Eine neue Sprache der Begegnung zwischen Religion und Welt: Doing Theology from the Existential Peripheries

Wie ist es möglich, heute von Gott zu sprechen?

Ich möchte, dass diese für die Theologie so dringliche Frage vor den Worten durch die beiden oben nebeneinander gestellten Bilder beantwortet wird. Sie gehören zu den zwölf Diptychen[1], die Giovanni Chiaramonte, einer der größten lebenden Meister der italienischen Fotografie, dem vatikanischen Projekt Doing Theology from the Existential Peripheries gewidmet hat, das ich in den letzten zwei Jahren geleitet habe. Der große Fotograf begleitete mich im März 2022 für ein paar Tage nach Barcelona, um seinen Bericht über eine außergewöhnliche Erfahrung ‘mit Licht zu schreiben’. “Fotografie”: Schreiben mit Licht.

Wenn man über die beiden Bilder nachdenkt, erkennt man, wie die Ausgangsfrage in Wahrheit auf den Kopf gestellt werden kann: Es geht nicht darum, wie man heute noch von Gott sprechen kann, sondern ob es noch einen Weg gibt, ihn zu hören. Und wo. Als ob das Schweigen, das Fasten der Worte über Gott, das uns von der säkularen Gesellschaft abverlangt zu werden scheint, von Chiaramontes Werk radikal ernst genommen wird: Man findet in diesen Fotografien eine Hymne an das Hören, eine eindringliche Einladung zum Schweigen.

Vor achtzig Jahren schrieb Dietrich Bonhoeffer aus dem Gefängnis: “Es bleibt ein Erlebnis von unvergleichlichem Wert, daß wir die großen Ereignisse der Weltgeschichte einmal von unten, aus der Perspektive der Ausgeschalteten, Beargwöhnten, Schlechtbehandelten, Machtlosen, Unterdrückten und Verhöhnten, kurz der Leidenden, sehen gelernt haben. […] Es kommt nur darauf an, daß diese Perspektive von unten nicht zur Parteinahme für die ewig Unzufriedenen wird, sondern daß wir aus einer höheren Zufriedenheit, die eigentlich jenseits von unten und oben begründet ist, dem Leben in allen seinen Dimensionen gerecht werden, und es so bejahen”[2].

Ein Gespräch über Gott entsteht immer aus dem Hören, aus der Begegnung

Das Denken muss sich in der Tat aus der Wirklichkeit speisen. Und die Wirklichkeit –  so lehrt uns Papst Franziskus in voller Kontinuität mit Bonhoeffers Text –  lässt sich am besten von den Rändern her verstehen: “Denn man kann von jedem etwas lernen, niemand ist nutzlos, niemand ist entbehrlich. Dies bedeutet, dass die Peripherien mit einbezogen werden müssen. Wer in ihnen lebt, hat einen anderen Blickwinkel, sieht Aspekte der Realität, die man von den Machtzentren aus, in denen die maßgeblichen Entscheidungen getroffen werden, nicht erkennen kann”[3]. Aus diesem Grund haben wir an das Projekt Doing theology from the existential peripheries geglaubt und es gefördert, das sich auf eine eher versteckte Weise entwickeln musste. So verborgen wie das Leben in Nazareth, das ein zentraler Teil der Mission Jesu ist: Ein Leben, das in jeder Hinsicht öffentlich ist, aber weit weg vom Rampenlicht und den Orten der Macht. Ziel des Forschungsprogramms ist es, die Lehre von Papst Franziskus zu vertiefen und im Lichte von Evangelii Gaudium, Laudato si‘ und Fratelli tutti eine Erneuerung der Theologie zu fördern. In Bezug auf diese Texte des päpstlichen Lehramtes, scheinen seine Sprache und sein Programm den sich vollziehenden Epochenwechsel noch nicht registriert zu haben. Dies ist ein prägendes Problem der Kirchenleitung. Wir sind an raschen Prozessen der Zerrüttung und Radikalisierung von Identitäten, auch von religiösen, beteiligt. Armut, Ungleichheit, Misstrauen und Konflikte nehmen zu. Im Vergleich zum Frühling des Konzils, der historisch mit den Hoffnungen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verbunden war, hat sich unser Verhältnis zur Zukunft verändert. Unsere Beziehung zu anderen und zu uns selbst hat sich verändert. Selbst eine gute Theologie, eine Theologie, die aus dem Zweiten Vatikanischen Konzil und den ihm vorausgegangenen Erneuerungsbewegungen hervorgegangen ist, läuft Gefahr, viele neue Fragen zu unterschätzen und die Mission nicht mehr zu fördern.

Der französische Benediktiner Ghislain Lafont hat in einem seiner letzten Essays den Schlüssel zum Ansatz von Papst Franziskus in einem Prinzip der Kleinheit benannt: „Wirkliche Veränderung entsteht durch das Wirken von schwachen Elementen. Das lässt sich feststellen, wenn man die Geschichte der Welten und der Menschheit, dann die Heilsgeschichte und schließlich die Geschichte der Kirche betrachtet. […] Der Grundgedanke ist folgender: Situationen der Macht sind letztlich steril; sie sind an eine bestimmte Bedingung eines globalen Systems gebunden, das zwar zur Leistung, zur Verbesserung und möglicherweise zur Erweiterung fähig ist, aber innerhalb einer geschlossenen Konfiguration, unfähig zu echter Kreativität. Die Neuartigkeit ergibt sich gerade aus den Rissen, die im globalen System immer wieder auftreten; oder sie ergibt sich aus der Unfähigkeit, die das System zeigt, wenn es von außen durch Elemente angegriffen wird, die seiner Logik fremd sind”[4].

Die Welt kennt den Lehrstuhl für Ungläubige, der in Mailand von Kardinal Carlo Maria Martini eingerichtet wurde. Er sagte: „Subjektiver Genitiv: Ungläubige auf dem Stuhl“. Dieses Projekt hat uns auf den Stuhl der Armen oder der Unsichtbaren gebracht. Sich an die existentiellen Peripherien zu begeben, bedeutete, sich zu fragen, wo sie sind und wer diejenigen sind, die von der Kirche tendenziell nicht gesehen und nicht als Träger des Wortes Gottes geschätzt werden. Die Ohnmächtigen, die Ungesehenen stiegt auf dem Lehrstuhl, um das Ungesehene, das Randständige, die Unerkannte in uns zu evangelisieren[5].

Aber was hat man uns gesagt?

Die kontinentalen Berichte über die Zuhörübungen sind veröffentlicht worden. Wir haben noch Jahre der Arbeit vor uns, um aus dem, was wir erfahren haben, eine Theologie mit wissenschaftlichem Profil zu machen. Für den Augenblick halte ich drei allgemeine Bemerkungen für nützlich, d.h. Punkte der Konvergenz, der fast einhelligen Übereinstimmung, quer durch die Kontinente. Sie stellen bereits jetzt eine confessio fidei dar, die aus allen Ecken der Welt zu uns kommt.

  1. Ein Apophthegma der Wüste besagt, dass das monastische Leben darin besteht, hinzufallen und wieder aufzustehen und dann wieder hinzufallen und wieder aufzustehen. Das ist es, was Menschen an den existenziellen Peripherien tun, ohne es zu wollen oder zu wählen: Sie erleben das Leben als ein Kontinuum des Scheiterns, aber sie werfen nicht das Handtuch. Es gibt eine Übereinstimmung zwischen der Abwärtsbewegung dieser Existenzen und der radikalen und progressiven Senkung, die im paulinischen Hymnus des Philipperbriefs nachgezeichnet wird (vgl. Phil 2,6-8). “Verwundbar” bedeutet – nach dem lateinischen Wortstamm – “jemand, der verwundet werden kann”. Dies ist Teil der Erfahrung, am Rande zu stehen, aber nicht das Wesentliche. Was diese Erfahrung existentiell kennzeichnet, scheint nicht die Verwundbarkeit zu sein, sondern die Fehlbarkeit: nicht die Möglichkeit, verwundet zu werden – was zwar wahr ist, aber nicht entscheidend  – , sondern die Tatsache, gescheitert zu sein. Scheitern: eine Realität, die so real erlebt und gemacht wird, dass man sich bewusst wird, dass der Erfolg  – so wie er in den Augen der Gesellschaft konventionell verstanden wird –  niemals eintreten wird. Der Glaube führt dann eine andere Lesart der Geschichte ein und offenbart sich in der Weisheit, ohne Orientierung an Erfolg und gesellschaftlicher Anerkennung zu leben: Es ist die Weisheit, die Armut des Nicht-Wissens und der Nicht-Macht auszuhalten gelernt zu haben. Obwohl sie viel wissen, werden die Bescheidenen im Alltag als diejenigen behandelt, die nichts wissen. Mehr noch, sie trauen weder ihrem eigenen Wissen, noch halten sie das Wissen anderer für unfehlbar. Sie haben verinnerlicht, dass der menschliche Zustand zerbrechlich und fehlbar ist. Dies ist der erste Teil ihrer Weisheit.
  2. Die andere Seite dieser Erkenntnis – oder des sensus fidei – entspricht der zweiten Bewegung einer Theologie des Kreuzes: Es ist die Liebe als eine Seinsweise, die erhöht, die erhebt. Wir haben bei denen, die am Rande leben, oft einen Blick gefunden, der nicht hart, nicht wertend, sondern freundlich und mitfühlend ist. In den Antipoden des Paradigmas von Verdienst und Selbstverwirklichung liegt die Weisheit der Armen: das Mitgefühl. Gläubige, die in den existenziellen Peripherien leben, glauben auf diese Weise. Natürlich ist das nicht bei allen der Fall. Es gibt nach wie vor verschlossene, rücksichtslose, ritualisierte, fanatische Formen des Lebens und der Religiosität, aber bei den Menschen, die wir befragt haben, überwiegt eine Spiritualität der Barmherzigkeit. Und, das muss man hinzufügen, auch des Humors. Eines sehr sanften Humors, der einen mit Zärtlichkeit lächeln lässt.
  3. Der dritte Punkt betrifft die Wahrnehmung der Inklusion als ein theologisches Thema, mit dem die Glaubwürdigkeit der Kirche steht und fällt. Die Kategorie der „Inklusion“ gehört sprachlich nicht zur theologischen Tradition, doch kann man einerseits ihre Nähe zur etymologischen Bedeutung von „ek-klesia“ und andererseits ihren prophetischen Charakter in einer Welt, in der Ungleichheiten, Trennungen und Konflikte zunehmen, auch in lokalen Gemeinschaften, nicht übersehen. Allzu oft nehmen die Armen mit besonderer Sensibilität den ausgrenzenden oder diskriminierenden Charakter vieler kirchlicher Realitäten wahr, selbst auf der Ebene der Basisgemeinden. Diese Wahrnehmung wird durch die am weitesten verbreiteten Interpretationen der Lehre oder des Katechismus verstärkt, die einen vermeintlichen Wahrheitsaspekt über den Vorrang der Nächstenliebe stellen wollen, die immer alle willkommen heißt und begleitet. Insbesondere die Situation von LGBTIQ+ Menschen scheint auf breiter Ebene mehr Beachtung zu finden. Im Gegensatz zu dem, was Papst Franziskus selbst öffentlich behauptet hat, zeigen die Armen, dass diese Prioritäten nicht das Ergebnis neuer ideologischer Kolonisationen sind, sondern von einem evangelischen Bewusstsein der Würde eines jeden Kindes Gottes in seiner geistigen, körperlichen und affektiven Integrität und von den Bindungen der Treue, die es aus freien Stücken eingehen will, durchdrungen sind. Im Allgemeinen ist es in allen Breitengraden der sexuelle Bereich, mehr noch als der wirtschaftliche, der bei den Menschen ein Gefühl des Bruchs und der Ausgrenzung in Bezug auf die kirchliche Zugehörigkeit hervorruft: Das jahrhundertelange Beharren auf diesem Bereich der Moral hat offensichtlich die Tiefe der Wunden beeinflusst, die das Leben auf dem Glaubensweg von Millionen von Katholiken hinterlässt.

Abschließend möchte ich auf das fotografische Diptychon zurückkommen, von dem ich ausgegangen bin. Wie immer in Giovanni Chiaramontes Werk steht das Licht still und erzählt von Gesichtern und Orten. Ein ewiges Licht. Es erzählt keine Geschichten, sondern Begegnungen. Und vor allem das, was dem Geheimnis der Kirche zugrunde liegt: die Begegnung mit der Wirklichkeit des Anderen. Stigmata, verklärte Wunden, sind ein Teil davon. In der Erfahrung des Fotografen ist die Aufnahme nur ein Zeichen, eine bildliche Darstellung einer Asymmetrie und eines Appells. Es ist der Andere, der an unsere Tür klopft. Ein Schwindelgefühl, das im Fleisch eingeschlossen ist.


[1] Die Barcelona-Diptychen von Giovanni Chiaramonte wurden in der Booklet Wisdom from the margins veröffentlicht.

[2] Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, DBW Band 8, Seite 38 f

[3] Francesco, Fratelli tutti, n. 215

[4] Ghislain Lafont, Piccolo saggio sul tempo di papa Francesco, Bologna, EDB, 2017. Die Übersetzung stammt von uns und ist nicht mit dem Verlag abgestimmt.

[5] Konkret wurde ein Team von sechs kontinentalen Koordinatoren, drei Theologinnen, gebildet: Neben mir für Europa und den Mittelmeerraum sind dies Lorena Basualto (Katholische Universität Silva Henríquez, Santiago de Chile) für Lateinamerika, Agnes Brazal (De la Salle University, Manila) für Asien, Stan Chu Ilo (DePaul University, Chicago) für Nordamerika, Adele Howard (Sisters of Mercy, Melbourne) für Ozeanien und Toussaint Kafarhire (Centre Arrupe, Lubumbashi) für Afrika. Die Koordinatoren wählten dann ihre Mitarbeiter aus, insgesamt etwa 90 Theologen, Seelsorger und andere Experten. Gemeinsam erarbeiteten wir eine Methodologie und entwickelten dann einen Prozess des Zuhörens, der vierzig Städte und über fünfhundert Menschen aus jedem Kontinent erreichte. Die Monate des Zuhörens haben die beteiligten Theologen tief beeindruckt, denn in jedem Kontinent brachte der direkte Kontakt mit den Menschen am Rande des kirchlichen und sozialen Lebens einen sehr ausgeprägten sensus fidei hervor. All dies wurde auf der internationalen Konferenz in Rom am 12. Oktober 2022 gut dokumentiert.

Sergio Massironi

Dikasterium für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen

Città del Vaticano


Photo Credits: Giovanni Chiaramonte


RaT-Blog Nr. 05/2023

  • Theologe des vatikanischen Dikasterium für den Dienst zugunsten der ganzheitlichen Entwicklung des Menschen, ist Leiter des internationalen Forschungsprojekts Doing Theology from the Existential Peripheries. Er ist ein bekannter Unterzeichner des "L'Osservatore Romano" und arbeitet auch mit "Iglesia viva. Pensamiento crítico y cristianismo". Er hat u.a. veröffentlicht: bei Castelvecchi Sulle tracce di Dio (2023) und Cattolico, cioè incompleto (2022); bei Mondadori-Electa Fare è pensare. Conversazioni per un nuovo Bauhaus (2022) und Il gesto sacro. Una conversazione con Mario Botta (2020); bei Vita e Pensiero Il cardinale inquieto. La ripresa di Cusano in Italia come provocazione alla modernità (2021)