht nur der politischen Bestrebungen, sondern auch der Philosophie um 1800 war. Mit dem Offenen ist der Blick in eine Zukunft verbunden, die es zu gestalten gilt:

Und mancher siehet über die eigne Zeit
Ihm zeigt ein Gott ins Freie […]

   (Rousseau., VV5f)

Wie auch immer man Hölderlins Bezug auf das Göttliche einschätzt, die Frage nach Gott oder den Göttern verweist auf den Raum des Offenen, des Freien.
Jene Verse, in welchen Hölderlin vom Offenen spricht, gehören zu den viel- und meist auf sehr emphatische Weise zitierten Passagen des Dichters. Mit dem Offenen ist aber keineswegs nur eine überschwängliche Rede von Freiheit verbunden. Der Begriff des Offenen ist vielschichtig und schwer zu fassen. Das Offene ist auch der Raum eines Übergangs, der bedrohlichen wie verheißungsvollen Charakter annehmen kann; es handelt sich um einen – offenen Begriff. Im Offenen als einer Zone des Unentschiedenen ordnen sich alle Dinge neu, werden Bedeutungen neu konfiguriert, erfährt unser Wissen eine Neugestaltung. Es ist gewissermaßen die Grauzone oder besser die Zone überbordender Vielfalt, die sich zwischen Null und Eins, Sein und Nichts eröffnen kann.

Der Betonung des Offenen als eines in sich vielschichtigen Begriffs steht überdies Hölderlins Frage nach dem Bleibenden an der Seite. Im letzten Vers des Gesangs Andenken, um nur ein prominentes Beispiel zu nennen, bekennt Hölderlin: „Was bleibet aber, stiften die Dichter.“ (Andenken, V 59). Jedes Gedicht Hölderlins kann daraufhin befragt werden, wie es – unabhängig davon, ob die entsprechenden Wörter explizit genannt werden – die Spannung aus Offenem und Bleiben gestaltet. Diese Frage kann man an die frühesten wie auch an die spätesten Gedichte Hölderlins stellen.

Das bleibend Offene der Dichtung Hölderlins

Die spätesten Gedichte Hölderlins werden mitunter als „Turmgedichte“ bezeichnet. Der Dichter schrieb diese Texte in jener Zeit, als er – ab dem Jahr 1807 – in Tübingen in häuslicher Pflege bei einer Familie lebte, welche, wenn man den Berichten glauben darf, ihn gut umsorgte. Im Haus der Familie hatte er ein Zimmer mit schöner Aussicht, das sich in einem direkt am Neckar gelegenen Turm befand. Die zweite Hälfte seines Lebens, genau 36 Jahre, verbrachte der als krank diagnostizierte Hölderlin dort. Wenigstens die Möglichkeit zu kleinen Spaziergängen war ihm geblieben.

In dieser Zeit vollzieht sich ein Wandel der Gestalt seiner Dichtung, wobei nur wenige der spätesten Gedichte erhalten geblieben sind. Erinnern die ersten im Turm entstandenen Texte noch entfernt an die großen Gesänge der Jahre zuvor, greift der Dichter dann meist auf Reimstrophen zu je vier Versen zurück. Die kühnen sprachlichen Wendungen, welche immer wieder bis zum Außer-Kraft-Setzen der Grammatik reichten, weichen einer einfachen Sprache. Das Einfache ist jedoch niemals banal; es ist vielmehr das Echo einer Sprache, die alle Grenzen ausgelotet hat und im Einfachen noch immer die offenen Räume sucht.

Der Frühling.

Der Mensch vergißt die Sorgen aus dem Geiste,
Der Frühling aber blüh’t, und prächtig ist das Meiste,
Das grüne Feld ist herrlich ausgebreitet
Da glänzend schön der Bach hinuntergleitet.
5Die Berge stehn bedeket mit den Bäumen,
Und herrlich ist die Luft in offnen Räumen,
Das weite Thal ist in der Welt gedehnet
Und Thurm und Haus an Hügeln angelehnet.

                                                           mit Unterthänigkeit

                                                                       Scardanelli.[1]

Bemerkenswert ist, dass nicht nur das Feld „herrlich ausgebreitet“ (V 3) ist, sondern das weite Thal, in welchem Turm und Haus sich befinden, als „in der Welt gedehnet“ (V 7) erscheint. Was gedehnt ist, ist nicht von sich aus offen, spiegelt aber das Streben und die Sehnsucht nach dem Offenen wider.

Die immer gleichen Landschaftsbilder und affektiven Stimmungen werden in Hölderlins spätesten Gedichten je neu konfiguriert und erhalten ihr Maß und ihre Ordnung durch die Bezeichnungen der vier Jahreszeiten, die für eine erhebliche Anzahl der Gedichte titelgebend sind. Vermutlich ab etwa 1837 beginnt Hölderlin, seine Texte mit Scardanelli zu unterschreiben und ab den 1840er Jahren versieht er sie auch mit fiktiven Datumsangaben, die bis ins Jahr 1648 zurückreichen und bis ins Jahr 1940 voraus. Die in der Enge beschränkter Bewegungsmöglichkeit verfassten Gedichte behalten nicht nur ihre räumliche Offenheit – in einem Gedicht mit dem Titel Griechenland ist von offenen Feldern (MA I, 935, V 5) die Rede –, sondern greifen auch in eine zeitliche Weite aus, welche den Horizont der Erinnerung und der Planung überschreitet. Sie stellen einen Anachronismus dar, der jedoch nicht zum Chaos wird. In ihm ist etwas geordnet Bleibendes.

Die Aussicht und der offene Tag

Drei seiner spätesten Gedichte gab Hölderlin den Titel Aussicht bzw. Die Aussicht; vielleicht mag man dabei auch an die Aussicht aus Hölderlins Turmzimmer denken:

Aussicht.

Der offne Tag ist Menschen hell mit Bildern,
Wenn sich das Grün aus ebner Ferne zeiget,
Noch eh‘ des Abends Licht zur Dämmerung sich neiget,
Und Schimmer sanft den Glanz des Tages mildern.

Oft scheint die Innerheit der Welt umwölkt verschlossen,
Des Menschen Sinn, von Zweifeln voll, verdrossen,
Die prächtige Natur erheitert seine Tage,
Und ferne steht des Zweifels dunkle Frage.

                                                           mit Unterthänigkeit
d. 24ten Merz                                  Scardanelli.
1871[2]

Die gesamte erste Strophe ist eine Interpretation des offenen Tages, der den Beginn des Gedichtes darstellt. Offen ist er, indem er für die Menschen eine je neue Fülle von Bildern ermöglicht (vgl. V 1). Offen ist er, indem sich eine Bewegung aus der Ferne einstellt, das frühlingshafte Grün sich zeigt (vgl. V 2). Dies führt zur Eröffnung einer neuen Subtilität der Wahrnehmung, wie an den Versen 3 und 4 sichtbar wird. In der Wendung vom Abendlicht, das sich zur Dämmerung neigt (V 3), finden sich mehrere Phänomene des Übergangs miteinander verbunden: Das Abendlicht steht zwischen dem hellen Tag und der dunklen Nacht. Dieses Licht aber neigt sich (d.h., es nimmt einen langsamen Übergang) in die Dämmerung. Damit gelangt es nicht in einen definitiv bestimmten Zustand (die Nacht), sondern erneut zu einem Phänomen des Übergangs. In einem Vers eröffnet Hölderlin eine Feinheit an Übergängen, die nicht mehr wirklich voneinander zu unterscheiden sind. Vielmehr geht es um die Eröffnung des Übergangs als Übergang selbst, vielleicht darf man sagen: des Übergänglichen. Der „Glanz des Tages“ (V 4) wird sanft durch Schimmer gemildert: An diesem Vers zeigen sich in den Worten „Schimmer“, „sanft“ und „mildern“ drei Begriffe der Zurücknahme, der Reduktion, des Leiser-Werdens. Der Glanz, die doxa, ist traditionell auch der Erscheinungsraum des Göttlichen. Dieses wäre aber in seinem Glanz gar nicht fassbar, es bedarf dessen Zurücknahme – ein Gedanke, der Hölderlins Gedichte zwischen 1800 und 1806 prägt und hier noch wie ein leises Echo nachklingt.

Wo diese differenzierte Wahrnehmung des offenen Tages gelingt, werden die „Bilder“ (V 1) nicht grell, sondern entsteht eine Wahrnehmung für das Subtile und die Übergänge. Dadurch werden sogar der uns „Oft“ (V 5) befallende Zweifel und die Verdrossenheit (V 6 und 8), die Umwölkung alles Klaren und auch die Verschließung (V 5) etwas „erheitert“ (V 7). Die „dunkle Frage“ (V 8), mit der das Gedichte endet, erhält darin keine unmittelbare Antwort und wird nicht dauerhaft gelöst. Dichtung aber wäre gerade der Versuch, aus den dunklen Fragen immer wieder einen Weg in den offenen Tag zu finden. Diese Suche nach dem Offenen hat für Hölderlin etwas Bleibendes, sie hat ihn, auch als er im Turm lebte, nicht verlassen. Wenn seine Gedichte in dieser Zeit gleichsam die Gestalt von Briefen mit Unterschrift, Gruß und Datumsangabe annehmen, dann wollen sie Botschaften sein, die anachronistisch die Zeiten durchqueren und vielleicht auch uns erreichen können.


[1] Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke und Briefe, Münchener Ausgabe [MA] I. Hrsg. von Michael Knaupp, 927.

[2] MA I, 931

 


Rat-Blog Nr. 2/2020

  • DDr. Jakob Helmut Deibl ist Lehrstuhlvertretung an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg und wissenschaftlicher Manager des Forschungszentrums RaT.

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