Neuauflage!
In einer losen Serie möchten wir in den folgenden Monaten einige bekanntere und weniger bekannte theologische und philosophische Denker*innen des 20. Jahrhunderts vorstellen, die uns heute wichtige Impulse geben können.
Diesmal: Der Soziologe und Theologie-Promovend Christian Macha über Zygmunt Bauman.
Zygmunt Bauman war ein polnisch-englischer Intellektueller, der Anfang 2017 im zweiundneunzigsten Lebensjahr gestorben ist, und somit ein Zeitgenosse von bedeutenden Theoretiker*innen wie Arendt, Foucault, Habermas, Levinas und anderen Denkern*innen. Bauman war jüdischer Herkunft und ist (erst vergleichsweise spät) mit seinem 1989 erschienen Werk Modernity and the Holocaust (dt. Übers. Dialektik der Ordnung) berühmt geworden. In gewisser Weise schließt Bauman damit an die Dialektik der Aufklärung von Horkheimer / Adorno an.
Er geht dabei von der Beobachtung aus, dass es Menschen aus allen sozialen Schichten gegeben hat, die den verfolgten Juden spontan geholfen haben, auch wenn sie sich damit selbst in Gefahr gebracht haben. Diese Menschen waren nicht zivilisierter oder gebildeter, sondern „sie konnten eben nicht anders“. In Wir Lebenskünstler (2008) schreibt er dazu noch: „Warum verschiedene Menschen sich in der gleichen Situation unterschiedlich verhalten, ist und bleibt ein Geheimnis.“
Bauman hat insbesondere nach seiner Emeritierung als Professor der Soziologie an der Universität Leeds im Jahr 1990 quasi im Jahrestakt neue Arbeiten veröffentlicht und hat sich von einem Professor für Soziologie, der sich in seinen Publikationen an ein akademisches Publikum adressiert, im Laufe der Jahre zunehmend zu einem Public Intellectual, der einen breiten Leserkreis ansprechen will, entwickelt. Sein Stil ist im Laufe der Jahre auch zunehmend essayistisch geworden. In seinen Büchern beschäftigte er sich mit Themen wie der mangelnden Solidarität, Ausgrenzung einer Unterschicht und von Migranten, Konsumismus und sozialer Ungleichheit.
Bauman hat den Begriff der liquid modernity gepägt, der auf Deutsch meist mit flüchtiger Moderne übersetzt wird (Flüchtige Moderne, 2003). In den 1990er Jahren hat sich Bauman intensiv mit der Postmoderne beschäftigt. Dies wirft die Frage nach der Unterscheidung dieser Begriffe auf: Unter Postmoderne versteht Bauman die desillusionierte Moderne: Während die Moderne von einem Fortschrittsoptimismus geprägt ist, bezeichnet Postmoderne die Skepsis gegenüber diesem Optimismus. Es handelt sich dabei jedoch – anders als das Präfix „post“ suggeriert – nicht um eine Epoche, die der Moderne zeitlich nachgeordnet ist, sondern Moderne und Postmoderne finden gleichzeitig statt.
Bauman hat sich selbst nie als postmoderner Denker gesehen, weil bei diesem Begriff oft auch der (stillschweigende) Vorwurf einer gewissen Beliebigkeit mitschwingt. Daher unterscheidet er ab den 2000er Jahren zwischen solider und „liquid“ (dt. Übersetzung: flüchtiger) Moderne und nicht mehr zwischen Moderne und Postmoderne. Auch die solide und die flüchtige Moderne sind zeitlich nicht eindeutig voneinander abgrenzbar, es handelt sich vielmehr um Idealtypen.
Zunächst zur Leitmetapher des Liquiden: Flüssigkeiten behalten ihre Form nicht bzw. ändern ihre Form im Laufe der Zeit. Das Zusammentreffen mit Festkörpern kann einer Flüssigkeit nichts anhaben, die Festkörper werden dabei jedoch nass. Mit Flüssigkeiten assoziiert man Leichtigkeit, quasi wie Reisen ohne Gepäck (eine weitere Metapher). Da schon Marx hat vom „Verdampfen alles Ständischen und Stehenden“ im Kommunistischen Manifest gesprochen hat, stellt sich die Frage nach dem Neuigkeitsgehalt der flüchtigen Moderne. Hierzu führt Bauman aus, dass Marx die bestehenden soliden Ordnungen durch neue, verbesserte ersetzen wollte: „All das geschah nicht im Namen einer Kritik der soliden Ordnungen an sich … Es sollten neue, verbesserte Ordnungen etabliert werden; die nicht funktionierenden, überkommenen Strukturen sollten beseitigt und durch andere, bessere, möglichst perfekte ersetzt werden, die, weil sie perfekt waren, nie mehr hätten verändert werden müssen“ (Flüchtige Moderne). Marx – so Bauman – wollte also wieder solide Ordnungen herstellen. In der soliden Moderne kam zu einem „Siegeszug der … instrumentellen Rationalität“ (Weber) bzw. der „determinierenden Rolle der Ökonomie“ (Marx). Die neue Ordnung, die in erster Linie in ökonomischen Begriffen definiert wurde, war gegen nicht-ökonomische Herausforderungen und Ansprüche immun.
Eine weitere Leitidee von Baumans Denken ist der Gegensatz von Freiheit und Sicherheit. Während zu Zeiten der soliden Moderne das Streben nach Freiheit im Vordergrund gestanden ist, behauptet Bauman, dass in der flüchtigen Moderne das Pendel in die andere Richtung umgeschlagen ist, und nunmehr die Mehrzahl der Menschen gerne ein Stückchen Freiheit zugunsten von mehr Sicherheit aufgeben würde. Bauman versteht unter Sicherheit – ein Wort, das er im Original gerne deutsch schreibt – drei Aspekte: die körperliche Unversehrtheit (safety), die Zuversicht, was die Zukunft betrifft (certainty), und eine stabile soziale Situation (security).
Die solide Moderne war mit Überwachung und zentraler Lenkung verbunden. Man denke an die Beschreibungen von Michel Foucault bzw. die Dystopien von George Orwell. In der flüchtigen Moderne ist die Situation eine völlig andere. Bauman spricht von einer Beichstuhlgesellschaft, in der in Talkshows und über Facebook intime Details freiwillig preisgeben werden. In der flüchtigen Moderne funktioniert die Überwachung einerseits oft dezentral (jeder überwacht jeden), andererseits überwacht sich auch jeder selbst.
Eine Folge des Wegfallens der zentralen Lenkung ist, dass in der flüchtigen Moderne auch kaum mehr der Ruf nach Revolution zu vernehmen ist:
Wenn die Zeit der Revolutionen […] vorbei ist, dann deswegen, weil es heute kein Schaltzentrum mehr gibt, das die Revolutionäre stürmen könnten, und weil man sich kaum vorstellen kann, an welchen Hebeln die Sieger […] drehen wollten, um das Elend, gegen das sie rebellierten, zu beenden […] Das Einschmelzen bestehender Verhältnisse […] hat heute eine neue Bedeutung angenommen […] – eingedampft werden heute jene Kräfte, die versuchen, die Frage nach einer anderen Ordnung auf der politischen Tagesordnung zu halten […]. Was heute in den Zeiten der flüchtigen Moderne in den Schmelzofen wandert, sind jene Verbindlichkeiten, die Individuen in kollektiven Projekten zusammenschweißen – die kommunikativen Muster und Strukturen der Handlungskoordination, die individuelle Lebenspläne an kollektives Handeln binden (Flüchtige Moderne).
Die zunehmende Individualisierung wird in der flüchtigen Moderne nicht mehr als Chance, sondern zunehmend als Zwang gesehen. Bauman spricht in diesem Zusammenhang von einer Individualisierung de jure, die er von der wünschenswerten Individualisierung de facto unterscheidet. Die Anforderung an die de jure-Individuen lautet: Systemwidersprüche müssen privat aufgelöst werden. Viele Menschen haben ähnliche Sorgen, aber es gibt keine kollektiven Lösungsansätze mehr.
Bauman zählt zu den Lieblingsautor*innen von Papst Franziskus[1] und hat seinerseits ebenfalls eine sehr hohe Wertschätzung für Franziskus ausgedrückt. Der Papst war für ihn „die wohl einzige öffentliche Figur mit weltweiter Autorität, die den Mut und die Entschlossenheit hat, nach den tiefsten Quellen der gegenwärtigen Übel, der Verwirrung und Ohnmacht zu graben und sie öffentlich zu benennen“ (Symptome auf der Suche nach ihrem Namen und Ursprung, 2017). Bauman teilte insbesondere Franziskus‘ Engagement für die Armen, für die Flüchtlinge und für Ausgegrenzte generell.
[1] Paolo Rodari: Habemus Librum! Baumans Konsumkritik, Dostojewskis Menschendramen, Hölderlins Gedichte: Was der Papst so alles im Urlaub liest. Die Welt vom 14.8.2017, S. 21.
Bildquelle: Wikipedia
Rat-Blog Nr. 20/2020
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