Das ‚Göttliche‘ im Homburger Folioheft. Über den Beginn eines partizipativen Forschungsprojektes zu Hölderlin

Das Werk des Dichters und Philosophen Friedrich Hölderlin (1770–1843) ist seit Beginn des 20. Jahrhunderts ein immer wiederkehrender Bezugspunkt in philosophischen und kulturellen Debatten, deren Kontexte sehr unterschiedlich und deren Resultate mitunter kontrovers sein können. Ein wichtiges Thema dabei – über die Grenzen wissenschaftlicher Disziplinen hinweg und auch in säkularem Umfeld – ist die Frage, wie Hölderlin sich dem Gottesbegriff annähert. 

Tatsächlich ist die Gottesfrage ein zentrales Motiv im gesamten dichterischen und philosophischen Werk Hölderlins. Die Bandbreite der Bezugnahme reicht von der vertrauensvollen Erinnerung – “Im Arme der Götter wuchs ich groß.” (Da ich ein Knabe war …, V 32) – bis zur härtesten Entzweiung: “… Seit der gewurzelte / Allentzweiende Haß Götter und Menschen trennt” (Der Abschied, VV 13f). Und doch erfolgt auch nach diesem Riss wieder eine Annäherung an Gott: “Und er, der sprachlos waltet, und unbekannt /    Zukünftiges bereitet, der Gott, der Geist / Im Menschenwort, am schönen Tage / Wieder mit Nahmen, wie einst, sich nennet.” (Ermunterung, VV 25-28). Schließlich ist noch das rätselhafte, von Hölderlin mehrfach umgearbeitete und viel zitierte Wort zu nennen: “Und keiner Waffen brauchts und keiner / Listen, so lange, bis Gottes Fehl hilft.” (Dichterberuf, VV 63f)

Die Gottesthematik im Homburger Folioheft

Der schillernden Frage nach Gott bzw. dem Göttlichen bei Hölderlin geht das Anfang Oktober 2023 begonnene FWF-Projekt “Gott in Anmuth” (P 36887-G) am Schnittpunkt von Religion und Ästhetik nach. Als Textbasis fungiert das so genannte „Homburger Folioheft“. Dabei handelt es sich um eine von Hölderlin angelegte Sammlung großteils fragmenthafter Texte, die zwischen 1801 und 1806 entstanden ist und in der gegenwärtigen Forschung zu Hölderlin viel diskutiert wird. Es umfasst 22 ineinander gelegte Bögen (und einen zusätzlichen Bogen), die eine Fülle an Texten mit höchst unterschiedlicher Gestalt enthalten. War das Konvolut ursprünglich wohl für die Reinschrift schon bestehender Gedichte, die in einen Zyklus gebracht werden sollten, gedacht, so entwickelte es sich schließlich zu einer Art Werkstatt (Dietrich Uffhausen) oder Atelier (Michael Franz) des Dichters. Es enthält die Reinschrift von fertigen Gedichten, die dennoch weiter überarbeitet werden, Entwürfe, Fragmente, Notate und auch leere Seiten. Johann Kreuzer spricht mit Blick auf die Überarbeitungen der Texte von einem Prozess der ‚Sprachfindung’. Dabei bleiben in den Texten die Schichten der Überarbeitung meist sichtbar und werden nicht getilgt. Dazu kommen kurze ineinandergeschobene Textsegmente, die alle für sich selbst stehen können, in der Gestaltung der Seiten durch den Dichter aber miteinander verzahnt werden; mitunter löst sich jede wiedererkennbare textliche Form auf. 

Das Projekt beginnt mit der Beobachtung, dass der Begriff, das Wort, der Name ‚Gott‘ bzw. das Göttliche auf beinahe jeder Seite des Heftes gefunden werden kann. Auffallend oft hat Hölderlin dort Überarbeitungen vorgenommen, wo von ‘Gott’ oder dem ‘Göttlichen’ die Rede ist. Folglich besteht die Leitthese des FWF-Projekts darin, Hölderlins ‘Sprachfindung’ als in enger Beziehung mit der Gottesthematik stehend zu begreifen.

Aus: F. Hölderlin, Heimkunft, Ausschnitt aus der 6. Strophe

Ein partizipativer offener Forschungszuschnitt

Hermeneutischer Ausgangspunkt ist Umberto Ecos Verständnis des „offenen Kunstwerks“. Dabei wird ein Kunstwerk nicht als vollendet betrachtet, um es dann dem Prozess seiner Rezeption zu übergeben; vielmehr sind die Rezipientinnen in das Werden des Kunstwerkes selbst einbezogen. Die zahlreichen Textschichten, die im Homburger Folioheft auszumachen sind und die (mit nur sehr wenigen Streichungen) neben- oder übereinanderstehen, legen die Anwendung einer solchen Hermeneutik nahe. Ein ‘gültiger’ Endtext lässt sich auf Basis der Textgrundlage nicht fixieren. Dadurch aber werden die Leserinnen des Foliohefts bemächtigt, aktiv am Textgeschehen mitzuwirken. In einem close reading von zehn ausgewählten Stellen lenken wir die Aufmerksamkeit besonders auf Übergänge, Brüche und Lücken im Text sowie auf den Prozess der Überarbeitung und Sprachfindung. Eine solche Lektüre erfordert es, zwischen den unterschiedlichen Schichten hin- und herzuwechseln; einzelne Textelemente, die zunächst unverbunden schienen, lassen sich auf diese Weise neu und anders konstellieren. Die in den partizipativen Forschungsprozess eingebundenen Leserinnen beteiligen sich damit an einem offenen, ja kreativen Rezeptionsprozess. Dafür ist die diachrone Darstellung der Handschrift des Homburger Folioheftes (samt Umschrift), die auf der Seite der Württembergischen Landesbibliothek frei zugänglich ist, unumgänglich. Der von Hans Gerhard Steimer dokumentierte und visualisierte Entstehungsprozess lässt sich dort Schritt für Schritt mitverfolgen. Die gemeinsame Lektüre in Form partizipativer Forschung macht es notwendig, den Kenntnissen der Leserinnen sowie den unterschiedlichen Methoden, mit denen sie Erfahrung haben, Raum zu geben. Dies umfasst auch die Möglichkeit, internationale Forscher*innen themenspezifisch einzubinden. Was davon sich bewährt und zu welchen neuen Erkenntnissen die jeweiligen Lektüren führen, unterliegt der Unwägbarkeit jedes echten Forschens.

Kreative Rezeptionen in Philosophie und Theologie?

Es ist ein erklärtes Ziel des Projekts, die Ergebnisse der (partizipativen) Forschung mit ausgewählten Aspekten und Zugängen der philosophischen und theologischen Hölderlin-Rezeption der Gegenwart in eine spannungsreiche Verbindung zu bringen. Dies trifft angesichts des gewählten Fokus sowie vor dem Horizont säkularisierter Mentalitäten insbesondere auf die Möglichkeit philosophischer und theologischer Thematisierbarkeit von ‚Gott‘ zu. Der Umstand, dass die Gottesthematik im Zentrum von Hölderlins Textüberarbeitungen steht, wirkt insofern anregend, als sich daran die (mindestens implizite) Frage anschließt, inwiefern ‚Sprachfindung‘ unter (völliger) Ausklammerung der Gottesthematik geschehen kann. Zwei Aspekte, die sich dieser (impliziten) Frage nicht verwehren, können hier genannt werden:

  1. Die Hermeneutik des „offenen Kunstwerks“ macht die Leser*innen zu Mit-Akteur*innen im Textgeschehen. Sie blicken dem um „Sprachfindung“ ringenden Hölderlin nicht nur über die Schultern, um aus der Distanz über sein Ins-Wort-Gebrachte urteilen; nein, gerade der nicht-abgeschlossene Text bindet die Leser*innen in dieses Ringen ein: „Wie kann ich (es heute) sagen – wenn ich darüber nicht (nur) schweigen möchte?“ Die Unabgeschlossenheit in Hölderlins Ringen um die Namen Gottes wendet sich so gegen deren direkte Repräsentation im Text und kommt dabei dem biblischen Verständnis Gottes überraschend nahe (vgl. das Kultbilderverbot und die Unaussprechlichkeit des Gottesnamens).
  2. Die Form der Lyrik widersetzt sich seit jeher einer einfachen Überführung in Prosa und in der Folge eines systematisierenden Zugriffs. Nicht nur das Symbol, auch Lyrik gibt zu denken. Doch dieser möglichen Gabe geht die Mühe voraus, sich dem Rhythmus und Klang von Lyrik ‚hingeben‘ zu müssen – um ihr dann nachzuhören. Inwiefern ist es möglich, in der Form der Ver-Dichtung Göttliches in eine Sprache zu bringen, die ihre Begrenztheit mitthematisiert? Weder Philosophie noch Theologie haben – in vielen, wenngleich nicht in allen ihren modernen Ausprägungen – diesen beiden Aspekten besonderes Gewicht zugemessen (freilich mit Ausnahmen), im Gegenteil. Insofern es gelingt, philosophische und theologische Diskurse mithilfe partizipativer Forschung am Homburger Folioheft für ihr Anderes zu sensibilisieren, ist einer erneu(er)ten und fruchtbaren Rezeption von Hölderlins später Lyrik der Boden bereitet. Wir werden im RaT-Blog über den Fortgang des Projektes und über dessen Ergebnisse informieren. Weiterführende Lektüre zur Gottesthematik bei Hölderlin finden Sie hier: “Speaking of God in the Realm of Aesthetics: Religion in Hölderlin”. Dieses Projekt wird vom FWF gefördert (https://doi.org/10.3390/rel14111422).

Photo Credits:

  1. Diachrone Darstellung des Homburger Foliohefts: https://homburgfolio.wlb-stuttgart.de/; https://homburgfolio.wlb-stuttgart.de/handschrift/307-04; bearbeitet von Marco Fiorletta;
  2. Friedrich Hölderlin: Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe. Homburger Folioheft. Faksimile-Edition. Hrsg. von D.E. Sattler und Emery E. George. Stroemfeld/Roter Stern: Basel/Frankfurt 1986, S. 30 [307/4];
  3. Esther Stocker, nicht verwirklichtes Kunstprojekt für die Stadt Bad Homburg über Friedrich Hölderlin.

RaT-Blog Nr. 22/2023

  • DDr. Jakob Helmut Deibl ist Lehrstuhlvertretung an der Fakultät für Katholische Theologie der Universität Regensburg und wissenschaftlicher Manager des Forschungszentrums RaT.

  • Marco Fiorletta hat Philosophie in Venedig, Freiburg, Rom und Wien studiert. Er hat seine Masterarbeit über das Frühdenken von Gilles geschrieben. Er arbeitet als Prae-doc Assistent beim FWF-Projekt.

  • Dr. Andreas Telser war viele Jahre am Institut für Fundamentaltheologie und Dogmatik der Katholischen Privatuniversität Linz tätig. Er hat in Boston, Chicago, Linz und Regensburg Theologie studiert. Seit 1.10.2023 ist er Mitarbeiter am FWF-Projekt.